Efeu - Die Kulturrundschau

Im Wahnsinn verlöschendes Ich

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17.07.2023. Die FAZ staunt über die Selbstberauschung russischer Z-Dichter, die im Fernsehen und in Konzertsälen von einem Großrussland delirieren. In der FAS will Ronya Othmann raus aus dem Knast von Zuschreibungen im Rahmen der Diversität. Hyperallergic überlegt, wie eine wirklich kritische Picasso-Ausstellung aussehen könnte. SZ und nmz sind hingerissen von Händels Oper "Semele", die Claus Guth in München als "Girlie-Macho-Story" inszenierte. Die Filmkritiker trauern um den Freigeist Jane Birkin.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.07.2023 finden Sie hier

Film

Die Feuilletons trauern um Jane Birkin. Frankreich hatte die Britin begeistert als eine der ihren adoptiert: Paul Quinio würdigt sie in Liberation als Freigeist. Mit ihren Filmen und Platten hat sie "wie kaum eine andere die englischen Sechziger- und die französischen Siebzigerjahre geprägt", schreibt David Steinitz in der SZ. Birkin begann im britischen Kino, reüssierte aber im französischen Kino: "Das europäische Kino war in den Sechziger- und Siebzigerjahren deutlich durchlässiger als heute, Regisseure, Autoren und Schauspieler wechselten die Länder und Sprachen mit einem lockeren Selbstverständnis." Ihr Image als Sexsymbol und Anhängsel von Serge Gainsbourg tut Birkin unrecht, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. Sie war nicht so sehr Muse als vielmehr Kollaborateurin, wie sich in den Filmen feststellen lässt, die sie mit Agnes Varda drehte: "'Jane B. par Agnès V.' ist nur nominell ein filmisches Porträt über Birkin, die Schauspielerin ist genauso Autorin wie die Regisseurin zur Darstellerin ihrer eigenen Hommage wird. Bei ihrer Vertrauten Varda darf sie sich die Rollen, die sie schon immer einmal spielen wollte, aussuchen - von Tarzans Jane bis zu Joan d'Arc. Birkin, gerade 40 geworden, legt ihre Wünsche und Unsicherheit in diesem Film offen, beschützt und geführt von Varda. Zwei Frauen, die das französische Kino, aber auch das Bild von Frauen jede auf ihre Weise geprägt haben." Auch Andreas Kilb hebt in der FAZ ihre Kollaborationen im französischen Autorenkino hervor: "Einer der wenigen Regisseure in ihrer Wahlheimat Frankreich, der ihr Talent zu Zwischentönen der Trauer wie des Überschwangs erkannte, war Jacques Rivette. Die Schauspielerin Emily in 'Theater der Liebe', die am Widerspruch zwischen Kunst und Leben zerbricht, und die Gefährtin des Malers Frenhofer alias Michel Piccoli in Rivettes 'Die schöne Querulantin' gehören zu ihren besten Figuren."

Auf Birkins größten musikalischen Hit, "Je t'aime (moi non plus)" mit Serge Gainsbourg, kommen die meisten Nachrufe eher etwas verlegen am Rande zu sprechen. Eine sexuell lasziv klingende Frau scheint auch heute noch zu überfordern, in den Sechzigern war sie erst recht ein Skandal. Dabei handelt es sich bei dem Stück um einen "signifikanten Moment der Kulturgeschichte", erinnert Samir H. Köck in der Presse. "Die Heftigkeit des Birkinschen Stöhnens empörte nicht nur Papst Paul VI., sondern vor allem auch die Sendeverantwortlichen vieler Radios. Dabei wurde das Lied von Freund und Feind missverstanden. Es war nicht als Hymne zur sexuellen Befreiung gedacht, sondern thematisierte die Unfähigkeit zur körperlichen Liebe. 'L'amour physique est sans issue', hieß es darin." Weitere Nachrufe in taz und NZZ, ZeitOnline bringt eine Bilderstrecke. Birkin selbst habe über den Erfolg ihres bekanntesten Songs in späteren Jahren im übrigen wohl sehr geseufzt, schreibt Mara Delius in der Welt: "Vor Jahren beklagte sie in einem Interview, dass vollkommen klar sei, welcher Song zu ihren Ehren gespielt werden würde, wenn sie tot sei." Wir erinnern an sie mit dem großartigen Konzeptalbum "Histoire de Melody Nelson" von 1971:



