Efeu - Die Kulturrundschau

Ein pinkfarbener Atompilz

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15.07.2023. Beim Streik der Hollywood-Schauspieler gehen nicht etwa Multimillionäre auf die Straße, sondern prekäre Tagelöhner, erkennt die SZ. Im VAN-Magazin erklärt die Festival-Doppelspitze Julia Nikolaevskaya und Vitali Alekseenok, warum sie ihr Musikfestival in Charkiw jetzt erst recht durchgezogen haben: Sie spenden damit Kraft zum Weiterleben. Für Artechock kann es gar nicht genug Blockbuster-Hype im Kino geben. Die FAZ freut sich über revolutionäre Frauenpower im polnischen Musical "1989" über die "Solidarność"-Bewegung.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.07.2023 finden Sie hier

Film

Für Außenstehende mag es absurd wirken, dass die 160.000 Mitglieder der US-Schauspielgewerkschaft in den Streik treten (unser erstes Resümee). Sind da in Hollywood nicht alle Multimillionäre? Denkste, schreiben Jürgen Schmieder und David Steinitz in der SZ: "Die US-Filmindustrie besteht natürlich nicht nur aus dieser kleinen Zahl prominenter Besserverdiener. Sondern auch aus Tausenden weniger bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern, die sich mühsam und oft unter prekären Umständen von Job zu Job hangeln." Hanns-Georg Rodek liefert dazu Zahlen in der Welt: "Der Mindestlohn liegt für Schauspieler bei 1056 Dollar pro Tag. Das Double für einen Star bringt am Abend 214 Dollar nach Hause, Hintergrundakteure (ohne Dialog) 182 Dollar. Von den 160.000 Mitgliedern der Schauspielergewerkschaft SAG-AFTRA fallen mehr als 90 Prozent in diese Tag-für-Tag-Kategorie. Es ist durchaus üblich, dass zwischen ihrer letzten und ihrer nächsten Rolle Wochen oder sogar Monate liegen. Der durchschnittliche Jahresverdienst solcher Schauspieler liegt laut Gewerkschaftsangaben bei 26.276 Dollar."

Wie konnte es eigentlich bis zu dieser historischen Streik-Konstellation kommen? Einen Grund nennt Claudius Seidl in der FAZ: "Es geht um das Geld, das die Studios nicht zu haben behaupten, was daher kommt, dass sie sich mit ihren gigantischen Investitionen in eigene Streamingplattformen so heftig verspekuliert haben, dass jetzt an Gagen, Gehältern und Tantiemen so hart gespart worden ist, dass die Streikbereitschaft kaum noch zu bändigen war." Außerdem erklären Bert Rebhandl (Standard) und Jan Bolliger (TA) die Auswirkungen des Streiks.

Gibt es zu viel Online-Hype um "Barbie" und "Oppenheimer", die kommenden Donnerstag starten? Iwo, findet Rüdiger Suchsland auf Artechock, solche Hypes bräuchte es ganz im Gegenteil sogar viel, viel häufiger: "Hype und Kult und Subjektivismus und irrationale Begeisterung und Vorfreude wie als Kind auf Weihnachten - das ist Kino wirklich." Und tatsächlich, "es ist der Sommer der popkulturellen Riesenspektakel, der Gemeinschaftsbegeisterung von einem Ausmaß, wie man es lange nicht erlebt hat", schreibt Julia Lorenz auf ZeitOnline: "Lange hat sich Popkultur, zumindest im sogenannten Westen, nicht mehr so nach Naturgewalt angefühlt" und "allein das Reden darüber ist ein Motor für viel Kreativität." Dieser "Doppelstart könnte der lauteste Knall des Sommers werden, bizarrerweise zeitgleich zum streikbedingten Shutdown in Hollywood. Ein mächtiger, pinkfarbener Atompilz am Himmel." In der SZ porträtiert David Steinitz außerdem die Regisseurin und Schauspielerin Greta Gerwig: "Sie gehört seit Jahren zu den wichtigsten Independent-Filmemacherinnen Amerikas" und hat nun mit "Barbie" den Sprung ins Blockbuster-Segment geschafft.

Außerdem: Mandoline Rutkowksi berichtet in der Welt aus London von der Gerichtsverhandlung gegen Kevin Spacey. Michèle Binswanger amüsiert sich im Tagesanzeiger über einen prächtigen Bock, den die deutschen Netflix-Übersetzer in den Untertiteln der Tennisdoku "Break Point" geschossen haben: Erfolgssportlerin Serena Williams wird da rustikal zur Ziege erklärt, in beeindruckender Unkenntnis dessen, dass der englische Slangbegriff GOAT ein Akronym für "Greatest of All Time" ist. Besprochen werden die Ausstellung "Ausgeblendet - Eingeblendet. Eine jüdische Filmgeschichte der Bundesrepublik" im Jüdischen Museum in Frankfurt (FR) und die Reality-Serie "The Stallone Family" (FAZ).
Archiv: Film

Bühne

Szene aus dem Musical "1989". Foto: Juliusz-Słowacki-Theater, Krakau.

