9punkt - Die Debattenrundschau

Weder jung noch integer

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.06.2024. taz und FAZ porträtieren die neue mexikanische Präsidentin Claudia Sheinbaum, die von ihrem Vorgänger López Obrador das Problem der Gewalt erbt. Vergesst Belarus nicht, ruft fast verzweifelt Natalia Pinchuk, die Ehefrau des inhaftierten Friedensnobelpreisträgers Ales Bjaljazki, in der FR. Gäbe es an den deutschen Unis Lehrstühle zur Geschichte der DDR und des Kommunismus, dann hätten wir auch weniger "DDR-Kitschbücher" wie die von Katja Hoyer und Jenny Erpenbeck, verspricht Ilko-Sascha Kowalczuk in der FAZ. In der SZ erinnert  Julian Nida-Rümelin an das Subsidiaritätsprinzip.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.06.2024 finden Sie hier

Politik

Claudia Sheinbaum ist als erste Frau zur Präsidentin Mexikos gewählt worden. Wolf-Dieter Vogel schreibt für die taz eine kleine Porträtskizze der ehemaligen Bürgermeisterin Mexiko-Stadt und Umweltministerin des scheidenden Präsidenten Obrador. "Das Enkelkind bulgarischer und litauischer jüdischer Einwanderer auf eine lange linke Familiengeschichte zurück. Ihr Großvater war Kommunist, ihre Eltern beteiligten sich an der 68er-Bewegung, die gegen die jahrzehntelange Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) aufbegehrte. Zu Hause habe man viel über Politik geredet, erzählt sie. Während ihrer Studienzeit kämpfte sie an der Autonomen Nationaluniversität UNAM gegen Studiengebühren und Privatisierung."

Ihr Vorgänger López Obrador war ein begnadeter und mit seiner Sozialpolitik erfolgreicher Linkspopulist, schreibt Tjerk Brühwiller in der FAZ, aber die Gewalt konnte er mit seiner Politik unter dem Motto "Umarmungen statt Kugeln" nicht eindämmen: "Während López Obradors Amtszeit wurden 180.000 Menschen umgebracht, 50.000 verschwanden. Mehr als 60 Prozent der Mexikaner fühlen sich in ihren Städten nicht sicher, auch weil die staatlichen Sicherheitskräfte und nicht selten auch die lokale Politik in Diensten der Kartelle stehen. Sheinbaum hat keine revolutionären Vorschläge präsentiert, wie sie Mexiko sicherer machen will."

Sehr lesenswert ist außerdem Quico Toros Porträt über Sheinbaum in Yascha Mounks Substack-Blog.

Auch in Südafrika gab es Wahlen. Sie werfen ein trübes Bild auf das Land, wenn man Claudia Bröll in der FAZ folgt. Der ANC, der seine Mehrheit verloren hat, hatte jahrelang das politische Monopol und ließ das Land in Korruption und Schlamperei versinken. Die einzige starke Aufsteigerpartei ist "uMkhonto weSizwe" (MK) des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma, "der weder jung noch integer ist und auch keine neuen Ideen präsentiert, sondern in dem MK-Manifest alles zusammengeworfen hat, was irgendwie revolutionär klingt und die Gemüter seiner Gegner erregt: von der Verstaatlichung großer Teile der Wirtschaft über die Wiedereinführung der Todesstrafe bis zur Abschaffung der Verfassung".

Heute ist der 4. Juni. Junge Chinesen wissen kaum etwas über das Tiananmen-Massaker vor 35 Jahren, das Thema ist in China tabuisiert, erzählt der Sinologe Daniel Leese im FR-Gespräch. Die KP versuche, "die Geschichte umzuschreiben. Sie stellt die Demonstrationen von 1989 als konterrevolutionäre Rebellion dar, die sich nur ereignen konnte, weil die Partei ideologisch zu unentschlossen gewesen sei und Parteimitglieder an den eigenen Zielen zu zweifeln begonnen hätten. Das Massaker wird somit zu einem abschreckenden Beispiel umgedeutet, mit der Botschaft: Wenn wir nicht aufpassen, kann es jederzeit wieder zu solchen Unruhen kommen." Die Erinnerungen an die Erlebnisse werden unterdrückt, so Leese weiter: "Am bekanntesten sind zweifellos die Tiananmen-Mütter, die seit vielen Jahren bewundernswerte Erinnerungsarbeit leisten. Chinas Regierung versucht, diese mittlerweile sehr betagten Frauen abzuschirmen, so dass sie keinen Kontakt zu ausländischen Journalisten oder Forschern haben."

Ist Trump ein Faschist? Man darf es sich mit den Parallelen nicht zu einfach machen, findet Richard Herzinger im Perlentaucher: "Auch wenn sich der Trumpismus in einer Reihe von Punkten vom 'klassischen' Faschismus unterscheidet, heißt dies keineswegs, dass er weniger bedrohlich wäre. Gerade das Diffuse an dieser Bewegung macht es den Verteidigern der Demokratie schwer, sie in Gänze zu durchschauen und gezielt zu bekämpfen."

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Der Politologe Christopher Phillips hat mit "Battlegrounds - Ten Conflicts that Explain the Middle East" gerade ein Buch über die geopolitische Komplexität im Nahen Osten veröffentlicht. Wenn es um den Nahen Osten geht, werde zu oft verallgemeinert, kritisiert er im Zeit Online-Gespräch: Die Region lasse sich keineswegs nur in einen Pro-US-Block und einen Pro-Iran-Block unterteilen, viele Akteure verfolgen eigene Ziele, sagt er. Zudem glaubt er, dass es nach der Zerschlagung der Hamas noch schlimmer kommen könnte: "Manche Beobachter haben die Hamas mit Al Kaida oder dem IS gleichgesetzt, aber das stimmt nicht. Tatsächlich hat die Hamas in den letzten Jahren IS-Kräfte, die über den Sinai immer wieder in den Gazastreifen eingesickert sind, sogar bekämpft. Sollte die Hamas im Gazastreifen vernichtet werden und ein Machtvakuum entstehen, ist deshalb zumindest nicht ausgeschlossen, dass es dann vom IS gefüllt wird. Es kann also immer noch schlimmer werden."

