Efeu - Die Kulturrundschau

Die Sucht nach der Kugel

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23.06.2023. Der Tagesspiegel fragt, warum der Berliner Gropius-Bau eine Ausstellung über die Dekolonisierungs-Konferenz von Bandung 1955 verschoben hat. Die nachtkritik amüsiert sich mit dem fluiden Werkstück "Idiota" der Performerin Marlene Monteiro Freitas. Die Berliner Zeitung  fragt sich angesichts einer künstlerischen Aktion im HAU, ob Hamas-Terror jetzt auch feministisch ist. taz und Zeit online freuen sich in der Amazonserie "I'm a Virgo" des Rappers Boots Riley über Monologe, die erklären, wie cool der Kommunismus ist.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.06.2023 finden Sie hier

Film

Riesensache: Boots Rileys kapitalismuskritische Serie "I'm a Virgo"

Der als kapitalismuskritisch bislang eher nicht verdächtige Amazon-Konzern zeigt die neue, kapitalismuskritische Serie "I'm a Virgo" des kommunistischen Rappers und Aktivisten Boots Riley. Caspar Shaller von der taz ficht dieser Widerspruch nicht an, er freut sich darüber, "dass ein linker Kulturmacher eine große Bühne bekommt. Und es geht dann auch um die ganz großen Dinge: Rassismus, Kapitalismus, Polizeistaat, Liebe, supersize Burger." Auch der Protagonist, ein fünf Meter großer schwarzer Junge, der die "Abgründe, die sich im Leben der Schwarzen Arbeiterklasse auftun", erkundet, ist definitiv supersize. "Riley verwebt dabei gekonnt Mietrechtskämpfe, die horrenden Kosten des US-Gesundheitssystems oder die schwierige Entscheidung, zwischen legal wenig oder gesetzeswidrig bisschen mehr Knete zu machen, mit der Geschichte einiger hipper junger Leute, die durch die Stadt turnen. Sogar Monologe über Kommunismus und warum der cool ist, sind relativ harmonisch in die Szenen eingebettet."

Auch Arabella Wintermayr staunt auf ZeitOnline: "So eine allumfassende Systemkritik" hat es bei den Streamern noch nicht gegeben. Doch leider verzettele sich Riley in Nebenschauplätzen. Erst am Ende gelingt es ihm, "seine großen Ideen in einem noch größeren Ganzen aufgehen zu lassen. Und sei es nur durch einen wenig galant eingeflochtenen Monolog einer Aktivistin", der "auch in einem Marx-Lesebuch stehen könnte. Einer, der dafür aber umso effektvoller inszeniert ist und direkt einer Brecht-Aufführung entlehnt sein könnte."

Besprochen werden Christoph Hochhäuslers Thriller "Bis ans Ende der Nacht" (SZ, mehr dazu bereits hier), die zweite Staffel der "Sex and the City"-Nachfolgeserie "And Just Like That" (Tsp, Welt), der Pixar-Film "Elementals" (Standard, Welt), die auf Netflix gezeigte Polizeiserie "Schlafende Hunde" mit Max Riemelt (FAZ), die TrueCrime-Serie "Das Licht im Flur" (Tsp), Franck Duboscs Komödie "Die Rumba-Therapie" (SZ) und Maryam Keshavarz' "The Persian Version", der heute das Filmfest München eröffnet (SZ).
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Kunst

Die Konferenz von Bandung 1955 war für Dekolonialisierungsbestrebungen entscheidend. Dass ihr der Berliner Martin-Gropius-Bau mit "Spectres of Bandung" eine von Philippe Pirotte kuratierte Ausstellung widmen wollte, findet Katrin Sohns im Tagesspiegel eigentlich sehr gut. Dass die Verantwortlichen Matthias Pees und Jenny Schlenzka die Ausstellung jetzt erst einmal verschoben haben, kann sie nach der Documenta-Debatte zwar nachvollziehen - "zu präsent ist die Angst vor einer weiteren Eskalation" -, aber ein bisschen kleinmütig kommt ihr das doch vor: Bei der Documenta sei der Kontrollverlust durch das große Kuratorenkollektiv vorprogrammiert gewesen. Die geplante Ausstellung im Gropius-Bau, meint sie, wird jedoch "von einem dreiköpfigen Kuratorenteam konzipiert, zwei von ihnen haben in Deutschland gelebt. Alle drei haben die Debatte um die Documenta eng verfolgt. ... Pirotte und seine beiden Mitstreiterinnen werden nicht leichtfertig an dem Konzept der Ausstellung festgehalten haben. Vielmehr werden sie, gerade nach dieser Eskalation, dieses mit viel Sorgfalt weiterentwickelt haben, wahrscheinlich getragen von der Hoffnung, das Narrativ und den Blick wieder etwas zu weiten, vielleicht sogar die verhärteten Fronten aufzubrechen."