Ein "großer Wurf" ist dem Autorentrio Mirosław Wlekły, Marcin Napiórkowski und Katarzyna Szyngiera mit dem Musical "1989" gelungen, jubelt Gerhard Gnauck in der FAZ. Diese Koproduktion des Krakauer Słowacki-Theaters und des Danziger Shakespeare-Theaters erzählt die Geschichte der "Solidarność"-Bewegung. Die Protagonisten sind die Aktivisten der Bewegung, so der Kritiker, allen voran Lech Wałęsa und Jacek Kuroń. Außerdem gibt es hier aber auch eine Menge Frauenpower, freut sich Gnauck: "Die Frauen erheben ihre Stimme der Besonnenheit. Aber als das Regime es dem inhaftierten Kuroń verweigert, seine im Sterben liegende Frau ein letztes Mal zu sehen, packt sie der Zorn. Sie präsentieren sich mit einem wilden Tanz: als Töchter nicht verbrannter Hexen, als Amazonen, 'die Hitler und Stalin nicht unterkriegen konnten', als 'die Kraft, die Mauern zum Einsturz bringt'. Die Frauenszenen erhalten den stärksten Beifall."

Wiebke Hüster schreibt in der FAZ einen Nachtrag zu ihrem Artikel über den Direktor des Hamburger Balletts John Neumeier. (Unser Resümee) Dieser veröffentlichte nun eine Stellungnahme, in der er russischen Quellen widerspricht, die berichteten, er habe die Lizenz für sein Ballett "Die Kameliendame" am Bolschoi-Ballett verlängert. Wie es zukünftig für das Theater weitergehen soll, steht in den Sternen, so Hüster: "Bald aber ist in Moskau kein internationales Repertoire mehr vorhanden und alles zerstört, was in den letzten zwei, drei Jahrzehnten aufgebaut wurde. Sollte sich das Bolschoi entschließen, Werke ohne Lizenz zu spielen, also geistiges Eigentum zu stehlen oder wie das Marijnsky-Ballett im Fall Alexei Ratmanskys Werke ohne Nennung des Autors aufzuführen, muss es sich überlegen, wie die Zukunft der größten Ballettcompany der Welt nach Kriegsende wohl aussehen wird. Wie sollte sich eine erneute Zusammenarbeit nach solchen Vertrauensbrüchen gestalten?"

Besprochen werden Meiro Koizumi Inszenierung von "Prometheus Bound" im Rahmen des Festivals Theater der Welt (FR) und Gianluca Falaschis Inszenierung von Nicola Antonio Porporas Oper "L'Angelica" am Staatstheater Mainz (FR).
Archiv: Bühne

Kunst

FAZ-Kritikerin Gina Thomas blickt in der Londoner National Portrait Gallery dem englischen Maler Sir Joshua Reynolds zu seinem 300. Geburtstag ganz genau ins Gesicht. In einer Installation hat die Galerie ein Selbstporträt des Malers seiner "phantasievollen Darstellung des Omai genannten Südseeinsulaners" gegenüber gehängt: "Reynolds setzt subtile Hell-Dunkel-Effekte ein, um jene Elemente zu akzentuieren, die seine Vorstellung von den aktiven und kontemplativen Elementen des Schaffensprozesses untermauern. Zu diesem Zweck lenkt er das Licht auf beide Hände. In der Rechten hält der Maler die Utensilien seines Metiers, die vor die Stirn gehaltene linke Hand weist auf die schöpferische Kraft hin, die er auf der anderen Seite des Raumes mit dem "Omai"-Bildnis so grandios unter Beweis stellt. In dieser Klassismus und Romantik miteinander verschmelzenden Komposition legt Reynolds seine Überzeugung an den Tag, dass die Porträtmalerei sich nicht auf die minuziöse Beschreibung von Besonderheiten fixieren sollte. Ihm ging es vielmehr um das dichterische Vermögen, das Wesen eines Menschen zu erfassen und, wie er es in einer seiner Akademiereden formulierte, den Ausdruck auf Kosten der Ähnlichkeit zu veredeln."

