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22.05.2020. In der FAZ blickt der Schriftsteller Marius Ivaškevičius traurig auf seine letzte gelöste Theaterkarte. In der SZ trauern Matthias Brandt und Christian Petzold um den schönen, kindlichen, versunken rauchenden Michel Piccoli. Die taz freut sich über Schutzschilde für Krankenhäuser aus dem 3D-Drucker der Kunsthochschule Weißensee. Das Van Magazin möchte Musiker lieber nicht als systemrelevant einstufen. In der New York Times zeigt Christoph Niemann, wie man die Tonleiter spielt: mit acht Fingern an einer Hand.
Diese Coronazeiten markieren eine Zäsur im Kino, ist sich Bert Rebhandl in einem online nachgereichten FAS-Artikel sicher, und sei es nur, weil man durch den Stillstand von Produktion und Distribution, vom Siegeszug der Streamingdienste und Digital-ArchivederKinematheken mit einem Mal eine Ahnung davon bekommt, was für eine Welt eine Welt ohne Kino-Aktualitäten wäre. Zumindest ab und an würde sich Rebhandl auch für die Zukunft ein solches Aktualitäten-Sabbatical wünschen: "Man könnte zum Beispiel eine beliebige Woche im Jahr vom Start neuer Filme freihalten und stattdessen die Talente von heute aus den Werken von gestern eine Auswahl treffen lassen. Das wäre eine 'filmkulturelleAusnahme' oder eine filmhistorische 'Quote' (nach dem Vorbild der französischen 'exception culturelle'), wie man sie im linearen Fernsehen immer nur zaghaft versucht hat." Auch Freitag-Kritikerin Barbara Schweizerhof kann dem selbstkuratiertenfilmhistorischenProgramm zuhause einiges abgewinnen.
Rauchen ist Denken, Atmen, Planen. Michel Piccoli mit Zigarette in "Die Dinge des Lebens", 1970
An Nachrufen auf MichelPiccoli herrschte weißgott kein Mangel (unser umfangreiches Resümee). In der SZ haben jetzt der Schauspieler MatthiasBrandt und der Regisseur ChristianPetzold noch eine schöne Hommage nachgelegt. Sie schwärmen von Piccolis kindlich-sinnlicher Physis in Chabrols "Blutige Hochzeit", von einer Seitensprung-Liebesszene zwischen Piccoli und Stéphane Audran. "Dann raucht Piccoli. Niemand kann heute mehr so rauchen. Piccoli raucht nie aus Nervosität. Rauchen ist Denken, Atmen, Planen. Er liegt am Fußende, Stéphane Audrans Fuß beiläufig liebkosend, zieht an der Zigarette. Er schaut sich um. 'Man treibt es in der schönsten Umgebung - aber am Ende ist alles wieder schäbig.' Ein trauriges Kind, das die Kindheit verloren hat. ... Piccoli ist ein schöner Mann. Er ist behaart, elegant und höflich. Er hat Stil und er weiß zu lieben. Aber in allen Rollen ist da etwas Kindliches: wie er die Dinge berührt, anfasst, untersucht."
Weitere Artikel: Festivalleiter Christian Jungen spricht in der NZZ über seine Pläne für das Zurich Film Festival, das er Ende September unbedingt im Kinosaal und nicht vor den heimischen Bildschirmen stattfinden lassen will. Die FAZ hat Bert Rebhandls Resümee des Online-Jahrgangs der KurzfilmtageOberhausen online nachgereicht. Zum Vatertag hat Susanne Führer für Dlf Kultur ausführlich mit Volker Schlöndorffgesprochen.
Besprochen werden der in den Autokinos ausgewertete Thriller "Man from Beirut" mit KidaRamadan (Welt), die Doku-Serie "The Last Dance" über MichaelJordan (Freitag) und Adam Randalls auf DVD veröffentlichter Thiller "I See You" (taz).