Außerdem: Daniel Kothenschulte gibt in der FR eine Wasserstandsmeldung vom Doppel-Streik in Hollywood. Marion Löhndorf berichtet in der NZZ vom Prozess gegen Kevin Spacey. Elke Wittich stöbert für die Jungle World in alten Filmzeitschriften, was im Jahr 1913 die Filmbranche bewegt hat. Besprochen wird Claire Denis' "Mit Liebe und Entschlossenheit" (FAZ).
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Literatur

Der in Moskau lebende Schriftsteller Igor Saweljew gestattet in der FAZ einen Blick in die "Z-Dichtung", also russische Propaganda-Lyrik, die sich was von Großrussland träumt. Diese ist zwar "marginal, sie gebärdet sich aber als Mainstream. Die Staatspropaganda stellt die Z-Dichter als die wichtigste und offizielle Strömung der russischen Literatur hin wie einst die Sozialistisch-Realistischen Schriftsteller in der Sowjetunion und der DDR. Die Z-Dichter treten im Fernsehen und in Konzertsälen auf, ihre Bücher werden mit beispiellosen staatlichen Mitteln gefördert." Beeindruckend findet Saweljew "ihre Selbstberauschung durch ihre Macht und ihren Einfluss. ... Durch Denunziationen haben sie erreicht, dass der Dichter Vitali Puchanow, der sich gegen den Krieg geäußert hatte, aus der Jury des Literaturpreises Lizej ausgeschlossen, und dass seine Lesung abgesagt wurde. Unsere Zeit ist gekommen, liest man bei ihnen, das Fernsehen, die Presse, die Vortragssäle gehören uns, unsere Widersacher (das sind nicht unbedingt Kriegsgegner, aber Literaten, die bisher im Rampenlicht standen) werden wir pulverisieren, aus der Kultur, vielleicht sogar aus dem Land vertreiben. Es ist eine Rhetorik der Machtergreifung."

Ronya
Othmann platzt in der FAS der Kragen, wenn es um Diversität (nicht nur) im Literaturbetrieb geht: Was gut gemeint ist, entpuppt sich oft als Knast von Zuschreibungen und Ausgrenzungen. "Mal heißt es: 'Sorry, wir haben jetzt doch schon eine Autorin mit Migrationshintergrund auf dem Podium, wir brauchen keine zweite.' Mal erzählt einem ein Kollege, er habe es so viel schwerer als man selbst, schließlich sei er ein weißer heterosexueller Mann und gehöre auch sonst keiner Minderheit an. ... Dann sitzt man mit anderen Kollegen mit sogenanntem Migrations- oder Minderheits-Hintergrund (Bindestrich-Bäh) auf einem Podium. Alle haben in großen Publikumsverlagen publiziert, sind mit Preisen dekoriert und sprechen trotzdem darüber, wie marginalisiert sie seien. Underground, Gegenkultur und so." Und "hinterm Rücken raunt es, man habe diesen Preis ja nur bekommen wegen des sogenannten Bindestrich-Bäh-Hintergrunds; wird darauf hingewiesen, sich angesichts der eigenen Themen (Genozid und Krieg) freuen zu können, so gefragt zu sein. Dieser Zynismus macht einen sprachlos."

Tobias Röther sondiert in der FAS die literarischen Debüts des ersten Halbjahres und stößt auf " Ich-Geschichten, fast überall". Doch zeigt sich: "Dieses 'Ich' im Jahr 2023 ist nicht das von Bleistiftanspitzern, Waldeinsamkeitslauschern oder Innerlichkeitspiloten. Diese neuen Autorinnen und Autoren kommen nicht von Handke, sondern von draußen - und das ist, nach der Pandemie, die als literarische Nebenwirkungen viele klaustrophobische oder introspektive Geschichten hervorbrachte, eine gute Nachricht."