Henryk Broder rät Annalena Baerbock in der Welt, ihre humanitäre Rhetorik fallen zu lassen: "Die 'werteorientierte Außenpolitik' der Bundesrepublik hat zu einem für Israel bedrohlichen Atom-Abkommen mit dem Iran geführt, und sie hat die Hamas, die sich 2007 in Gaza an die Macht geputscht hat, empowert, immer wieder Israel zu beschießen und die eigene Bevölkerung zu terrorisieren."

Außerdem: Im von Bascha Mika geführten FR-Interview sind sich die deutsch-palästinensische Journalistin Alena Jabarine und der deutsch-israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfuß sehr einig. Beide kritisieren, dass der Staat in Deutschland lebende Palästinenser und linke Juden nicht genügend schütze.
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Europa

Mehr als ein paar inhaltslose Zeilen sind dem belarussischen Friedensnobelpreisträgers Ales Bjaljazki, der 2023 in einem Schauprozess zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde, nicht gestattet, erzählt dessen Ehefrau Natalia Pinchuk im Videochat mit Uli Kreikebaum (FR), in dem sie Europa auffordert, Belarus nicht zu vergessen: "'Europa muss begreifen, dass Belarus ein Schlüssel zum Frieden in Europa ist. Belarus ist ein Vorposten Europas an der Grenze zu Russland.' Es sei fatal, dass Belarus aus dem öffentlichen Blickfeld weitgehend verschwunden sei. Pinchuks Informationen nach werden in ihrem Heimatland täglich zehn bis 15 Menschen verhaftet, weil das Regime noch vier Jahre nach der friedlichen Revolutionsbewegung Demonstrant:innen von damals mit Hilfe von Gesichtserkennungs-Software identifiziere - und willkürlich festnehme. Ob es sinnvoll wäre, wie gegen Russlands Präsidenten Vladimir Putin auch gegen den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko ein Strafverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag anzustrengen? Den Warenhandel von Belarus über EU-Länder nach Russland zu stoppen? Natalia Pinchuk möchte nicht direkt darauf antworten. Sie sagt: 'Es müssen alle notwendigen Einzelmaßnahmen getroffen werden.'"
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Ideen

Die liberale Demokratie ist nicht nur inneren und äußeren Gefährdungen ausgesetzt, ihr wohnt auch ein "Potenzial der Selbstzerstörung" inne, mahnt Julian Nida-Rümelin in der SZ: "Die zunehmende Verrechtlichung aller Lebensbereiche, die Einbettung in internationale Ordnungen, die die Gestaltungsräume demokratischer Politik immer weiter verengen, die in institutioneller Verschachtelung und Verrechtlichung das Politische an Expertengremien delegiert, macht am Ende den öffentlichen Vernunftgebrauch, die Meinungsbildung der Bürgerinnen und Bürger, die Politik in der Demokratie irrelevant. Ohne einen glaubwürdigen politischen Gestaltungsanspruch in der Konkurrenz unterschiedlicher Programmatiken und Projekte stirbt die Demokratie ab." Nida-Rümelin kritisiert vor allem die "Verlagerung von Kompetenzen von den Nationalstaaten auf die europäische Ebene. Dies ist eine gefährliche Melange. Die Europäische Union ist weniger demokratisch kontrolliert als die meisten ihrer Mitgliedsstaaten, daher ist jeder Schritt zur vertieften europäischen Integration immer auch mit einem Verlust demokratischer Kontrolle verbunden. Das europäische Integrationsprojekt wird daher nur dann eine gute Zukunft haben, wenn die europäischen Institutionen konsequent demokratisiert werden und zugleich das Subsidiaritätsprinzip ernst genommen wird."
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Geschichte

In einem sehr lesenswerten Artikel für die FAZ nimmt der Ulbricht-Biograf Ilko-Sascha Kowalczuk Claudia Roths "Rahmenkonzept Erinnerungskultur" auseinander, lässt aber auch kein gutes Haar an den Leitern der Gedenkstätten, die sich vehement gegen das Papier wehren - weil sie Angst haben, dass die Subventionen nicht mehr so üppig in ihre Richtung fließen, wie Kowalczuk in entwaffnender Offenheit vermutet. Kowalczuk selbst möchte mehr positive Referenzpunkte in der deutschen Erinnerungspolitik wie 1953 und 1989 und das Grundgesetz. Und er macht nebenbei auf einen Umstand aufmerksam, der einen doch mehr überrascht als die im Clinch mit sich selbst liegende "Aufarbeitungsindustrie": "Seit 1991 sind alle Initiativen gescheitert, an deutschen Universitäten Lehrstühle für die Geschichte der DDR und des Kommunismus einzurichten. Mit aberwitzigen Argumenten haben das die Hochschulen selbst verhindert, sogar in Fällen, in denen private Stifter Geld zur Verfügung stellen wollten. Herausgekommen ist eine Struktur, die dazu führt, dass heute die meisten künftigen Geschichtslehrer die Universitäten verlassen, ohne fundierten Unterricht in Kommunismusgeschichte genossen zu haben." Und jetzt haben wir den Salat: "DDR-Kitschbücher, wie sie etwa Katja Hoyer und Jenny Erpenbeck vorgelegt haben."

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