Bücher der Saison

Essays und Reportagen

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
09.11.2020. Clemens J. Setz lernt Volapük. Uljana Wolf beweist polylinguale Tollkühnheit. Dorothee Elmiger erzählt aus der Zuckerfabrik. Roberto Calasso folgt dem Himmlischen Jäger. Bill Buford lernt Kochen in Lyon. Vivian Gornick flaniert durch New York.

Essays

Cover: Die Bienen und das UnsichtbareNein, es geht in Clemens J. Setz' "Die Bienen und das Unsichtbare" (bestellen) nicht um Bienen. Sondern um die Konstruktion von Sprachen, also um die Konstruktion von Welt. Und um Setz, also die Konstruktion es Ich. Er erzählt unter andere, wie er einen Sommer lang Volapük lernt und selbst eine eigene Sprache entwickelt, verspricht der Klappentext. Und "es geht um die vermutlich einzige Volapük-Muttersprachlerin, die je gelebt hat, und die Plansprache Talossa für die gleichnamige Mikronation, die ein Teenager 1979 in seinem Schlafzimmer ausrief." Für taz-Rezensent Christian Dinger ist das "ein Buch mit dem Informationswert einer Dissertation", das dennoch bestens unterhält und die Literaturlandschaft mit seiner Originalität eindeutig bereichert.

Cover: Etymologischer GossipEbenfalls über Sprache denkt die Lyrikerin und Übersetzerin Uljana Wolf in "Etymologischer Gossip" (bestellen) nach. Ihr ist es um "die Verschiebung des herrschenden Ausdrucks" als produktive Verstörung zu tun, um das Eigenleben des Sinns (oder Widersinns) in den Zeichen und Bezeichnungen. Wie die Autorin hier Einblick in ihre eigene poetische Praxis gewährt, in ihre "polylinguale Tollkühnheit", wenn sie Texte von Aichinger oder Christine Lavant behandelt, findet der große Lyrik-Kritiker Michael Braun in der taz lesenswert und aufschlussreich. Sehr liebevoll besprochen wurden auch die "Klebebilder" (bestellen) des 1978 verstorbenen George Perros. Die Sammlung aus Notaten, Porträts und Gedichten vermitteln dem FR-Kritiker Eberhard Geisler die große Sprach- und Literaturbegeisterung wie auch -skepsis des Schauspielers und Dichters aus dem Pariser Arbeitermilieu. Umso erfreulicher, dass Anne Weber diesen "Sound aus Glück und Trauer" laut NZZ auf wunderbare Weise übertragen und hörbar gemacht hat.

CoverDorothee Elmigers "Aus der Zuckerfabrik" (bestellen) ist eines der meist besprochenen Bücher der Saison - egal, ob man es mehr als Essay oder als Roman betrachtet. Zucker ist der Stoff, der hier die Assoziationen auslöst, eine Droge, so viel ist klar, eine die tiefstens mit dem Verbrechen der Sklaverei und mit der Möglichkeit der Industrialisierung verbunden ist, denn Zucker revolutionierte die Ernährung! Früher verlängerte er Leben, heute verkürzt er sie. Und das Buch ist ein Ereignis: FAZ-Rezensent Jan Wiele verneigt sich tief vor der jungen Schweizer Schriftstellerin Elmiger, die den Literaturbetrieb laut Kritiker so aufwirbelt wie es zuletzt höchstens Peter Handke in den Sechzigern gelang. Denn Elmiger crasht die marktkonforme "Agenturprosa", reflektiert die Entstehungsbedingungen ihres Textes mit, verzichtet auf Handlung und greift dafür weit aus. Alle Rezensenten waren hingerissen - eine Seltenheit. Schade, dass die Radios mit so jemandem zu so einem Buch nicht mal ein längeres Gespräch führen.

Cover: Der Himmlische JägerEin Buch, das sich vielleicht als Ergänzung oder Erweiterung zu Josef Reichholfs "Der Hund und sein Mensch" lesen lässt (siehe bei den Sachbüchern): Der große italienische Kulturtheoretiker Roberto Calasso folgt in "Der Himmlische Jäger" (bestellen) allerdings wohl eher kulturhistorischen Losungen: So klug, so poetisch und doch so leicht hat SZ-Rezensent Johan Schloemann noch nie gelesen, wie die Erfindung der Jagd den Homo Sapiens in die zivilisatorische Bredouille brachte: Der Mensch ist nicht als Räuber geboren, er wurde dazu, weil er Raubtiere, seine Feinde, beim Jagen oder Reißen beobachtete. Manche fanden die Lektüre anstrengend, aber alle anregend.

