Efeu - Die Kulturrundschau

Stoß endlich. Stärker!

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12.10.2016. Der Standard vergnügt sich im Wiener MAK mit japanischen Frühlingsbildern. Die NZZ bewundert das kleine Format, in dem Barcelonas Architekten jetzt bauen. Die Tell Review verfängt sich in den Widerhaken des Mosebachschen Satzbaus. Die taz verabschiedet mit Drake die Hypermaskulinität im HipHop. Die FAZ lauscht auf dem Schwazer Klangspuren-Festival den kometenartige Geräuschschweifen harter Konsonanten. Ebenfalls in der FAZ erklärt Stephen Greenblatt den Auftsieg Donald Trumps mit Richard III.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.10.2016 finden Sie hier

Kunst


Chokyosai Eiri: Eine Kurtisane mit einem Holländer, vor 1801. Drittes Blatt aus dem Album Fumi no kiyogaki (Sauberer Entwurf eines Liebesbriefs). Foto: MAK/Georg Mayer

Sehr erhellend findet Christian Schachinger im Standard die Schau erotischer Holzschnitte aus Japan im Wiener Mak: Schunga heißen die frühen Pornos, oder unverfänglicher: Frühlingsbilder. Sie beweisen echten Sinn fürs Genre: "So sieht man auf dem auf die Zeit um 1800 datierten Bild 'Eine Kurtisane mit einem Holländer' etwa auch die krallenartigen Fingernägel des rotgesichtigen hässlichen Holländers. Sie sollen dessen 'Tierhaftigkeit' unterstreichen. Ein beigestelltes Gefäß, in dem wohlriechende Kräuter in einem Fässchen abgebrannt werden, sollen obendrein den Gestank der ausländischen Bestie übertünchen. Warum Shunga vielfach auch als 'Lachbilder' bezeichnet werden, dokumentiert ein heutigen Comics nicht unähnlicher Bildtext: 'Obwohl du nichts verstehst, stoß endlich. Stärker! Was soll ich mit dir nur anfangen?'"

Besprochen werden die Lucia Moholy gewidmete Ausstellung im Bauhaus-Archiv in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Barock - nur schöner Schein?" in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim (SZ), Annie Leibovitz' Ausstellung "Women: New Portraits" im Kunstverein Familie Montez in Frankfurt (FAZ) und die Ausstellung "Am Fuße der Pyramide - 300 Jahre Friedhof für Ausländer in Rom" in der Casa di Goethe in Rom (FAZ).
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Musik

In der taz denkt Anthony Obst über das Image des Rappers Drake nach, in dem er einen reizvollen Gegenentwurf zur üblichen  Hypermaskulinität des HipHop sieht. Drakes Männlichkeitsbegriff ist komplex, so Obst: "Schwarz, weiß, soft, hart, emotional, cool, urban, vorstädtisch. ... Die Männlichkeitsmodelle, die Rapper wie Drake, Lil B und Young Thug verkörpern, sind von Widersprüchen geprägt, die die Fluidität und den inszenierten Konstruktcharakter von Männlichkeit offenbaren. Als populäres Aushängeschild von HipHop im 21. Jahrhundert liefert Drake durch seinen Ausdruck von männlicher Unzulänglichkeit sowohl innerhalb der HipHop-Kultur als auch im Allgemeinen für afroamerikanische Männer ein alternatives Männlichkeitsmodell, das mit Stereotypen bricht."

Beim Klangspuren Festival im österreichischen Schwaz gab es zahlreiche Bündnisse zwischen Avantgarde und den Klangwelten der Populärkultur zu hören, berichtet ein davon sichtlich angetaner Reinhard Kager in der FAZ: "Whack, Snap, Bang, Crrak! Volle vokale Salven fliegen dem Publikum um die Ohren. Repetiert in immenser Geschwindigkeit oder aber genüsslich gedehnt, so dass selbst die harten Konsonanten kometenartige Geräuschschweife bilden. ... Aus dem ursprünglichen Kontext gerissen, können die klanglichen Potentiale solcher Onomatopoetika auch für eine Art Geräuschklangpoetik genutzt werden. Wow!"

Weiteres: In der Welt versucht Martin Scholz, die Liedermacherin Suzanne Vega zum Reden zu bringen. Schreiben über Musik findet sie übrigens völlig okay: "Ich finde, wir sollten alle viel öfter zu Architektur tanzen. In der taz unterhält sich Andreas Hartmann mit dem Berliner Jazzer Alexander von Schlippenbach. Für The Quietus spricht Harry Murdoch mit dem deutschen Produzenten Atom. Bei The Quietus würdigt Jimmy Martin das Judas-Priest-Album "Sad Wings of Destiny" als Initialzündung für moderne Metalmusik. In der NZZ schreibt Aram Lintzel über Bon Ivers neues Album "22, A Million".
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Bühne

