Efeu - Die Kulturrundschau

Wer verteilt die Rollen?

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26.08.2019. In den von den Samwer-Brüdern aufgekauften Weddinger Uferhallen meldet die Kunst Eigenbdearf an, berichtet die taz. Die SZ lauscht im Bochumer Audimax höllenschlundgrausiger Totenmusik. Bei seinem Antrittskonzert mit Beethovens Neunter bei den Berliner Philharmonikern attestieren die Kritiker Kirill Petrenko immerhin große Sachlichkeit. Die NZZ erlebt das Zürcher Theaterspektakel als einen Ort gelebter Utopie. Und im Standard trauert Elif Shafak um den Fortschritt in Istanbul.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.08.2019 finden Sie hier

Kunst

In den Weddinger Uferhallen haben Künstler und Künstlerinnen Eigenbedarf angemeldet - taz-Kritiker Anselm Lenz erlebt in der gleichnamigen Ausstellung, wie die Kunst der Startup-Ökonomie zum Opfer fällt. Weil das Internet nicht mehr genug Rendite abwerfe, verlege sich Rocket Internet jetzt auf den Aufkauf hipper Orte: "Die Samwer-Brüder, Eigner von Rocket, haben das 40.000-Quadratmeter-Areal über eine andere juristische Person - Augustus Immobilien - aufgekauft. Rund 30 Millionen Euro haben sie dafür auf den Tisch gelegt. 2006 hatte der rot-rote Senat die ehemaligen BVG-Reparaturhallen noch für 6 Millionen hastig verscheuert, aber immerhin noch den Wunsch in den Vertrag schreiben lassen, der neue Eigentümer solle Kulturproduktion berücksichtigen. Für den nun realisierten Gewinn von 24 Millionen und eine Rendite von 400 Prozent binnen dreizehn Jahren war das nicht mal ein Kollateralschaden."

Weiteres: Für Monopol besucht Susanne Magister das Schindler'sche Blaufarbenwerk in der Zwickauer Mulde, wo seit vier Jahrhundert Pigmente Kobaltblau und Ultramarin hergestellt werden.  In der FAZ betrachtet Karlheinz Lüdeking eingehend Théodore Géricaults Großwerk "Floß der Medusa". Andreas Platthaus besichtigt die Ausstellung "Bauhaus Beginnings" mit Schülerarbeiten im Getty Center (FAZ).
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Bühne

Kein Stahlwerk, keine Zeche, keine Kokerei: Die Ruhrtriennale im Audimax. Foto: Matthias Horn

Im vorigen Jahr flog der Intendantin Stefanie Carp der Ruhrtriennale eine gepfefferte Antisemitismus-Debatte um die Ohren, berichtet Christine Dössel in der SZ, in diesem Jahr üben sich die Festspiele in europäischer Selbstkritik. Für "Nach den letzten Tagen" hat Carp zusammen mit Christoph Marthaler im Audimax der Ruhr-Universität Bochum ein szenisches Konzert jüdischer Komponisten verbunden mit einer Collage aus aktuellen Hassreden: "Gut, dass sie im letzten Drittel des Abends verstummen, die banal bösen Nazi-Redner, wie von der Musik überwältigt, die zunehmend den Raum einnimmt. Ergreifend die Einspielung von Luigi Nonos Auschwitz-Gesängen für Chöre vom Tonband: höllenschlundgrausige Totenmusik, gespenstisch wie aus den Verbrennungsöfen hallend. Gegen Ende werden die Gedenkfeierlichen immer marthalerischer, verfallen in Zuckungen oder fallen um. Schließlich ziehen sie in Wintermänteln aus dem Saal aus, einen leisen Choral von Felix Mendelssohn-Bartholdy auf den Lippen: 'Wer bis an das Ende beharrt'."