Sorry. Foto: Joanna Rajkowska.


"Sorry" von Joanna Rajkowska ist ein echtes Ereignis, meint Uwe Rada in der taz: Die Betonmauern, die das titelgebende Wort bilden, sind zunächst in Poznan aufgestellt gewesen und kommen jetzt nach Frankfurt/Oder, um den "irritierenden Raum zwischen Entschuldigung und Wegschauen" auszuloten, der sich in Grenzregionen öffnet. Diese Installation zwingt dazu, sich mit dem Schicksal all jener zu befassen, die die Grenzen und Hindernisse nicht überwinden können, so Rada: "Tatsächlich waren es die unmenschlichen Szenen an der polnischen Grenze zu Belarus, die Joanna Rajkowska zu ihrem Kunstwerk bewegt haben: Der Bau eines Grenzzauns, die Pushbacks, die Verzweiflung der Migrantinnen und Migranten, die zum Spielball des belarussischen Diktators Lukaschenko und des EU-Grenzschutzes wurden. 'Sorry' wurde aus dem Gefühl geboren, dass wir als Gesellschaft seit der Zeit des Holocaust keinen schwierigeren Moment hinsichtlich unserer Verantwortung und Solidarität durchlebt haben', schreibt Rajkowska auf ihrer Website."

Valie Export: Asemie. Die Unfähigkeit, sich durch Mienenspiel ausdrücken zu können. Bildrechte: Valie Export.


Dass es auch bei einer der wichtigsten Gegenwartskünstlerinnen Österreichs, Valie Export, und ihrem Werk noch Neues zu entdecken gibt, kann Katharina Rustler vom Standard in der ersten großen Soloausstellung der Künstlerin in der Wiener Albertina sehen. Radikal körperlich wirken die Exponate auf sie: "Darin steht der weibliche Körper im Zentrum, den Valie Export in vielen ihrer Werke als Leinwand, Repräsentationsfläche und künstlerisches Mittel nutzte. Sie schrieb ihn in den öffentlichen Raum ein, lieferte ihn fremdem Publikum aus und fügte ihm bewusst Schmerzen zu." Besonders im Gedächtnis bleibt die Performance "Asemie", dabei "überzog Export 1973 zuerst einen Kanarienvogel mit heißem Wachs und anschließend ihre eigenen Hände und Füße. Mit einem Messer im Mund konnte sie sich aus dem festgewordenen Material befreien"

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Plastic World" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle (taz, FAZ) und Franco Tripolis "Pittura e Sculptura" in der Frankfurter Westend Galerie (FAZ).
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Literatur

Der Standard dokumentiert Klaus Kastbergers Laudatio auf den Schriftsteller Clemens J. Setz, der mit dem Franz-Nabl-Preis der Stadt Graz ausgezeichnet wurde. Setz verfolge "ein Programm der literarischen Innovation": Kaum hat er eine Form, einen Modus, eine Ästhetik gefunden, bastelt er schon an der nächsten. "Manchmal wird eine Art der Beiläufigkeit wie bei der kanadischen Erzählerin Alice Munro angestrebt, dann wieder greift Setz zu plakativen Tönen und eine Art von Weirdness macht sich breit, die mittlerweile auch schon für ein Markenzeichen des Autors gehalten wird." Eine Konstante gibt es aber doch: "Hohlwelten, Blasen, Sphären, der tröstliche Charakter von runden Dingen, das Eindringen in Dinge bis hin zu der Vorstellung, dass man in ihnen wohnen kann, all dies spielt im Gesamtwerk des Autors eine entscheidende Rolle. ... Trägt die Menschheit die Sucht nach der Kugel etwa in ihrem genetischen Programm? Bei Clemens J. Setz wird der Mensch diese Sehnsucht jedenfalls nicht mehr los."

Außerdem: Willi Winkler schreibt in der SZ über T.C. Boyles auf Twitter geäußertes Erstaunen darüber, dass auf seiner Lesereise in Deutschland jeder Zug der Deutschen Bahn Verspätung hatte. Besprochen werden unter anderem Sigrid Damms Essayband "Alle Wege offen" (FR), Florian Havemanns "Bankrott" (online nachgereicht von der FAZ), Yukio Mishimas "Sonne und Stahl" (Welt), Kate Beatos Comic "Ducks" (SZ) und der Briefwechsel Ludwig Wittgensteins mit Ben Richards (FAZ).
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Bühne

