Bücher der Saison

Lyrik

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
12.04.2021. Joachim Sartorius schießt mit Pfeilen auf gelbe Birnen, Levin Westermann führt in Schattenwelten, Sonja vom Brocke zelebriert die Auflösung des Festen und Ulla Hahn sucht die Verbindung zwischen Ding und Worten.
75 Jahre alt ist Joachim Sartorius. Wenn er in seinem jüngsten Gedichtband "Wohin mit den Augen" (bestellen) zurückblickt auf Sizilien, Tunis, die Levante, ist die Vergangenheit immer mit der Gegenwart verknüpt. Man spürt in seinen Gedichten das nicht nachlassende Interesse für das Unbegreifliche, sich nicht preisgebende, sei es einer Landschaft oder einer Katze.

Ich hatte keine Pfeile.
Ich schoss mit Pfeilen auf gelbe Birnen.

Wohim mit den Einschusslöchern?
Mit dem Saft, der quillt?
Wohin mit den Augen?

fragt er in seinem Gedicht "Im Hinterland, abends". Ein Gefühl für das Fremde im Eigenen und umgekehrt, spricht für FAZ-Kritikerin Angelika Overath aus den lakonischen Texten über Münzen, Katzen, Mythen, die sie wie gemalte Musik betrachtet. In der Zeit bewundert Christoph Schröder die Offenheit des Blicks von Sartorius. Frisch und ungemein lesenswert sind die im Band "Next To Nothing / Fast nichts" (bestellen) gesammelten Gedichte des lange in Tanger lebenden, 1999 verstorbenen amerikanischen Dichters Paul Bowles. In der NZZ ist Tom Schulz hellauf begeistert, dass der Roughbooks-Verlag diesen "poetischen Schatz" in einer zweisprachigen Ausgabe zugänglich macht. Er lauscht den "kristallinen" Klängen des Hafens und des Meeres und spürt Aufbruchsstimmung. Ähnlich ergeht es in der FAZ Angelika Overath, die auch die Neuübersetzung von Jonis Hartmann lobt.

Tief beeindruckt beschreibt NZZ-Kritiker Michael Braun die vier Gedichtzyklen in "bezüglich der schatten" (bestellen) von Levin Westermann, die in die Schattenwelten "metaphysisch unbehauster Antihelden" führen. Ihre düstere Traumarchitektur erinnert ihn an die Filme Andrej Tarkowskis. Am Ende steht "nur noch der Weg in den Abgrund offen", so Braun. In einem langen Gespräch, das er für Signaturen mit dem Dichter über Ilse Aichinger geführt hat, erklärt ihm Westermann, warum er so oft mit Zyklen arbeitet: "Der amerikanische Dichter Charles Wright hat mal in einem Interview geschrieben: Er hat gesagt in dem Interview, dass er gerne in Zyklen arbeitet, weil es für ihn ist ein bisschen wie ein Spinnennetz - dass zwar immer größer wird, aber es hat immer mehr Details. Und das ist ein Argument für Zyklen. Und Marina Zwetajewa hat mal gesagt, für sie ist es wie ein Strudel. Sobald sie einmal den Fuß drin hat, hat sie keine Chance mehr, sie muss schreiben, bis alles weg ist." In der FAZ empfiehlt Christian Metz, die in zwei Bänden erschienenen Essays und Gedichte von Westermann parallel zu lesen. Wenn der Autor Identitätsfragen nachgeht, dabei mit viel Fantasie von Klimakrise, Krieg und Vertreibung erzählt, kommt Metz zu dem Schluss: "Brisanter kann Lyrik kaum sein!"

Lob gab es auch für Sonja vom Brockes Band "Mush" (bestellen), deren Vermischungsfantasien und -bilder nicht zufällig Ovids Metamorphosen als Quelle angeben, meint in der SZ Nico Bleutge. Es ist die "Auflösung des Festen", aus denen sich diese Lyrik speist, so der wohlwollende Kritiker und zitiert: "S und DU / zerschmelzen zu Halmen, die duften, wenn sie krähen." Ursula Krechels "Beileibe und Zumute" (bestellen) erkundet systematisch ästhetische Erfahrung und das Verhältnis zwischen Ding und Wort. Wortspiele, Verfremdung, zum Letterntanz ladende Melodien und genaue Beobachtungen (etwa beim Arzt) machen, eröffnet dem FAZ-Kritiker Christian Metz viel Spaß. In der FR liest Björn Hayer die Gedichte als eine "Schule des Bewusstseins", auch weil sie der Realität einen ordentlichen Schuss Fantastik beigibt.

"Überwältigend" scheint dem FR-Rezensenten Björn Hayer die treffendste Beschreibung für Ulla Hahns Gedichtband "stille trommeln" (bestellen) zu sein und für ihre Dichtung "zwischen Ding und Wort", die ihm trotz ihres melancholischen Grundtons großen Trost spendet. Auch Carsten Otte, der dem Band im SWR eine ausführliche Besprechung widmet, findet immer wieder wunderbare Gedichte - vor allem Hahns Liebeslyrik und ihre Sprachspiele haben es ihm angetan. Wenn sie sich allerdings mit den Naturwissenschaften auseinandersetzt, wird es schnell banal, meint er. Eine Leseempfehlung der NZZ gibt es auch für die Naturlyrik im zweisprachigen Band "A Language That is Ever Green" (bestellen) des 1864 in einer Irrenanstalt verstorbenen englischen Dichters John Clare. Und in der FAZ liest eine beeindruckte Marta Kijowska im Band "Lass uns die Nacht" (bestellen) eine Auswahl von Gedichten der polnischen Lyrikerin Marzanna Kielar, deren Eigenwilligkeit und Reife sich für die Rezensentin in einer Natur-Bildlichkeit zeigt, die das Idyll schnell ins Dunkle kippen lässt.

Amanda Gormans "The Hill We Climb" (bestellen) hat Marieluise Knott bei uns schon in ihrer Lyrikkolumne Tagtigall besprochen. Sie konnte der Übersetzung - wie die meisten Kritiker - nicht viel abgewinnen, aber immerhin ist das Original mit abgedruckt. Am besten versteht man dieses Gedicht jedoch vielleicht, wenn man dabei noch einmal den Moment erlebt, in dem es vorgetragen wurde: