Efeu - Die Kulturrundschau

Dann schrumpft halt mal

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12.07.2023. Das Programm der Berlinale wird weiter gedeckelt, ließ die Festivalleitung gestern verlauten. Wieso lässt die Kulturpolitik das Festival so im Regen stehen, fragt sich der Tagesspiegel. Die FR wird von der weltlichen Inbrunst der Musik in Calixto Bieitos Inszenierung von Händels "La Resurezzione" mitgerissen. Die FAZ lässt sich von der subtilen Unheimlichkeit in Ralph Gibsons Fotografien in surreale Welten entführen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.07.2023 finden Sie hier

Film

Unter Dieter Kosslick zeigte die Berlinale in den letzten Jahren weit über 300 Filme - nun soll das Programm auf 200 gedeckelt werden. Das teilte die Festivalleitung gestern mit. Alle Sektionen werden schmaler - mit Ausnahme des Wettbewerbs (der unter Carlo Chatrian allerdings eh schon an Umfang verloren hat). Daneben werden die Sektionen "Perspektive Deutsches Kino" und Berlinale Series komplett abgeschafft, ihre inhaltlichen Schwerpunkte sollen in die übrigen Sektionen eingehen. "Das ist eine heftige Maßnahme", kommentiert Christiane Peitz im Tagesspiegel. Die Festivalleitung verbreitet Sonnenschein-Optimismus, das Kulturstaatsministerium zeigt sich über die Kürzungen hoch erfreut, legt aber keine Eile an den Tag, eine Nachfolge für die ausscheidende Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek zu finden oder Carlo Chatrians Vertrag zu verlängern. "So fahrlässig ist noch kein:e Amtsvorgänger:in Roths mit dem größten deutschen Kulturevent umgegangen. ... Dann schrumpft halt mal. Es klingt fast zynisch, bedenkt man, wie leidenschaftlich Claudia Roth bei den Berlinale-Eröffnungen für das Kino, das Festival und die Sache des Films geworben hatte. Die Politik lässt die Berlinale im Regen stehen."

Kino-Wucht: Lola Quivorons "Rodeo"

Lola Quivorons Debütspielfilm "Rodeo" spielt im Motorrad-Milieu der Banlieues. Die jugendliche Hauptdarstellerin Julie Ledru entspringt selbst diesem Milieu und ist eine echte Entdeckung, freut sich Andreas Busche im Tagesspiegel: "Man versteht augenblicklich, was die Regisseurin an Ledru, deren finstere Miene beim Röhren der Motoren, im bläulichen Qualm der Abgase, zu leuchten beginnt, begeistert hat. Es ist eine eigene Welt, die Kameramann Raphaël Vandenbussche nicht mit dem sozialrealistischen Gestus der Dardenne-Brüder einfängt; eher schon mit der adrenalinbrausenden Energie der 'Fast and Furious'-Filme." Zwar habe der Film hier und da seine Schwächen: "Die Übergänge von Realismus und Metaphysik sind eigentlich nur plausibel - dann allerdings mit einer Wucht, wie man sie im Kino selten erlebt! -, wenn Quivorons Film sich dem Rausch der Geschwindigkeit, dem Metall der Karosserien und dem Fetisch der Pferdestärken hingibt."

Außerdem: Marius Nobach schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf den Schauspieler Alan Arkin. Besprochen werden Christopher McQuarries neuer "Mission Impossible"-Film mit Tom Cruise (Tsp, FAS, mehr dazu bereits hier) und die auf Netflix gezeigte Krimiserie "Florida Man" (taz).
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Kunst

Ralph Gibson, aus der Serie The Somnambulist, 1970 © Ralph Gibson

FAZ-Kritiker Freddy Langer lässt sich gerne von der subtilen Unheimlichkeit der Fotografien Ralph Gibsons verführen, die die Deichtorhallen Hamburg in der Ausstellung "Ralph Gibson-Secret of Light" zeigen. Vor allem das Frühwerk des Fotografen hat es ihm angetan: "Es ist, als nehme Gibson den Betrachter an die Hand. Komm, lädt er ihn ein. Und dann genügen ihm ein Putzlappen, gegen eine Glasscheibe gedrückt, der blitzend weiße Kragen eines Priesters oder das Gefieder eines Schwans, um einen in eine Welt der Geister mitzunehmen. Dazu isoliert er die Gegenstände oder zerlegt sie in Fragmente. Vieles verschwindet im tiefen Schwarz der Schatten, manches löst sich auf im gleißenden Sonnenlicht, Details gehen im groben Korn des Films verloren. Von Fassaden bleibt nichts übrig als Flächen und Linien, von Menschen nichts außer einem Auge, einem Mund, einer Kurve, denen Gibson in perfekten Kompositionen anrührende grafische Reize entlockt."

Weitere Artikel: taz-Kritikerin Elena Korowin entdeckt auf der Kunstbiennale Freiburg die Straße als "Ort der gesellschaftlichen Reibung und der Subkultur".

Besprochen werden die Ausstellung "Wolken und Licht. Impressionismus in Holland" im Museum Barberini in Potsdam (FAZ), die Ausstellung "Inflation 1923. Krieg, Geld, Trauma" im Historischen Museum Frankfurt (in der taz-Kritiker Rudolph Walter unter anderem Karikaturen von George Grosz, Otto Dix, Käthe Kollwitz und Heinrich Zille bewundert) sowie eine Ausstellung mit Fotografien Steve McCurrys im Wiener Semperdepot (Standard).
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Musik

Julian Weber (taz) und Ueli Bernays (NZZ) resümieren das Jazzfestival Montreux. Matthias Niederberger porträtiert in der NZZ die Schweizer Rapperin Cachita, die gegen den Sexismus in der Szene aufsteht. Jan Brachmann resümiert in der FAZ die Europäischen Wochen Passau. Nachrufe auf den Jazzmusiker Ernst-Ludwig Petrowsky schreiben Wolfgang Sandner (FAZ.net), Gregor Dotzauer (Tsp) und Andrian Kreye (SZ). Besprochen werden PJ Harveys neues Album (Tsp, mehr dazu hier) und eine Netflix-Doku über Wham (Standard).
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Literatur

Die Schriftsteller Christopher Golden und Richard Kadrey sowie die Komikerin Sarah Silverman verklagen OpenAI, weil die Firma unter anderem auch ihre Bücher genutzt hat, um eine KI zu trainieren, berichtet Andrian Kreye in der SZ. Die Anwälte der drei haben etwa herausgefunden, wie die KI-Firmen "urheberrechtlich geschützte Bücher in die Trainingsdaten ihrer künstlichen Intelligenzen bekommen. Da geht es um die sogenannten shadow libraries, die Schattenbibliotheken. Das klingt nach 'Harry Potter'- oder 'Krabat'-Fantasy. Das sind aber letztlich nur illegale Datenbanken, die Tausende Bücher digital zugänglich machen. ... . Die Kanzlei errechnete, dass in den Datensätzen Books1 rund 63 000 Bücher, in Books2 rund 294 000 Titel enthalten sein müssen. Erstere stammen vermutlich aus dem Projekt Gutenberg, zweitere aus einer der großen Schattenbibliotheken."

Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Roman Bucheli zeigt sich in der NZZ schwer getroffen von Hanif Kureishis Twitter-Tagebuch seiner Lähmung infolge eines Sturzes (mehr dazu hier). Die Schriftstellerin Sabine Scholl fragt sich auf ZeitOnline, zu welcher Klasse sie als Sozialaufsteigerin nun gehört. Claudius Seidl erzählt in der FAZ von seiner Lektüre von Robert Graves' "I, Claudius" auf der Insel Capri, die für das imperiale Ränkespiel gerade die passende Kulisse abgibt. Die Zeit veröffentlicht eine Kurzgeschichte von Jaroslav Rudiš.

Besprochen werden unter anderem Thomas Böhms "Die Wunderkammer des Lesens" (FR), Lukas Bärfuss' "Die Krume Brot" (online nachgereicht von der FAZ) und Verena Keßlers "Eva" (FAZ).
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Bühne

Szene aus "La Resurrezione" im Schlosstheater Schwetzingen. Foto:Christian Kleiner.

FR-Kritikerin Judith von Sternburg hat eine sehr weltliche Aufführung von Händels frühem Oratorium "La Resurezzione" im Schlosstheater Schwetzingen gesehen. Die "assoziativen Rätselbilder", die Calixto Bieito für das Nationaltheater Mannheim auf die Bühne bringt, sind Geschmackssache, meint Sternburg. Die musikalische Gestaltung hingegen ist "über jeden Zweifel erhaben", freut sie sich: "Wolfgang Katschner dirigiert als Spezialist und lässt das kompakte Ensemble aus dem Orchester des Nationaltheaters farbenreich agieren. Quer- und Blockflöte einstimmig spielen zu lassen, ist so ein harmloser Einfall und so wirkungsvoll. Drei Solistinnen und zwei Solisten füllen mit großen Opernstimmen das kleine Theater mit weltlicher Inbrunst, ohne den Raum zu sprengen. Sie benutzen ihn aber komplett, vor allem der Engel ist nicht auf die Bühne angewiesen: Amelia Scicolone, die ein wirklich unverschämter, nachher auch durchaus blutrünstiger Engel ist und schon mit ihrer Auftrittsarie die Latte hochhängt. Immense Vehemenz und Beweglichkeit treffen in ihrem Sopran aufeinander, das aggressiv energiebündelige ihres Auftritts lässt einen nicht an Gott, aber an die fabelhafte Ausbildung junger Sängerinnen und Sänger glauben. Patrick Zielke als Luzifer ist ein Kraftbolzen und irgendwo auch gutmütiger Kerl - bezwingt Scicoline ihn wirklich oder lässt er sich bloß bezwingen -, aber auch sein gemächlich schwingender Bass kann bei Bedarf an Tempo gewinnen. Auf den zweiten Blick ist nichts Derbes an ihm."

In der FAZ fragt sich Wiebke Hüster, in welcher Welt der Ballettdirektor John Neumeier eigentlich lebt: Laut Berichten in russischen Zeitungen soll er einen Vertrag mit dem Bolschoi-Ballett über die Aufführungsrechte für sein Ballett "Die Kameliendame" verlängert haben. Während andere Choreografen wie Alexei Ratmansky die Zusammenarbeit nach dem Überfall auf die Ukraine sofort beendeten - jedoch gegen ihren Willen und ohne Nennung ihres Namens in Moskau weiter aufgeführt werden - scheint Neumeier diese Wirklichkeit konsequent zu ignorieren, kritisiert Hüster.

Weiteres: Welt-Kritiker Manuel Brug hat beim Festival Aix-en-Provence bisher sechs hervorragende Opernpremieren erlebt und gibt einen Überblick. Tagesspiegel-Kritiker Eberhard Spreng sah beim Theaterfestival in Avignon vor allem politische Stücke.
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