9punkt - Die Debattenrundschau

Kommt einem bekannt vor

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.06.2024. Die Jugend ist nach rechts gerückt- in der SZ glaubt Heinz Bude, es sei an der Zeit, mehr über "Heimat" und die "Zugehörigkeit zur Gesellschaft" zu diskutieren. Die NZZ enttarnt Putins Mär von einem gescheiterten Friedensvertrag in Istanbul. In der FAZ versucht Matthias Platzeck den Wahlerfolg der Rechten im Osten zu erklären. In der Zeit streiten der Fluchtforscher Marcus Engler und der Migrationsexperte Gerald Knaus hitzig über die Abschiebung von Geflüchteten nach Ruanda. Das neue Konzerthaus in München wird nun doch nicht wie geplant realisiert - die SZ ist fassunglos.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.06.2024 finden Sie hier

Europa

Die Jugend scheint nach rechts gerückt - Zeit, über "Heimat" und die "Zugehörigkeit zur Gesellschaft" zu diskutieren, meint der Soziologe Heinz Bude in der SZ. Dabei geht es vor allem um Migration, ein Thema, das der Jugend besonders am Herzen liegen soll. "Es geht in erster Linie um eine kluge Migrationspolitik, die Zuwanderung nach Maßgabe der sozialstaatlichen Ressourcen und der sozialökonomischen Bedarfe kontrolliert. Es ist nicht moralisch verwerflich, auch in diesem Fall vonseiten des Staates die Kosten von heute im Verhältnis zu den Gewinnen von morgen abzuwägen. Die Tatsache, dass diese Art von Kalkulation auf längere Sicht die Etablierten wie die Inkludierten gleichermaßen betrifft, macht es notwendig, dass wir uns alle über angemessene Verhaltenserwartungen und unverhandelbare Verhaltensprinzipien verständigen müssen. Dabei kommen unweigerlich die Tatbestände der sozialen Zeit ins Spiel. Denn durch Bekanntschaften, Freundschaften, Heiraten vermischen sich in der Generationenfolge die Linien der Angestammten mit denen der Zugewanderten. Dabei ist mit verzögerten Abstoßungen und langfristigen Aneignungen zu rechnen, die die Komposition der Bevölkerung Schritt für Schritt verändern."

Alle, vor allem die Ampelparteien, sind so furchtbar bestürzt nach der Europawahl, da hilft aber keine "Simulation von Entschlossenheit", sondern nur handfeste Veränderungen, konstatiert Giovanni Di Lorenzo in der Zeit. "Das bedeutet nicht, dass sich die demokratischen Parteien den Narrativen der radikalen Rechten anschließen dürfen. Aber wenn Themen, die für die Mehrheit am wichtigsten sind", Di Lorenzo nennt soziale Ungleichheit und Chancengerechtigkeit, "weiter kleingehalten werden, übernehmen die Falschen die Deutungshoheit."
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Gesellschaft

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Im Zeit-Interview mit Tina Hildebrandt und August Modersohn erklärt Steffen Mau noch einmal wichtige Aspekte seines neuen Buches "Ungleich vereint". Es war eine Illusion zu glauben, der Osten werde sich dem Westen nach und nach "angleichen", legt Mau dar, das lässt sich auch an den unterschiedlichen Haltungen zu Russland festmachen: "Es stimmt, die deutsch-sowjetische Freundschaft war künstlich und imaginiert, trotzdem hat sie Spuren hinterlassen. Einen starken Eindruck hat in den Neunzigern auch der friedliche Abzug der Hunderttausenden Sowjetsoldaten hinterlassen, man war den 'Russen' gewissermaßen dankbar dafür, wenngleich unter den Soldaten natürlich auch ukrainische Soldaten waren. Viele Ostdeutsche sehen Russland in der direkten Nachfolge der Sowjetunion. Zum Teil wird sogar die Legitimität der Einzelstaatlichkeit der Ukraine infrage gestellt, die Sowjetunion wird - fälschlicherweise, muss man sagen - als harmonischer Vielvölkerstaat gezeichnet. Und jetzt ist das alles zerfallen. Aber man könnte natürlich andersherum fragen: Was unterscheidet eigentlich den Westen vom Osten? Auch der Westen hat eine eigene Geschichte."