Marlene Monteiro Freitas: Idiota. © Bea Borgers


"Idiota" ist eine Ein-Personen-Show, bei der sich die Choreografin und Performerin Marlene Monteiro Freitas auf den Berliner Festspielen in die Büchse der Pandora zwängt. Diverse Rollen nimmt sie dabei in Anlehnung an antike Mythen ein, verrät Nachtkritikerin Elena Philipp. "Mal sind die Augen der kapverdischen Choreographin und Performerin voll Schreck aufgerissen, dann klafft der Mund, im Schrei erstarrt. Auf Agonie folgt Arroganz, auf Genuss das Grauen." Idiota "hat kein Geschlecht, sie hat keine fixierte Identität, sondern ist offen für den gestaltenden Zugriff ihrer Schöpferin. Ein fluides Werkstück. Wie Pandora, die vom Götter-Schmied Hephaistos aus Lehm geschaffen wurde. Idiotas Auftrag: Sich auf der Suche nach der Hoffnung dem Menschsein in all seinen Facetten aussetzen."

Beim feministischen HAU-Festival "Protagonistas!" lässt sich Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung von Marina Oteros Videobotschaft "Fuck Me" verstören: "In seiner einnehmend-abstoßenden Wirkung ist 'Fuck me' ein mutiges, komplexes Kunstwerk, das verunsichert und wehtut, über den Fetisch von Macht, Leistung, Geschlechterhierarchie, Gewalt und Freiheit nachdenken lässt, das einem das eigene bürgerliche Leben auf eine Weise um die Ohren haut." Das lenkt ihn aber nicht von einer Aktion der israelisch-palästinensischen Künstlerin Himmat Zoubi ab: In deren Performance "bleibt ein Plattencover der schwedisch-palästinensischen Band Kofia sichtbar, die in den Siebzigern mit antizionistischen Liedern von sich reden machte, in denen zur Zerschlagung und Vernichtung des Zionismus aufgerufen wird, in denen Steine und Raketen des palästinensischen Befreiungskampfes besungen werden. Was soll das heißen? Ist der Hamas-Terror jetzt auch eine feministische Sektion?"

Weiteres: Die Dresden Frankfurt Dance Company hat mit Ioannis Mandafounis einen neuen Chef, melden FR und FAZ. Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Arne Gieshoffs Oper "Bär:in", inszeniert von Franziska Angerer an der Deutschen Oper Berlin (Tsp), Verdis "Aida" in der Arena von Verona (Welt) und die Choreografie "Möbius" der Compagnie XY am Staatstheater Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne

Musik

257 CDs, acht DVDs, ein Hardcover-Buch, ein stattlicher dreistelliger Anschaffungspreis: Ein "Irrsinn" ist die Box, die zum 90. Geburtstag von Claudio Abbado dessen für die Deutsche Grammophon, Decca und Philips entstandenen Aufnahmen bündelt, ruft Reinhard Brembeck in der SZ. Aber sie bietet eben auch die Möglichkeit, sich tief ins Werk des vor neun Jahren verstorbenen Dirigenten zu versenken: "Alles ist lebendig - gibt es einen anderen Dirigenten, von dessen Aufnahmen sich das sonst noch sagen ließe? Abbado bringt immer ein sympathisches Drängen ein, er ist leidenschaftlich bis explosiv, genauso aber verliebt in magische Momente und Zaubereien." Er "kennt kein schwermütiges Brüten, kein Gründeln im Weltenschlamm. Er verleiht den Klängen verblüffende Farben. Nie verliert er sich in abstrakten Klangspielereien. Nie hat ein Dirigent den Eindruck solch einer Natürlichkeit erweckt, Abbado dirigiert, als gäbe es keine Partitur, als würde die Musik direkt in ihm entstehen und einfach nur ins Draußen strömen."

Besprochen werden Beyoncés Konzert in Hamburg (taz), Jens Balzers Buch "No Limit" über die Popkultur und Mentalitätsgeschichte der Neunziger (Tsp, TA), Laura Martis Jazzalbum "Africa - Tribute to Lars Danielsson" (taz), der Band "Wie der Punk nach Hannover kam" (taz), ein Abend mit Deichkind in Wien (Standard), Bruce Springsteens Auftritt in Düsseldorf (FAZ, SZ), das Berliner Gastspiel von Kristian Järvi und seinem Baltic Sea Philharmonic (Tsp), Lionel Richie live in Wiesbaden (FR), das von Achim Zimmermann dirigierte Jubiläumskonzert der Berliner Singakademie zum 60-jährigen Bestehen (Tsp), ein neues Album von Sleep Token (FR), der Band "Magnetizdat DDR" über die Kassettenszene der DDR (SZ) und Janelle Monáes Album "The Age of Pleasure" (NZZ). Hier das sittsame Video zu ihrem Song "Lipstick Lover" (die offizielle Variante hat eine Altersfreigabe und ist nicht einbindbar).

Archiv: Musik