Szene aus Christopher Waltz' "Fidelio". Foto: Monika Rittershaus
Der Kulturjournalist Axel Brüggemann erhebt in seinem Blog bei der Klassikzeitschrift Crescendo einen Plagiatsvorwurf gegen die "Fidelio"-Inszenierung von Christopher Waltz, meldet die Presse. Die im Bühnenbild benutzte riesige Doppelhelix-Treppe des amerikanisch-deutschen Architekturbüros Barkow Leibinger gleiche "frappant einer Studie für eine Bibliothek des US-Architekten Khoa Vu aus dem Jahr 2013. Vu stellte gegenüber Brüggemann eine Zusammenarbeit in Abrede: 'Ich war schockiert, als ich die Bilder gesehen habe. Man muss ernsthaft davon ausgehen, dass Barkow meine Idee kopiert hat.'" Barkow Leibinger streiten das ab.
Weiteres: Im Standarderklärt Helmut Ploebst, wie schwer sich der Tanz damit tut, die neuen Coronabestimmungen umzusetzen. Die nachtkritikstreamt heute "Urfaust / FaustIn and out" nach Goethe und Jelinek mit anschließender Videokonferenz zu Elfriede Jelinek. Besprochen wird der erste Theaterabend am Theater Wiesbaden nach dem Coronaausbruch: Christian Klischats Theatersolo über den Schinderhannes vor dreißig Zuschauern (FAZ).
Sehr dankbar ist Roman Bucheli dem Coronavirus dafür, dass die SolothurnerLiteraturtage ab diesem Freitag nur online stattfinden werden, wie er in der NZZglossiert. Dazu hat er auch allen Grund, denn wie man liest und staunt, herrscht dort allem Anschein nach permanente Gefahr für Leib und Leben: "Keinem Kritiker droht daselbst ein Spießrutenlaufen, wenn er von Autoren bestürmt und beschimpft wird, weil er deren Bücher nicht oder falsch besprochen hat. Und Peter Bichsel riskiert auch keine Oberschenkelzerrung, weil er das traditionelle Fußballspiel zwischen allerhand literarischen Knochenbrechern nicht mit dem Ankick eröffnen muss. Kein Dichter wird um Mitternacht im Kreuzsaal auf den Tischen tanzen und kopfvoran ins Publikum stürzen und ebenso stracks mit der Ambulanz in die Notaufnahme gelangen (wie vor ein paar Jahren geschehen)."
Große Trauer packt hingegen den SchriftstellerMariusIvaškevičius in der FAZ-Reihe "Mein Fenster zur Welt", wenn er seine letzte gelöste Theaterkarte in der Hand hält, die zu entsorgen er nicht übers Herz bringt: "Mich stoppte der Gedanke, dass vollkommen unbekannt ist, wann ich wieder im Theater sein werde und in einem vollen, ganz still gewordenen Saal, Ellenbogen an Ellenbogen mit mir nicht bekannten Menschen, ein lebendiges Schauspiel betrachten werde, ohne dass mich die Kälte des heranschleichenden Todes durchdringt, wenn einer von ihnen nur hüstelt."
Besprochen werden unter anderem Wu Mings "Die Armee der Schlafwandler" (Freitag), Horst Eckerts Politthriller "Im Namen der Lüge" (Dlf Kultur), JuliZehs "Fragen zu 'Corpus Delicti'" (Freitag), Michelle Winters' "Ich bin ein Laster" (NZZ), ArifAnwars "Kreise ziehen" (Tagesspiegel), Harry Mathews' "Der einsame Zwilling" (Tagesspiegel), Nana KwameAdjei-Brenyahs Storyband "Friday Black" (SZ), SuzanneCollins' "Die Tribute von Panem X" (Berliner Zeitung) und (FAZ).
In der tazstellt Thomas Mauch ein Projekt der Kunsthochschule Weißensee in Berlin vor: dort werden mit einem 3D-Drucker Schutzschilder hergestellt, die die Charité gerade auf einer ihrer Intensivstationen testet: "Ein Problem, das zwischendurch gelöst werden musste, war die Beschaffung von Lochgummibändern zur Befestigung der Maske. Es fehlte schlicht daran, der Markt war leergefegt. So behalf man sich in Weißensee mit einfachen Haushaltsgummis. Hält auch. Wobei man den fehlenden Lochgummi natürlich auch mit dem 3D-Drucker hätte herstellen können. Wäre aber viel zu teuer gewesen und auch zu langsam. Überhaupt hat man sich in Weißensee das Prinzip des Schutzschilds noch mal vorgenommen und versucht - klassische Designaufgabe - es zu optimieren. Was sonst drei Stunden dauerte bei der Herstellung, sagt Klöck, schaffe man jetzt mit dem neu designten Visor in Weißensee in 30 Minuten."
