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Politik

Der 11. September bestimmt weiterhin die internationale Debatte. Nach der Bestürzung des letzten Jahres scheint nun aber eine ruhigere Reflexion einzusetzen, auch von seiten moslemischer Intellektueller. Zwei Bücher können hier als Beispiele gelten, Abdelwahab Meddebs "Die Krankheit des Islam" und Navid Kermanis "Dynamit des Geistes". Der Verlag das Wunderhorn präsentiert Meddebs melancholische Reflexion als "mutiges Buch in der Nachfolge von Voltaire und Thomas Mann". Meddeb denkt über die Unfähigkeit des Islam zur Modernisierung nach und sieht die Probleme auf zwei Seiten: in Saudi-Arabien, wo mit viel Geld eine "Schrumpfform" des Islam verbreitet wird, und in den USA, die den Islam nach Meddeb ausgrenzen und seine fällige Öffnung nach Westen erschweren. Das Buch ist allenthalben mit großem Interesse gelesen worden. Otto Kallscheuer bezeichnet es in der Zeit als ein "hervorragendes Exempel transkulturellen Migrantentums" und überhört auch Meddebs Klage über die verlorene kulturelle Größe des Islam nicht. Ludwig Ammann preist das Werk in der NZZ als "Fest des Denkens". Und in der FAZ lobt Joseph Hanimann, dass Meddebs Buch mit seinen zahlreichen Resümees und Zitaten dem westlichen Leser ein Panorama der neueren innerislamischen Debatte zwischen Bagdad und Kairo eröffnet, die sonst weitgehend nur auf arabisch zugänglich ist.

Navid Kermani befasst sich mit seinem Essay "Dynamit des Geistes", der bisher nur in der Zeit besprochen wurde, direkter mit dem 11. September. Die Provokation liegt wohl darin, dass er den Islamismus gerade nicht aus der Tradition des Islam, sondern eher zum Beispiel aus Nietzsche ableiten will. Otto Kallscheuer lobt besonders die "brillante Skizze" des Märtyrerkults der Schia, die der deutsch-iranische Autor hier präsentiert.

V. S. Naipauls Reisebuch "Jenseits des Glaubens" ist bisher seltsamerweise nur von der SZ besprochen worden. Der Nobelpreisträger des letzten Jahres begibt sich darin in nicht-arabische islamische Länder und beobachtet vor allem die auch von Meddeb beklagte und von Saudi-Arabien subventionierte Islamisierung der Gesellschaften, die diese von ihren historischen Traditionen abschneidet. Burkhard Müller lobt in der SZ Naipauls ausgefeilte Gesprächstechniken, denn Naipaul doziert nicht, sondern sucht sich in allen Ländern, die er bereist - Iran, Indonesien, Malaysia und Pakistan - Gesprächspartner, die in der Spannung von Tradition, Islam und Moderne leben. Gerade in den persönlichen Affekten dieser Gesprächspartner, so Müller, erschließen sich historische Wahrheiten.

Herfried Münklers Buch "Die neuen Kriege" wurde von den meisten Zeitungen als einer der wichtigsten deutschen Beiträge zur Lage nach dem 11. September aufgefasst. Der Berliner Politologe verficht darin die These, dass der Krieg endgültig sein Geicht verändert hat: In den neuen Kriegen spielen nicht mehr Staaten die Hauptrolle, sondern Warlords, Söldner und Terroristen. In der taz hat der SPD-Linke Erhard Eppler das Buch besprochen. Wer sich "über die Kommerzialisierung der neuen Gewalt, ihren ökonomischen Hintergrund informieren will, wird nirgendwo so fündig wie bei Münkler", schreibt er. Kritisch sieht er allerdings einen allzu inflationären Gebrauch des Begriffs "Krieg" bei Münkler. Stephan Schlak (FR) fühlt sich in Münklers Darstellung der neuen Kriege mit ihrem "offenen Gewaltmarkt", "Söldnerfirmen", "archaischen Kriegspraktiken" an den Dreißigjährigen Krieg erinnert, der für Münkler wohl auch ein Denkmodell darstellt. Als hellsichtig und niederschmetternd bezeichnet Münklers Kollege Wolgang Sofsky die Thesen des Buchs in der NZZ. Und Hans-Martin Lohmann stimmt in der Zeit ein: "Ein ebenso klares und differenziertes wie luzides Werk".