Als einen Ort gelebter Utopie feiert Daniele Muscionico das Zürcher Theaterspektakel, bei dem Theater, Kunst und Leben zusammenfinden: "Das ist das Geheimnis des Erfolgs des Zürcher Theaterspektakels: Es stellt uns implizit vor die Frage: Wo beginnt Inszenierung? Wer verteilt die Rollen? Ist meine Rolle selbst gewählt? Wer sich auf der Landiwiese aufhält, wird über solche Fragen an jeder Kreuzung stolpern und in jedem sogenannten Strassenkünstler eine wieder andere Antwort für sich finden. Theater hat tausend Gesichter. Jede und jeder ist Beteiligter und Publikum zugleich. Theater spricht als Möwe, wenn die australischen Kinder bei Sara Hersch & Lara Thoms von den Zuständen in den Flüchtlingslagern auf der Insel Nauru erzählen; oder es speit wie der Feuerschlucker, der seine Kunst auf einem der Plätze umsonst darbietet."

Besprochen werden die Uraufführung von Heiner Goebbels' Endzeit-Komposition "Everything that Happened and Would Happen" bei der Ruhrtriennale in Bochum (Nachtkritik, FAZ), Nurkan Erpulats Reenactment der Nationalversammlung vor 100 Jahren in Weimar (Nachtkritik), Aszure Bartons Choreografie "#WTF - Where there's form" in Hamburg (die Dorion Weickmann in der SZ als "brillanten Remix aus Modern Dance, postmoderner Hochgeschwindigkeitsästhetik und allerlei Tanzmoden zwischen Voguing und Break" feiert) sowie ein Abend für den legendären amerikanischen Choreografen Merce Cunningham beim Tanz im August in Berlin (Tsp).
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Literatur

In ihrem neuem Roman "Unerhörte Stimmen" beschreibt Elif Shafak ihre Heimatstadt Istanbul aus Perspektive der Ausgestoßenen - Prostituierte, Transsexuelle und Einwanderer. Für diese Gruppen hat Istanbul viel von seinem einstigen Glanz verloren, sagt sie im Standard-Gespräch: "Die Gay Pride wurde bereits viermal hintereinander verboten, die Trans Pride mit Tränengas und Gummigeschossen von der Polizei gestoppt. Es ist gar nicht so lange her, da war Istanbul das Hoffnungszentrum für sexuelle Minderheiten, für den gesamten Nahen Osten - die einzige muslimische Stadt mit einer Schwulenparade. Ich bin selbst einige Male mitmarschiert. Es fühlte sich an, als wäre der Fortschritt unaufhaltsam."

Weiteres: Mit großem Vergnügen spaziert Gerrit Bartels für den Tagesspiegel durch Suhrkamps neues Berliner Verlagsgebäude. Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš beschreibt in der FAZ die Welt, die sich auftut, wenn man die Zugreise von Berlin nach Prag im Speisewagen verbringt.

Besprochen werden unter anderem Raoul Schrotts "Eine Geschichte des Windes oder Von dem deutschen Kanonier der erstmals die Welt umrundete und dann ein zweites und ein drittes Mal" (NZZ), Ursula Wiegeles "Was Augen hat und Ohren" (Presse), Henry Thoreaus "Tagebuch IV" (online nachgereicht von der NZZ), Berit Glanz' "Pixeltänzer" (Freitag), Regina Scheers "Gott wohnt im Wedding" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Chen Jianghongs Bilderbuch "Sohn des Himmels" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Dirk von Petersdorff über Adam Zagajewskis "Wettbewerb":

"Oder als sie uns, wohl zum zehnten Mal,
von dem Redewettbewerb erzählte, den sie, damals noch
eine junge Jurastudentin, gewann, fast gewonnen hätte, obwohl
..."
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Film

Besprochen werden Jenna Cato Bass' "Flatland" (Presse), Gene Stupnitskys Coming-of-Age-Komödie "Good Boys" (Standard), Sebastián Lelios "Gloria" mit Julianne Moore in der Titelrolle (Freitag, mehr dazu bereits hier), und neue Heimmedienveröffentlichungen, darunter Michael Pfleghars ziemlich abgefahrene Krimi-Parodie "Die Tote von Beverly Hills" aus dem Jahr 1964 (SZ). Einen kleinen Geschmack des darin versammelten Irrsinns vermittelt dieser Trailer:

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Musik

Nun, nach Kirill Petrenkos erstem Konzert mit den Berliner Philharmonikern unter freiem Himmel am Brandenburger Tor, hat auch das breite Berliner Publikum den neuen Orchesterleiter mit viel warmem Jubel willkommen geheißen, schreibt Wolfgang Schreiber in der SZ. Beim offiziellen Antrittskonzert tags zuvor (unser erstes Resümee) ließ Petrenko Beethovens Neunte "ohne jedes Interesse am Repräsentativen, klischeehaft Staatstragenden oder auch bloß pathetisch Erhabenen und Schönen musizieren, womit gerade die Neunte Symphonie oft belastet erscheint und auch in den politischen Dienst genommen wird." Im Gegenteil, das Werk "erschien vielmehr in der Nähe drakonischer Sachlichkeit, ja schneidender Dringlichkeit." Das Konzert am Brandenburger Tor kann man in der RBB-Mediathek sehen - dort wahrscheinlich in besserer Klangqualität als direkt vor Ort, wie man nach Frederik Hanssens Bericht im Tagesspiegel mutmaßen darf.

ZeitOnline
bringt einen Buchauszug aus einem Sammelband, in dem Daniel Gerhardt sich essayistisch mit dem deutschen Gegenwarts-Pop und dessen Politikvergessenheit auseinandersetzt: Engagierten Festivals wie im vergangenen Jahr in Chemnitz zum Trotz, sonnt sich der Mainstreampop im schlagerhaften Alltagsidyll: "Wer heute Erfolg mit Popsongs in Deutschland haben will, muss Musik aus vergangenen Zeiten machen. Die Prototypen Helene Fischer, Mark Forster und Max Giesinger singen ihr Publikum aus einem Land an, das es gar nicht mehr gibt. Sie sind Überbleibsel der ersten Amtsjahre von Bundeskanzlerin Angela Merkel, einer vergleichsweise ruhigen Konsolidierungsphase. ... In diesem Klima der Selbstzufriedenheit gingen der emanzipatorischen Popmusik die Themen verloren."

Weiteres: Aufbruchstimmung und politische Positionen im Pop fand man am vergangenen Wochenende eher auf der Berliner Pop-Kultur, die Holger Schulze in der taz resümiert: Zu erleben gab es Pop im Umbruch, der "sich von Bindungen an die alte, toxische Popkultur verabschieden will". Weitere Berichte schreiben Florian Werner (ZeitOnline) und Markus Schneider (Berliner Zeitung). Im Standard spricht die Sängerin Elisabeth Kulman über übergriffiges Verhalten in der Klassikszene. Sie bittet insbesondere vor dem Hintergrund aktueller Vorwürfe gegenüber Placido Domingo "um mehr Sensibilität und Einfühlungsvermögen im Umgang mit dem Thema. Auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen: Sexuelle Übergriffe finden statt, nicht nur in der Kirche und in der Politik, sondern auch in der hehren Welt der Kultur."

Weiteres: Arthur Schwaninger schreibt in der NZZ über das "Burning Man"-Festival, das seit gestern in der Wüste von Nevada stattfindet. Im Standard resümiert Ljubiša Tošić das 40. Jazzfestival in Saalfelden. Zum 70. Geburtstag von Peter Maffay haben sich Berliner Zeitung und Tagesspiegel zu großen Gesprächen mit dem Musiker getroffen. The Quietus veröffentlicht einen Textauszug aus dem neuen Buch des Philosophen und Musikwissenschaftlers Lawrence Kramer, der sich mit der geisterhaften Anmutung früher Tonaufzeichnungsverfahren befasst.

Besprochen werden von Gastdirigent Yannick Nézet-Séguin dirigierte Konzerte beim Lucerne Festival (Brugs Klassiker, NZZ), das Konzert des Geigers Frank Peter Zimmermann mit dem Shanghai Symphony Orchestra beim Lucerne Festival (NZZ), ein Auftritt von Feine Sahne Fischfilet (Tagesspiegel) und Missy Elliotts Comeback-EP "Iconology" (Welt). Ein Video:

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