Besprochen wird die Ausstellung "Isa Genzken 75/75" in der Neuen Nationalgalerie Berlin (SZ) und die Ausstellung "Cooking as performance" in der Temporary Gallery in Köln (taz).
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Literatur

In "Bilder und Zeiten" der FAZ verabschieden sich Christian Weise und der Schriftsteller Michael Zeller von der bei einem russischen Raketenangriff gefallenen, ukrainischen Schriftstellerin Victoria Amelina. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Im Literaturfeature für Dlf Kultur befasst sich Margarete Blümel mit der aktuellen australischen Thrillerszene und hat dafür unter anderem mit dem sehr geschätzten Krimiautor Garry Disher gesprochen. Thekla Dannenberg wirft im Dlf-Radioessay einen Blick auf Coming of Age in Literatur und Film. Marta Kijowska läuft für die NZZ die Krakauer Häuser ab, in denen die Literaturnobelpreisträgerin Wislawa Szymborska gelebt hat, die dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre. Roman Bucheli erinnert in der NZZ an die Jahre, die Virginia Woolf mit ihrem Mann in einem Landhaus im Süden Englands verbracht hat. Der Schriftsteller Wolfgang Hegewald erzählt in "Bilder und Zeiten" der FAZ die Geschichte, wie der Italo-Svevo-Preis entstanden ist. Der Schriftsteller Hans Christoph Buch erzählt in "Bilder und Zeiten" der FAZ von seiner Kreuzfahrtreise, bei der er David Foster Wallace' legendären Kreuzfahrt-Essay "Schrecklick amüsant - aber in Zukunft ohne mich" liest, mit dessen übellaunigen Entfremdungsschilderungen er aber zaudert. Die Schriftstellerin Annett Gröschner schreibt auf ZeitOnline über ihre Fahrten mit der Berliner Ringbahn. Herwig Finkeldey schreibt auf Tell einen Nachruf auf Milan Kundera (hier weitere Nachrufe).

Besprochen werden unter anderem Michel Houellebecqs Memoir "Einige Monate in meinem Leben" (taz), Julia Korbik und Julia Bernhards Comic-Biografie über Simone de Beauvoir (taz), Tess Guntys mit dem National Book Award ausgezeichneter Debütroman "Der Kaninchenstall" (Standard) und Marta Kijowskas Biografie über Wislawa Szymborska (NZZ).
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Musik

70 Tage lang KharkivMusicFest - angesichts der russischen Invasion keine Selbstverständlichkeit. Aber "für mich als Programmdirektorin des Festivals war es keine Frage, ob wir das Festival in diesem Jahr machen oder nicht", schreibt Julia Nikolaevskaya in ihrem rückblickenden VAN-Essay. Denn "In der aktuellen Situation ist jedes Konzert in der Ukraine mehr als ein Konzert. Egal, wo es stattfindet - in einem Luftschutzkeller, einem Krankenhaus, einer Schule, einem Freiwilligenzentrum - es ist immer auch eine Art Stärkung. Man fühlt die Schultern der Person neben einem, oft auch den Händedruck. Man fühlt Wärme. Man entdeckt die Menschen, die einen alltäglich umgeben, neu, als wichtige Ressource. Eine Person im Publikum, einen Pianisten, ein Kind, eine Klavierstimmerin, einen Kollegen, eine Passantin, die einem auf der Straße sagt: 'Ihre Konzerte geben uns die Kraft, weiterzuleben.'"

Der Dirigent und künstlerische Leiter Vitali Alekseenok ergänzt in einem zweiten Beitrag: "Aktuell muss das Festival manövrieren zwischen dem Streben nach Normalität und den Gefahren seines Standorts." Das Abschlusskonzert fand im Bunker statt und war getragen vom "Wunsch, die Menschen in Charkiw zu unterstützen, ihnen musikalische Grüße und Solidarität zukommen zu lassen. Es gab stille Musik von Valentin Silvestrov, die sich mit ihrem phantasmagorischen Echo erstaunlich gut in die Akustik des Bunkers einfügte." Zudem "spielten wir eines der beliebtesten Werke von Arvo Pärt, 'Cantus in Memoriam Benjamin Britten'. ... Wegen seiner Dramatik haben wir beschlossen, dieses Werk all jenen Helden zu widmen, denen wir es zu verdanken haben, dass wir an diesem Tag im Zentrum der freien Stadt überhaupt zu einem musikalischen Ereignis zusammenkommen konnten."

Außerdem: Beim Nachwuchsdirigenten-Wettbewerb "Mahler Competition" der Bamberger Symphoniker hat Giuseppe Mengoli gewonnen - verdientermaßen, findet Egbert Tholl in der SZ. Hartmut Welscher spricht für VAN mit Christian Fausch über 40 Jahre Ensemble Modern. Arno Lücker schließt seine auf 250 Lieferungen angelegte VAN-Reihe über Komponistinnen mit einem Beitrag über Hildegard von Bingen ab. Anna Schors beschäftigt sich in einer VAN-Playlist mit unterschiedlichen Interpretationen von Franz Schuberts "Die Schöne Müllerin". Besprochen werden ein Auftritt der Red Hot Chili Peppers (Standard) und das Debüt-Album der Post-Punk-Band House of All, die sich zum Teil aus Mitgliedern von The Fall rekrutiert (Standard).

Archiv: Musik