Geschichte

Joseph J. Ellis' "Sie schufen Amerika" erzählt - offensichtlich stark personalisiert - die Geschichte der Gründergeneration der USA. Fast alle haben es besprochen, und angesichts des scheinbar weit entrückten Themas mag es erstaunen, wie widersprüchlich die Kritiken in den Feuilletons waren. In der SZ lieferte Gert Raethel einen scharfen Verriss: Ihn stört gerade die Personalisierung der Geschichte, die er im Namen postmoderner Lehrsätze als Schimäre betrachtet - Personen haben demnach kein Gewicht in der Geschichte. Andreas Platthaus sieht's in seiner begeisterten FAZ-Kritik genau umgekehrt. Platthaus erblickt in dem Buch das "ingeniös umgesetzte Konzept einer narrativen Historiographie" im "scheinbar reaktionären Stil" ("Große Männer machen die Geschichte"), das mit allen Wassern von Strukturalismus und Postmoderne gewaschen sei - und das liebt Platthaus gerade. Hans-Ulrich Gumbrecht, selbst bekannter Historiker, schreibt für die NZZ eine zwiespältige Kritik. Ellis' Stil findet er "angestrengt unakademisch", aber den Anekdoten, die Ellis präsentiert, scheint er doch Erkenntnisse entnehmen zu können, die über das Persönliche hinausgehen. Begeistert auch Malte Oberschelps Kritik in der FR.

Philosophie

Ein Steinbruch: 1.232 Seiten "Denktagebuch" von Hannah Arendt, zum ersten Mal bei Piper herausgebracht und von allen Zeitungen, die es bisher besprochen haben, mit großem Respekt gewürdigt. Jürgen Busche hätte sich in der SZ zwar eine etwas populärere, weniger für die Spezialisten gedachte Ausgabe gewünscht, aber er räumt ein, dass das Interesse, das Hannah Arendts Schriften bei zahlreichen jungen Akademikern in den letzten Jahren gefunden hat, "eine solche Ausgabe auch aktuell als nützlich erscheinen" lasse. Andreas Platthaus erklärt in der FAZ zunächst, wie angemessen der Titel der beiden Bände ist: ein Denktagebuch ist es, nichts Privates verlautet hier, obwohl die Philosophin des Totalitarismus manche Erwägungen auch in Gedichte fasst. Platthaus betont, dass sich zu vielen ihrer Werke hier Keimzellen finden lassen. Eine große Besprechung widmet auch Barbara Hahn den beiden Bänden in der Zeit. "Hier stehen fertige Sätze. Präzise und schmucklos", schreibt sie in der Zeit. Ihr erscheint Arendts "Denktagebuch" vor allem als ein Werk der Selbstverständigung.

Naturwissenschaften

Ein "Klassiker der Wissenschaftsgeschichte" schreibt die FR über "Das Buch des Lebens" von der englischen Biologin und Wissenschaftshistorikerin Lily E. Kay. Die FR ist begeistert von der "Leichtigkeit" und "Klarheit", mit der Kay die Geschichte des genetischen Codes aufdröselt. Die FAZ findet die Lektüre zwar unbedingt lohnenswert, moniert aber den spröden Stil der Autorin. Wer die Nase voll hat von der Vorstellung, Gene seien alles, dem sei ein viel besprochenes Buch über "Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens" von Michael Tomasello, Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, empfohlen. Und schließlich gibt es eine Neuauflage von Kurt Gödels "Wahrheit und Beweisbarkeit" zusammen mit einem einführenden Band, der die SZ zur Frage veranlasste, warum Gödel "eigentlich immer noch kein Star der Popkultur" ist?


Wir haben die Oktober- und Novemberbeilagen der Zeitungen komplett ausgewertet. Alle Rezensionsnotizen - aufgelistet nach Zeitungen und Themen - finden Sie hier.