CoverAußerdem in dieser Saison: Botho Strauß' neue, zuverlässig neoreaktionäre Wahrnehmungssplitter, die bei weitem nicht mehr den einstigen Skandal auslösen, "Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern" (bestellen), "Senkblei der Geschichten" (bestellen), Gespräche zwischen der unermüdlichen Zwitschermaschine Alexander Kluge und dem Philosophen Joseph Vogl und Eliot Weinbergers Nachdenken über das rechte Amerika: "Neulich in Amerika" (bestellen).


Reportagen

CoverWem ist Bill Bufords "Hitze" nicht noch in Erinnerung? Der Mann hat keine Skrupel. Er lernt Schweine schlachten und zerlegen. Und stets ist er der Dummkopf, der von Meistern seines Fachs mit Geduld in die richtige Richtung gestupst wird. Dafür verehrt er sie aus vollem Herzen und gibt es ihnen zurück in Form von Büchern, die man höchstens aus der Hand legen will, um Schweine zu zerlegen. In "Dreck" (bestellen)  geht's also um die französische Küche, ein Hort der Traditionen, die manchmal etwas angestaubt sind. Aber Buford kommt den den zuverlässigen Kulleraugen eines naiven Bewunderers - und bringt uns bei, was er lernt. Für Rüther in der FAS ein ebenso lustiger wie kluger Bildungsroman auch für die, die nicht fürs Kochen brennen.

Cover: Eine Frau in New YorkCover: Divided We StandEine Flaneurin! Dreimal wurde Vivian Gornicks "Eine Frau in New York" (bestellen) besprochen, und dreimal waren die RezensentInnen beschwingt, obwohl der Klappentext zunächst recht unspezifisch klingt. Eine Frau geht New York? Ja, aber sie flaniert eben, schweift, redet und belauscht. Das Besondere an Vivian Gornick ist für taz-Rezensent Stefan Hochgesand der fast beiläufige Blick und das Gehör für andere. Manuela Reichart verspricht im Dlf Kultur Exkurse zu "Sexualität und Sinnlichkeit", Trauer, Alter, Ehe, Feminismus und Identitätspolitik. Ein Fotobuch zum Abschluss dieses Jahrs der amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Mathias Braschler und Monika Fischer fuhren für "Divided We Stand" (bestellen) im Wohnmobil durch Amerika und porträtierten die unterschiedlichsten Zeitgenossen dieses gespaltenen Landes. Diese mikroskopische Perspektive mag einige Aufschlüsse über diese blau-rote Kontinentaldrift geben. Thomas Winkler empfahl das Buch in der taz - sicher auch ein gutes Weihnachtsgeschenk für alle, die dennoch Freunde Amerikas bleiben. Einige Fotos kann man auf der Seite des Verlags sehen.

Cover: Klee Wyck - Die, die lachtKanada wäre in diesem Jahr das Gastland der Buchmesse gewesen. Eines der verdienstvollen Unterfangen ist die Übersetzung von Emily Carrs Reisen zu den indigenen Völkern an der kanadischen Pazifikküste, "Klee Wyck - Die, die lacht" (bestellen). Unternommen hat sie die Reise in den dreißiger Jahren. Sie wirft einen Blick auf diese Kulturen, der heute so nicht mehr zu haben ist, berichten die Rezensenten, unbefangen, wohl auch romantisierend, aber nie den Sinn für die Realität verlierend. Unter den Klassikern seien auch empfohlen Gabriele Tergits Gerichtsreportagen aus den zwanziger Jahren, die unter dem Titel "Vom Frühling und von der Einsamkeit" (bestellen) neu ediert wurden, und Hans Ostwalds Berliner Milieustudien aus den Jahren 1904 bis 08 unter dem Titel "Berlin - Anfänge einer Großstadt" (bestellen), ein Panorama der Stadt um die letzte Jahrhundertwende, eine Beschreibung, das sture Material, verspricht Arno Widmann in der FR.

Cover: Die Stimmen vom NilCover: Dringend empfohlen wurde auch Peter Hesslers Ägypten-Reportage "Die Stimmen vom Nil" (bestellen), eine Bestandsaufnahme, fast zehn Jahre nach dem gescheiterten arabischen Frühling. Meisterhaft finden die Rezensenten, wie Hessler zwischen Porträts seiner Freunde und analytischen Passagen wechselt. Ein konkreter Einblick in eine politische Tragödie. Und zuletzt noch ein ethnologischer Blick auf Berlin, empfohlen von dem Romanisten Niklas Bender in der FAZ, "Berlin bewegt sich schneller, als ich schreibe" (bestellen): 22 französische Autoren versuchen sich einen Reim auf Berlin zu machen.