Efeu - Die Kulturrundschau

Das sprengt bei weitem unsere Vorstellungskraft

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12.03.2024. Oscar-Nachlese zweiter Teil: FR und Filmdienst schöpfen Hoffnung auf mehr Originalität und Wagemut im Filmgeschäft. Im Perlentaucher klärt Thierry Chervel die Stars über den blutigen Hintergrund des Pins auf, den sie sich da so leichtfertig ans Revers hefteten. Die Theaterkritiker staunen, wie Tobias Kratzer mit Mieczyslaw Weinbergs Oper "Die Passagierin" Auschwitz in München ganz ohne die Darstellung von KZ, SS und Häftlingen auf die Bühne bringt. Monopol lernt in Wien ukrainischen Modernismus jenseits der russischen Avantgarde kennen. Und die NZZ träumt von Hochhäusern aus Holz.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.03.2024 finden Sie hier

Film

Die Feuilletons betreiben weiter Oscar-Nachlese. "Noch nie gab sich eine Oscar-Verleihung derart offen gegenüber der traditionellen Antithese zu Hollywood, dem europäischen Festivalkino", lautet das Fazit von Daniel Kothenschulte in der FR. Der Goldjungen-Regen für "Oppenheimer" geht nach Marius Nobachs Ansicht (Filmdienst) nicht bloß auf einen Prestigefilm nieder: "Die Bereitschaft, sich in dieser Ausführlichkeit und formalen Raffinesse mit der Frage nach der Verantwortung auseinanderzusetzen, ist im Kino selten geworden. Auch deshalb gibt 'Oppenheimer' Anlass zur Hoffnung für mehr Wagemut und Originalität, gerade im US-amerikanischen Filmgeschäft." Diese Oscarverleihung stand ganz im Zeichen der Restauration, findet Andrey Arnold in der Presse: "#OscarsSoWhite, #MeToo, die Streiks der Schauspieler und Drehbuchautoren, das Schreckgespenst KI - all das schien bei der heurigen Hollywood-Gala im Dolby Theatre in weiter Ferne zu liegen. ... The show must go on, ein bisschen Spaß muss sein: Gelassenheit war die Devise des Abends." Weitere Resümees des Abends schreiben Jenni Zylka (taz), Tobias Kniebe (SZ) und Dietmar Dath (FAZ).

Einige der Stars traten bei der Oscar-Verleihung mit einem auffälligen Pin auf. In einem roten Kreis wurde eine rote Hand gezeigt, auf ihre Handfläche ist noch ein schwarzes Herz gezeichnet. Die Hand ist das Signet der Initiative "Artists Call for Cease Fire Now". Die Hollywood-Stars sind sich der finsteren Symbolik des Zeichens offenbar nicht bewusst, schreibt Thierry Chervel im Perlentaucher. "Für Israelis verknüpft sich mit der roten Hand nämlich eine ganz klare Assoziation. Im Oktober 2000 hatten sich zwei israelische Reservisten, Vadim Nurzhitz und Yossi Avrahami, nach Ramallah verirrt. Sie wurden erst von der Polizei aufgegriffen, dann von einer mordlustigen Menge auf das Sadistischste gelyncht. Die umstehende Menge geriet in einen seit dem 7. Oktober auch der Weltöffentlichkeit bekannten Blutrausch. Am Fenster zeigte einer der Mörder seine vom Blut geröteten Hände vor."

Jonathan Guggenberger ärgert sich im taz-Kommentar nicht nur über diese roten Buttons, sondern auch über die Dankesrede von Jonathan Glazer zur Auszeichnung seines Auschwitz-Films "The Zone of Interest" als "bester internationaler Film", da der Regisseur seinen Film auch als Kommentar zur Gegenwart des Nahostkonflikts verstanden wissen will: "Auf die Dehumanisierung in Auschwitz folgt die Dehumanisierung von Palästinensern - Israelis sind die neuen Nazis. Denn: Nicht nur für die tatsächlich unmenschlichen Zustände in Gaza ist die israelische 'Occupation' verantwortlich. Auch für das Massaker der Hamas am 7. Oktober. Getreu dem Motto: Die Juden sind selbst schuld, wenn sie gehasst werden. Oder: Palästinensische Terroristen besitzen keine Agency, sie sind nur Opfer ihrer jüdischen Verhältnisse."

Weitere Oscar-Betrachtungen: Christopher Nolan musste sehr lange auf seinen ersten Regie-Oscar warten, hält Marian Wilhelm im Standard fest. Konstantin Nowotny freut sich im Freitag über den bereits zweiten Oscar für Billie Eilish. Carolin Ströbele berichtet einer Reportage für Zeit Online von ihrer Reise an der Seite des für Deutschland nominierten Regisseurs İlker Çatak zur Oscarverleihung.