Außerdem: Katja Petrowskaja versenkt sich in der FAS in ein  Bild der bei einem russischen Raketenangriff ums Leben gekommenen Schriftstellerin Victoria Amelina. Der Standard dokumentiert Michael Krügers Dankesrede zur Auszeichnung als Poeta Laureatus des Literaricums Lech. Obendrein gibt es hier beim Standard fünf Gedichte von Krüger. Simon Strauß erzählt in der FAZ von seiner Lektüre von Erhart Kästners "Zeltbuch von Tumilat" auf Rhodos. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen der Lyrikerin Doris Runge zum 80. Geburtstag. Außerdem melden die Agenturen, dass der Comiczeichner Francisco Ibáñez ("Clever & Smart") gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Matthias Dells "Peter Hacks auf der Fenne in Groß Machnow (1974 - 2003)" (Tsp), Amélie Nothombs "Der belgische Konsul" (online nachgereicht von der FAZ), Andrzej Stasiusks "Grenzfahrt" (Standard), Alhierd Bacharevičs "Das letzte Buch von Herrn A." (Standard), Kotaro Isakas Thriller "Suzukis Rache" (online nachgereicht von der FAZ) und neue Hörbücher, darunter Hanns Zischlers Aufnahme von Volker Weidermanns "Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Friederike Reents über Sabine Schos "großer ameisenbär":

"ein leiser zahnarmer a-
meisen in seinem
bauch, ich sah den ..."
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Musik

Oliver Teipel schreibt in der taz einen Nachruf auf die aus Grateful Dead hervorgegangene Band Dead and Company, die gestern ihr allerletztes Konzert gespielt hat. Besprochen werden das Auftaktkonzert der Tour der Toten Hosen mit Gerhard Polt und den Well-Brüdern (taz), ein Konzert der Cellistin Sol Gabetta mit der Staatskapelle Berlin (BLZ, Tsp), ein Konzert von The Weeknd (FR), ein Konzert des Perkussionisten Martin Grubinger in Wiesbaden (FR) sowie ein Konzert von Bruce Liu mit dem Orchestra dell'Accademia Nazionale in Wiesbaden (FR).
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Bühne

Szene aus Händels "Semele" an der Bayerischen Staatsoper. Foto: Monika Rittershaus


Ein Liebesstreit unter griechischen Göttern - das klingt nicht wie ein Stoff, aus dem Theaterereignisse des 21. Jahrhunderts gemacht sind, dachten sich die Kritiker, als sie sich auf den Weg ins Münchner Prinzregententheater machten, um Händels Semi-Opera "Semele" zu sehen. Und dann wurde die Aufführung zu dem Ereignis der Münchner Opernfestspiele: Regisseur Claus Guth hat das ganze einfach als "Girlie-Macho-Story" um eine junge Influenzerin erzählt, berichtet in der nmz ein hingerissener Wolf-Dieter Peter, dem es besonders das Finale angetan hat: "In einem schwarzen Irrgarten steigert sich Semele trotz der von Juno automatenhaft gesteuerten, eindringlich Warnungen singenden Schwester Ino von Nadezhda Karyazina in eine selbstzerstörerische Fixierung von 'Jupiter unbedingt als Mensch' - und da gelang Brenda Rae bewundernswert Anrührendes: dass fabelhafter barocker Ziergesang - lange vor allen medizinischen Erkenntnissen zu 'Schizophrenie', 'Borderline' oder 'manischer Destruktion' - vorführen kann, wie harmonische Gesangslinien zerfallen in Koloratur, virtuose Tonsprünge, fast schon 'unmenschliche' Ton-Läufe als Ausdruck eines zerfallenden, in 'Wahnsinn' verlöschenden Ichs - Felsensteins Ideal des 'Singen-müssenden-Menschen' war faszinierend zu erleben."