Auch Matthias Platzeck, ehemaliger Ministerpräsidenten Brandenburgs, versucht im FAZ-Gespräch mit Simon Strauß den Wahlerfolg der AfD im Osten zu erklären. Lange wurde beispielsweise der Fakt ignoriert, meint er, dass "fast drei Viertel aller wichtigen Leitungs- und Machtfunktionen im Osten von Westdeutschen besetzt sind - bei den Medien, in Verwaltungen, an Gerichten, in der Polizei. Stellen Sie sich mal vor, fast alle Chefposten in Bayern wären von Ostdeutschen besetzt, da gäbe es bestimmt einen Aufstand . . . Daraus ergibt sich übrigens auch eine gewisse Reserviertheit demokratischen Institutionen gegenüber, man fühlt sich politisch etwas unbehaust. Und da habe ich noch gar nicht erwähnt, dass unzählige Immobilien und Ländereien im Osten mittlerweile in westdeutschen Händen sind, dass hier im Osten die Verdienste immer noch deutlich geringer sind als im Westen, obwohl die Preise ähnlich sind, dass wir keine einzige Konzernzentrale haben und so weiter."

In der Welt widmet sich der Rechtsprofessor Kai Möller der aktuellen Tendenz, juristisch gegen "Hass" beziehungsweise "Hate Speech" vorzugehen, was auch das Ziel eines vor kurzem erlassenen Gesetzes in Schottland (unser Resümee) ist. Durch die Erlassung solcher 'Hate Speech Laws' befürchtet er eine Einschränkung der Meinungsfreiheit und glaubt, dass es hier nicht primär um den Schutz vor Diskriminierung geht: "Ob die Angehörigen dieser Gruppen dabei wirklich schwach und schutzbedürftig sind oder aber den auf sie gerichteten 'Hass' achselzuckend ignorieren, interessiert dabei nicht. Insofern geht es bei dem Kampf gegen Hass nicht immer um die angeblichen Opfer und ihre Würde, sondern unter Umständen eher um die Selbstvergewisserung einer Mehrheit, die mit ihrer 'Fürsorglichkeit' für eine 'vulnerable Minderheit' letztlich nur ihre eigene Überheblichkeit und gefühlte Überlegenheit manifestiert."
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Politik

Im Streit-Gespräch der Zeit debattieren der Fluchtforscher Marcus Engler und der Migrationsexperte Gerald Knaus hitzig über die Abschiebung von Geflüchteten nach Ruanda. Knaus ist für die Verstärkung der Seenotrettung, wer aber gerettet wird, könnte "ab einem Stichtag und nach einer Einzelfallprüfung, ob Ruanda für diese Personen sicher ist" dorthin geschickt werden. Während Knaus in dieser politischen Maßnahme eine effektive Möglichkeit sieht, die Todeszahlen auf dem Mittelmeer zu reduzieren, verurteilt Engler sie als empathielos und wirft ihm vor, die politische Lage des Landes außer Acht zu lassen: "Sie machen es sich zu einfach. Viele europäische Staaten versuchen seit Jahrzehnten, genau solche Ideen umzusetzen. Es finden sich einfach keine Staaten, die mitmachen wollen. Jetzt haben sie mit Ruanda einen einzigen gefunden. Aber schauen wir uns genauer an, was für ein Staat das ist. In Ruanda verschwinden Oppositionelle, es gibt keine freie Presse, keine freie Zivilgesellschaft. Das kann man nicht ignorieren. Wenn Sie sich mit Herrn Spahn da frei bewegen konnten, um sich für Ihre Propagandashow Flüchtlingscamps anzuschauen, ist das ja schön. Zeitgleich mit Ihrer Reise wurden mehrere kritische Journalisten und Menschenrechtsaktivisten an der Grenze abgewiesen. Die durften nicht über Ruanda berichten."
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Kulturpolitik

Groß von Joe Chialo angekündigt durfte sich jetzt die Justizsenatorin Felor Badenberg um die Ausarbeitung der Antisemitismusklausel kümmern, die nicht nur für den Kulturbereich gelten soll. Im SZ-Interview mit Ronen Steinke führt sie weiter aus: "Der Gedanke - kein Steuergeld für Verfassungsfeinde - ist übergreifend und kann nicht nur für den Kulturbereich gelten. Wir brauchen eine solche Regelung auch für den Bereich der Justiz, wo wir mit vielen sozialen Projekten zusammenarbeiten, die sehr unterschiedliche Hintergründe haben. Wir brauchen das auch im Bereich der Jugend- und Sozialarbeit, wo Fördermittel an sehr unterschiedliche Träger und Projekte ausgezahlt werden, genauso aber auch im Bereich der Bildung."