Außerdem: Für die FR plaudert Marc Hairapetian mit Adam Sandler über dessen neuen Film "Spaceman". Fritz Göttler schreibt in der SZ zum Tod des Regisseurs Percy Adlon. Besprochen wird die Netflix-Serie "Supersex" über das Leben von Pornostar Rocco Siffredi (Welt).
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Bühne

Szene aus "Die Passagierin". Bild: Wilfried Hösl

An der Bayerischen Staatsoper feierte Mieczyslaw Weinbergs Auschwitz-Oper "Die Passagierin" in der Inszenierung von Tobias Kratzer Premiere, Kratzer und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski haben das Stück nach dem Tod der Holocaust-Überlebenden und Widerstandskämpferin Zofia Posmysz um die im KZ spielenden Szenen gekürzt. Erzählt wird aus der Täterperspektive von SS-Frau Lisa, die Ende der Sechziger bei einer Schiffsfahrt auf die totgeglaubte KZ-Überlebende Marta trifft und mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Aber kann man Auschwitz überhaupt auf die Bühne bringen - ohne KZ, SS und Häftlinge, fragt Egbert Tholl in der SZ. Man kann, so Tholl: "Jurowski und das Staatsorchester schaffen ein Meisterwerk musikalisch-dramatischer Erzählung, mitreißend, beklemmend. Weinberg schreibt Brüche, keine Übergänge, eine grandiose Herausforderung, ein akustischer Überfall folgt auf den anderen. Dem Eliminieren der 35 Minuten, die im Lager spielen, stellt Kratzer nun ein fantastisch gearbeitetes Kammerspiel entgegen."

Zu einem ähnlichen Schluss kommt FAZ-Kritiker Stephan Mösch: "Wie Fenster des Bewusstseins öffnen sich einzelne Kabinen des Luxusliners. Auschwitz spielt sich bis zur Pause allein im Kopf dieser doppelten Lisa ab. Ein Hörspiel oft und insofern ganz nah an der Vorlage, als Posmysz ihre Erinnerungen zunächst mit einem Hörspiel verarbeitet hat. Auch danach geht es stilisiert zu. Der Ballsaal des Schiffes, lange gespenstisch leer, gibt Raum für die Toten, die als Doubles von Marta wiederkehren. Es geht weniger um einen Plot als um Bilder, die das Geschehen weiten. Erst kurz vor Schluss kommt eine Doku zu Konzentrationslagern ins Spiel. Lisa sieht sie im Fernsehen. Eine vielschichtige Szene, die ein Stück deutsche Mentalitätsgeschichte einfängt, und eine klare Antwort auf die zentrale, gesungene Frage: 'Muss ich denn für alles und für alle die Verantwortung übernehmen?'" "Kratzers Inszenierung  ist zwar nicht die letzte Antwort auf die Frage, ob man den Holocaust in naturalistischen Bildern auf die Bühne bringen kann und soll, er zeigt aber, dass man es nicht muss, um an das Grauen zu erinnern", meint Joachim Lange in der taz, während Judith von Sternburg (FR) die Oper mitunter zu "verkopft" ist: "Nur wenn man diese Oper bereits gut kennt, kann man mit Kratzers Lesart etwas anfangen, ohne es sich selbst zu leicht zu machen."

Weiteres: Für die taz spricht Petra Schellen mit Katrin Ullmann, Theaterkritikerin und Jurorin des Berliner Theatertreffens, über die Frauenquote am Theater. Besprochen wird Nils Brauns Inszenierung der Oper "The Crash"am Staatstheater Oldenburg (taz).
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Musik

Besprochen werden ein Berliner Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Aivis Greters (Van), das Auftaktkonzert der Berliner Maerzmusik (taz), ein Auftritt von Pharcyde (SZ) und Andreas Doraus Album "Im Gebüsch" (FR).

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Stichwörter: Maerzmusik

Literatur

Arno Widmann wirft für die FR einen Blick auf die Arbeit der vor 70 Jahren gegründeten Sahitya Akademi, die in Indien so ganz grob und nur sehr in etwa das ist, was in Deutschland die Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt ist: Doch "es gibt immer ein Aber. Aber dieses ist besonders groß", denn die Sahitya Akademi "kümmert sich um die Pflege und Entwicklung von 24 der mehr als 120 in Indien gesprochenen Sprachen. ...  Allein schon die jährlichen Literaturpreise für 24 Sprachen! Das sprengt bei weitem unsere Vorstellungskraft."