Mit Shakespeares "Richard III." lassen sich wunderbar der amerikanische Wahlkampf und das Phänomen Donald Trump verstehen, meint Stephen Greenblatt in einem Essay, den die FAZ aus der New York Times übernommen hat. Fünf Gruppen von "Möglichmachern" hat Greenblatt in dem Stück identifiziert, die den Aufstieg eines Soziopathen begünstigen. Die fünfte Gruppe bestehe aus "jenen, die großes Vergnügen daran haben, dass sich die so lange aufgestaute Aggression endlich Luft machen und der schwarze Humor Raum greifen kann, und dass nunmehr offen gesagt werden darf, was zuvor als unsagbar galt." Klar, wer damit gemeint ist: "Wir, das Publikum im Theater, das immer und immer wieder davon in Bann gezogen wird, mit welcher verbrecherischen Nonchalance Richard seine Ungeheuerlichkeiten begeht und mit welcher Gleichgültigkeit er den Regeln des menschlichen Anstands gegenübersteht."

Besprochen werden Lola Arias' "Atlas des Kommunismus" am Berliner Maxim Gorki Theater (SZ, mehr dazu hier), Kirill Serebrennikovs Inszenierung von Rossinis "Barbier von Sevilla" an der Komischen Oper Berlin (FAZ, mehr dazu hier), Benjamin Brittens "Paul Bunyan" an der Oper Frankfurt in der Inszenierung von Brigitte Fassbaender (FR) und Andrea Breths Amsterdamer Inszenierung von Puccinis "Manon Lescaut" (SZ).
Archiv: Bühne

Film

In einem tschechischen Filmarchiv ist ein bislang verschollen geglaubter Film von Trickfilmpionier Georges Méliès aufgetaucht, meldet der Guardian. Die SZ bringt einen Text aus Helmut Dietls Nachlass über die Entstehung der Serie "Kir Royal".

Besprochen werden Markus Wischkowskis und Kai Maria Steinkühlers Kölner Offkomödie "Weiße Ritter" (taz), die von Körperwinden durchsetzte Robinsonade "Swiss Army Man" mit Daniel Radcliffe (ZeitOnline) und Dani Levys neue Komödie "Die Welt der Wunderlichs" (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

In der Tell Review unterzieht Sieglinde Geisel Martin Mosebachs "Mogador" ihrem Page-99-Test. Mit den vielen Adjektiven lernt sie zurecht zu kommen: "Diese Widersprüchlichkeit macht die Figur lebendig. Widersprüche - die Domäne der Adjektive. Interessanter als die Adjektive scheint mir bei Mosebach jedoch der Satzbau. Er irritiert mich fast durchweg. Es ist, als würde ich mich beim Lesen ständig mit dem Ärmel in kleinen Widerhaken verfangen."

Für die SZ trifft sich Thomas Kirchner mit der flämischen Lyrikerin Charlotte Van den Broeck, die bei der Frankfurter Buchmesse die Eröffnungsrede halten wird.

Besprochen werden unter anderem Bernd Floraths "Annäherungen an Robert Havemann" (NZZ), Pierre Bayles Schrift über die "Toleranz" (NZZ),  hierry Smolderens und Alexandre Clérisse' Comic "Ein diabolischer Sommer" (taz), Dmitri Venevitinovs "Flügel des Lebens" (FR), Arnold Stadlers "Rauschzeit" (online nachgereicht von der Zeit) und Dagmar Leupolds "Die Witwen" (FAZ). Mehr aus dem literarischen Leben auf unserem Metablog Lit21.
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Architektur


Mercat dels Encants der Architekten Fermín Vázquez.

Barcelonas Architekten klotzen nicht mehr, die Zeiten sind vorbei, als Attraktionen herhalten müssen jetzt Kleinbauten wie der Informationspavillon von den spanischen Architekten Peris+Toral an der Plaça de les Glòries Catalanes (Bilder), wie Roman Hollenstein in der NZZ berichtet: Die Plaça ist gerade der Touristen-Hotspot der Stadt: "Seit gut zwei Jahren locken der in einem spektakulären Neubau von Fermín Vázquez Arquitectes untergebrachte Flohmarkt 'Els Encants' und das sich mit neobrutalistischer Eloquenz aufspielende Designmuseum der katalanischen Altmeister Martorell, Bohigas und Mackay immer mehr Touristen in das einst verrufene und stiefmütterlich behandelte Quartier rund um den Glòries-Platz. Vor allem dem auf eine jahrhundertealte Tradition zurückblickenden Trödelmarkt, dessen offene Verkaufsflächen nun durch Vázquez' futuristisch anmutendes, mehrfach geknickt auf massiven Stahlpfeilern ruhendes Spiegeldach vor der Witterung geschützt wird, statten Shopping-Verrückte aus aller Welt gerne einen Besuch ab."

Hermann Parzinger von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz plädiert im Tagesspiegel dafür, Schinkels Bauakademie endlich wieder zu rekonstruieren und als Architekturmuseum zu nutzen. Jetzt existiert sie nur als Attrappe. Der Vorschlag stößt bereits auf Interesse, wie Nicola Kuhn und Christian Schröder herausgefunden haben.
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