Christoph Gurk besucht für die SZ die vor 60 Jahren erbaute, als Kreuz geplante futuristische Hauptstadt Brasiliens, Brasilia. Dass sie ihr Versprechen einer Moderne für alle nicht einhalten konnte, sieht man deutlich am "Wurmfortsatz", Ceilândia, der inzwischen doppelt so groß ist wie die Hauptstadt: Hier leben die einfachen Leute, die Müllmänner, Krankenschwestern und Verkäufer, so Gurk. "Etwa eine halbe Million Einwohner hat Ceilândia heute... Und während sie in Brasília eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen Brasiliens haben, kommen viele Menschen in Ceilândia gerade so über die Runden. Ganz besonders gilt das für die Bewohner von Sol Nascente, der größten Favela Ceilândias, einem der größten Armenviertel Südamerikas."
Besprochen werden eine Biografie und eine Ausstellung im Oldenburger Schloss des Malers Franz Radziwil (taz), eine einer Ausstellung von Isa Melsheimer im Berliner im Kindl (Tsp), eine Ausstellung von neun Rosenthal-Köpfen von Ulrich Mühe im Charlottenburger Skulpturenforum Hermann Noack (Tsp) und die Ausstellung " Machtmensch. Familienmensch. Der Große Kurfürst" im Schlossmuseum Oranienburg (FAZ).
Wenig sinnlos findet es Hartmut Welscher im VAN-Magazin, wenn die freischaffenden Musiker durch die Coronakrise aufgeschreckt von sich selbst als "systemrelevant" sprechen - ein Ausdruck der Beliebigkeit, meint Welscher. Und "der Begriff taugt auch deshalb nicht, weil er einen Wertschätzungs- undOpferdiskurs nach sich zieht, der emotionalüberzeichnet ist. ...Wem ist mit diesem Legitimationsdiskurs eigentlich gedient? Meint man damit wirklich, jemandem vom Wert der Kultur zu überzeugen? Der Legitimationsdiskurs führt auch deshalb in die Sackgasse, weil er die wichtigsten Dimensionen von Kunst negiert. Deren Wesen liegt ja gerade in der Ziellosigkeit, in der gemeinschaftsbildenden Kraft, der Sinnproduktion, nicht im Return on Investment. Der Wert von Kunst lässt sich nicht beziffern oder über Indikatoren messen. Er lässt sich auch schlecht proklamieren oder einfordern. Und sollte Kunst nicht eigentlich Sand im Systemgetriebe sein?"
In der New York Times präsentiert der Zeichner Christoph Niemann einen seiner wunderschönen visuellen Essays - diesmal über seine Liebe zum Klavierspiel:
Weitere Artikel: Alexander Gurdon resümiert in VAN die in seinen Augen ziemlich geglückte Online-Variante des AmsterdamerMahlerfests, das nicht nur Konzerte ins Netz gekloppt, sondern den Festivalgedanken mit einem digitalen Rahmenprogramm wirklich online transferiert habe: Zu beobachten gewesen sei ein "Vorzeigeprojekt kultureller Teilhabe im Internet." Esther Bishop spricht für VAN mit SarahWedl-Wilson über ihre ersten Erfahrungen als neue Rektorin der Hochschule für Musik Hanns Eisler. In der VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker über Felicitas Kukuck. Außerdem geht Merle Krafeld der Frage nach, wie es um den Status in der Musikgeschichte von Wilhelmine von Bayreuth bestellt ist.
Besprochen werden Perfume Genius' neues Album "Set My Heart on Fire, Immediately", das taz und Tagesspiegel als selbstbewussten queeren Pop-Entwurf feiern, eine Compilation mit Lord Kitcheners in England zwischen 1948 bis 1962 entstandenen Calypso-Aufnahmen (taz), Kaitlyn Aurelia Smiths "The Mosaic of Transformation" (Pitchfork), Sleaford Mods' "All That Glue" (Pitchfork), neue Alben von Charlie XCX und Kehlani AshleyParrish (SZ) und ein Senioren gegebenes Freiluftkonzert des BerlinerRundfunk-Sinfonieorchesters (FAZ).