Weiteres: Fridtjof Küchemann (FAZ) entnimmt einer Studie, was Kindern beim Lesen wirklich Freude bereitet. Besprochen werden unter anderem Olga Tokarczuks "Empusion" (Tell), Didier Eribons "Die Arbeiterin" (NZZ), Ilona Jergers "Lorenz" (taz), Rainer Wittkamps "Mit aller Macht" (Tsp), Ilona Hartmanns "Klarkommen" (Standard), Danya Kukafkas Krimi "Notizen zu einer Hinrichtung" (online nachgereicht von der FAZ) und Dana Grigorceas "Das Gewicht eines Vogels beim Fliegen" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Stichwörter: Indische Literatur, Indien

Kunst

Bild: Oleksandr Muraschko: Terrasse. Verkündigung, 1907-08. Nationales Kunstmuseum der Ukraine, Kiew.

Zunächst war die Ausstellung "In the Eye of the Storm" mit ukrainischer Kunst aus der Zeit zwischen 1900 und der Russifizierung im Stalinismus im Museum Thyssen-Bornemisza in Madrid zu sehen, erweitert um die "Modernismen in der Ukraine" zeigt nun das Wiener Belvedere die Schau, freut sich Bernhard Schulz auf Monopol, denn die aktuelle Ausstellung konzentriert sich vor allem auf die Eigenarten ukrainischer Kunst, die oft verallgemeinernd der "russische Avantgarde" zugerechnet wird: "Der starke Bezug auf die Volkskunst und damit auf das 'Eigene' begleitet die ganze Epoche der ukrainischen Kunst bis zu ihrer gewaltsamen Unterdrückung nach 1930. Damit gleicht die Ukraine anderen Nationen aus dem vormaligen russischen Zarenreich, die ihre Eigenart suchten, wie Finnland oder die baltischen Länder. Umgekehrt öffneten sich die ukrainischen Künstler bereitwillig den Einflüssen aus Paris oder München, wohin es vor 1914 zahlreiche Künstler zum Studium zog. Sehr eigenständig sind etwa die Großformate des frühvollendeten Wsewolod Maksymowytsch, der seinem Leben mit nur 19 Jahren ein Ende setzte, oder die floralen Bildtafeln von Mychajlo Schuk, wie auch die lyrischen Landschaften von Abram Manewytsch."

In der FAZ schäumt Andreas Platthaus nach dem Besuch der Ausstellung "Galka Scheyer und die Blaue Vier" im Städtischen Museum in Brauschweig, die ein paar Werke des Modells von Alexej von Jawlensky zeigt: "Der Scheyer-Nachlass liegt in Pasadena, und von dort bekam das Städtische Museum zwar fünf Originalwerke ausgeliehen, aber dabei handelt es sich um Kinderbilder aus den Malklassen, mit denen die zunehmend verarmende Scheyer sich ein Zubrot verdient hat. Kein einziges ihrer mehr als fünfhundert Bilder umfassenden Privatsammlung oder auch nur etwas Originales aus dem reichen Korrespondenzbestand ist zu sehen."

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "About Meat" mit Werken der veganen Künstlerin Carolin Günther in der Berliner Galerie Arnarson & Sehmer (Berliner Zeitung).
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Architektur

Entwurf für das Woho in Berlin von Mad Arkitekter


Holz ist in jedem Fall das Baumaterial der Stunde, erkennt Ulf Meyer in der NZZ mit Blick auf die zahlreichen geplanten Holzhochhäuser: "Holz als natürlicher, nachwachsender Baustoff verändert ... auch das Erscheinungsbild der Architektur. Bedingt durch das Schwinden und Quellen, haben Holzfassaden ihre eigene Ästhetik. Holz arbeitet, verformt und verfärbt sich. Das kann zum Reiz der Fassaden beitragen. ... Das Büro Mad Arkitekter aus Oslo baut in Berlin-Kreuzberg gerade das Wohnhochhaus 'WoHo', und zwar als vertikales, urbanes Quartier. Am Gleisdreieck-Park soll der 98 Meter hohe Turm mit 29 Geschossen durch Vor- und Rücksprünge in der Kontur und begrünte Rasterfassaden akzentuiert werden. Im Erdgeschoss sollen Bäckerei, Cafés, Spätverkauf und Werkstätten unterkommen, im Sockel eine Kita, eine Kiezkantine, Jugendeinrichtungen, ein Indoor-Spielplatz, Ateliers und Familienwohnungen. Das öffentlich zugängliche Dachgeschoss soll eine Bar und eine Sauna bieten."
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