Aus den Medien durften Sie es erfahren: Der im Jahr 2017 preisgekrönte Entwurf von Cukrowicz Nachbaur Architekten für ein neues Konzerthaus in München wird nach einem Beschluss des bayerischen Kabinetts nun nicht realisiert, schreibt ein fassungsloser Gerhard Matzig in der SZ: "In den bisherigen und 2017 bejubelten Entwurf sind laut Architekt Nachbaur-Sturm bereits an die '100 000 Stunden Planungszeit' geflossen" und damit sehr viel Geld. Und warum gibt man jetzt auf? "Aus den ursprünglich veranschlagten 370 Millionen Euro wurden 580 Millionen und bald 700 Millionen, dann 1,3 Milliarden Euro. Später und teurer: kommt einem bekannt vor. Aber erstens stammen die verfrühten Kostenschätzungen weder von den Architekten noch von anderer Expertenseite - sondern sie wurden in kompletter Ahnungslosigkeit erfunden in politischen Ämtern. Zweitens haben diese Ämter dann mit den unsinnigsten Zusatzraumforderungen (etwa eine Tiefgarage, die so weit eingegraben wird, wie sich Atomschutzbunkerfans das nur erträumen können) das aufgeblähte Budget verursacht."
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Ideen

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Im Tagesspiegel-Interview breitet Hedwig Richter die Thesen ihres Buchs "Demokratie und Revolution" aus, das sie zusammen mit Bernd Ulrich verfasst hat und in dem sie eine Revolution von oben fordern: "Eine ökologische Wende betrifft doch vor allem die oberen zwei Drittel. Das Bürgertum muss sein Leben massiv umgestalten: weniger Auto, weniger Fleisch, kaum noch Urlaubsflüge, weniger Konsum. (...) Sozial benachteiligte Menschen würden im Gegenteil besonders von einer ökologischen Wende profitieren, denn sie wohnen an den lauten Straßen, sind der verschmutzten Luft besonders ausgesetzt, sind oft auf den öffentlichen Verkehr angewiesen und wohnen in den Stadtvierteln ohne Grün."

In der NZZ bereitet sich der Soziologe Stefan Müller-Doohm auf den 95. Geburtstag von Jürgen Habermas vor und erinnert sich an seine Studienzeit als er die Vorlesungen des Philosophen besuchte: "Er mischte und mischt sich noch heute immer dann ins politische Handgemenge, wenn er demokratische Lebensformen gefährdet sieht. Oder wenn es gilt, Tendenzen entgegenzutreten, die hinter das erreichte Niveau von Aufklärung und Freiheit zurückfallen. Habermas kann nicht nicht politisch reagieren. Die Kontroversen, in die er meist mit einer gewissen Entrüstung eingegriffen hat, sind Wegmarken in der Mentalitätsgeschichte der Bonner und der Berliner Republik: sei es Terrorismus, Nato-Einsätze, die deutsche Wiedervereinigung, die Euro-Krise oder der Krieg in der Ukraine, zu dem er sich im vergangenen Jahr zweimal mit prononcierten Beiträgen geäussert hat."
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Geschichte

Putin und seine Propagandisten erzählen gern das Märchen von einem geplatzten Friedensvertrag bei den Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022, erklärt Andreas Rüesch in der NZZ. Dann soll aber der britische Premier Boris Johnson den quasi fertigen Vertrag "in den Abfalleimer" geworfen haben, behauptet die russische Seite. Doch "einen unterschriftsreifen Friedensvertrag" habe es nie gegeben. "Es wurde zwar konstruktiv verhandelt, aber die zentralen Streitpunkte blieben ungelöst. Der russische Chefunterhändler Wladimir Medinski schätzte später, dass der Vertrag zu 75 Prozent ausgehandelt gewesen sei. Wer das diplomatische Geschäft kennt, weiß, dass die letzten 3 Prozent die schwierigsten sind."
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