Auch Reinhard J. Brembeck ist in der SZ hin und weg von den Sängern ebenso wie von der Inszenierung: "Während Orliński und Spyres, aber auch der von Gianluca Capuano flüssig angeleitete Chor sowie das Orchester der Bayerischen Staatsoper mit Vorliebe auf Handfestes und Publikumsüberwältigung setzen, gibt sich Brenda Rae verhalten, dezent, leise. Der Kontrast zu den Haudraufmännern ist enorm. Erst nach und nach setzen sich die leisen und oft mit halsbrecherischer bis atemloser Rasanz gesungenen Töne Brenda Raes durch, das überwältigt das zuletzt tobende Publikum. Bei Claus Guth, diesem immer in psychologischen Dimensionen denkenden Regisseur, ist Semele als Einzige zerrissen zwischen der ganz in Weiß und Überschwang gehaltenen Menschenwelt und den sexuellen Abgründen, für die die ganz in Schwarz gehaltene Welt Jupiters steht." In der FAZ verteilt Christian Gohlke vorsichtig dosiertes Lob.

Weitere Artikel: Der Münchner Theaterregisseur Jan-Christoph Gockel erzählt in der SZ vom seinem Besuch beim Podil-Theater Kiew. In der FAZ freut sich Wiebke Hüster über den Goldenen Löwen für die Choreografin Simone Forti bei der Biennale Danza in Venedig.

Besprochen werden Giovanni Paisiellos Oper "La Molinara" in Rheinsberg (Tsp), der erste Teil von Carolina Bianchis "Cadela Força"-Trilogie (nachtkritik) und Satoko Ishiharas Puppentheater "Yoroboshi" (FR), beide beim Theater der Welt in Frankfurt und Christian Stückls Inszenierung von Shakespeaers "Julius Caesar"  am Passionstheater (FAZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Ahmed Morsi, "Iraq's Weeping Women II" (2011). Image courtesy the Artist and Kiran Nadar Museum of Art Collection, India
Pablo Picasso, The Weeping Woman, 1937. Location: Tate Modern, London


Das Picasso-Jahr zieht in Berlin fast unbemerkt vorüber. Die Ausstellung "Picasso aus dem Museum Berggruen zu Gast im Bode-Museum" sucht gerade mit bescheidenen Mitteln den "Dialog" zwischen Picassos Werken und anderen spanischen Kunstwerken, berichtet im Tagesspiegel Bernhard Schulz, der sich mehr Aufklärung in der Ausstellung gewünscht hätte. Bei Hyperallergic überlegt Donna Honarpisheh hingegen angesichts einer nur halb gelungenen Ausstellung im Brooklyn Museum, wie man sich "kritisch mit Picassos modernistischen Formen und denen seiner globalen Gesprächspartner auseinandersetzen müsste. Wenn man, wie Edward Said in den 90er Jahren vorschlug, 'kontrapunktisch' lesen muss, um die verdrängten kolonialen Grundlagen des westlichen Kanons zu revidieren - oder sich auf diese miteinander verflochtenen Perspektiven einzustellen - auf welche formalen Innovationen würden wir dann stoßen? Welche Perspektiven auf das Verhältnis der Moderne zu Rasse und Geschlecht könnten wir gewinnen, wenn wir Picasso in ein globales Erbe des Kubismus einordnen? ... Während Europas koloniales Engagement in Picassos Kunst ein verdrängtes Element blieb, eröffnete die Begegnung des Kolonialismus mit anderen Kulturen auch Diskussionen über Andersartigkeit, Gewalt und die Verflechtung kultureller Formen, die von Künstlern außerhalb des weißen, euro-amerikanischen Kanons aufgegriffen wurden. 'Guernica' (1937) zum Beispiel wurde von Künstlern in verschiedenen globalen kulturellen Kontexten zitiert und umgestaltet", so Honarpisheh, die in ihrem Artikel einige dieser Künstler kurz vorstellt.

Weiteres: In der taz gratuliert Martin Conrad der Videokünstlerin Maya Schweizer, die derzeit im Jüdischen Museum in Berlin ausstellt, zum "Dagesh-Kunstpreis". Besprochen werden eine Schau zum 100-jährigen Bestehen des Fördervereins der Hamburger Kunsthalle (taz) und "Beyond Home" mit Werken einer Gruppe feministischer Künstlerinnen aus Afghanistan, Belarus, Irak, Iran, Kurdistan, Libanon, Palästina, Syrien und der Ukraine im Kunstraum Kreuzberg (taz).
Archiv: Kunst