Efeu - Die Kulturrundschau

Man spürt ihn als Naturgewalt

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03.08.2023. Die SZ hörte, wie Georg Friedrich Haas in Bozen mit Hilfe von 50 Klavieren das Fundament der westlichen Musik zerlegte. Der FAZ fehlt das Mythische nicht mehr in Valentin Schwarz' Ring-Inszenierung in Bayreuth: Hat Wagner nicht ohnehin nur die Krise der spätbürgerlichen Familie mythisch überschminkt? Außerdem freut sie sich über die Wiederentdeckung des unter den Nazis verfemten Designers Paul Jaray, der die schönsten Autos schuf. Der Filmdienst fürchtet marktkonforme Angepasstheit nach der geplanten Reform des Kuratoriums junger deutscher Film. Die Kunstkritiker erinnern an den Pop-Art-Pionier Konrad Klapheck.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.08.2023 finden Sie hier

Musik

Mit seinem in Bozen uraufgeführtem Stück "11.000 Saiten" rechnet Georg Friedrich Haas mit dem Fundament der westlichen Musik ab, schreibt Helmut Mauró in der SZ: Neben einem Orchester beschallen 50 Klaviere den Saal, die überdies stufenweise so verstimmt sind, dass das letzte der Klaviere exakt einen Halbton höher gestimmt ist als das erste - was die Stimmer schier zur Verzweiflung gebracht habe und Haas' These ästhetisch greifbar machen soll, nach der die Naturreihe der Obertöne keine natürliche Sache sei. Zu verkopft? "Am Ende steht ein sehr sinnliches, emphatisches Werk. ... Die üblichen eintrübenden Interferenzen, die zwischen nur beinahe gleich gestimmten Tönen entstehen, sind eliminiert. Damit fällt auch viel Klangfarbe weg, die den typischen Klavierklang ausmacht. An den lautesten Stellen, wenn alle 50 Pianisten in die Tasten hauen, hört man tatsächlich keine Klaviere mehr, sondern eine Mischung aus großen Trommeln und Maschinenlärm, man ist da näher bei Rammstein als bei Mozart. Aber dieser Klavierdonner ist mehr, man hört ihn nicht nur, man spürt ihn als Naturgewalt. Ein Flageolett-Ton vertreibt die Wolken, die große Trommel, das Gewitter erneut, Geigen verbreiten Panik mit einem hohen Halteton wie einst in den Spaghettiwestern."

Ohne größere Aufregungen hat Teodor Currentzis am Montag seinen ersten von vier Auftritten bei den Salzburger Festspielen absolviert. Der halbszenische Abend mit Henry Purcells "Indian Queen" war dank Currentzis insbesondere musikalisch überaus gelungen, hält Christian Wildhagen in der NZZ fest. "Triumphierte hier also die Kunst über die politischen Konflikte unserer Gegenwart - ganz so, wie Currentzis selbst es sehen möchte? Weite Teile des frenetisch applaudierenden Salzburger Publikums sahen dies eindeutig so. Ebenso klar ist aber: Die Fragen rund um mögliche Verstrickungen von Currentzis und sein Stillschweigen zur verbrecherischen Politik Russlands werden nicht aufhören. Und folglich ebenso wenig die damit für den Musikbetrieb verbundenen Probleme. Auch die Festspiele werden sich wegen ihrer Leuchtturm-Funktion für die gesamte Branche in Zukunft mehr dazu einfallen lassen müssen als eine Augen-zu-und-durch-Haltung."

Drei Tänzerinnen aus der Crew der betont body-positiv und feministisch auftretenden Popsängerin Lizzo haben diese verklagt, melden die Agenturen - und zwar ausgerechnet wegen sexueller Bedrängung, rassistischer Beleidigung und Bodyshaming: "Da fällt doch ein mächtiger Schatten auf die gute Frau", kommentiert Christian Schachinger im Standard. Julia Lorenz kommentiert auf ZeitOnline etwas lavierend: "Im Pop gibt es immer Unehrlichkeiten. Der Verstoß gegen eine Moral, die im Fall Lizzo die Musikerin selbst zu ihrem unique selling point gemacht hat, scheint besonders schwer zu wiegen. Dabei ist ein Achtsamkeitspopstar, der im Verdacht steht, andere Frauen zu demütigen, ganz streng genommen auch nicht viel unglaubwürdiger als eine Millionärsrockband wie die Rolling Stones, die mit uralten Hits übers Anders- und Dagegensein die größten Stadien der Welt füllen."

Weitere Artikel: Für das VAN-Magazin spricht Jeffrey Arlo Brown mit dem Komponisten Georges Aperghis. Alexander Gurdon besucht für das VAN-Magazin den Komponisten Krzysztof Meyer, der dieser Tage 80 Jahre alt wird. Beim Metal-Festival in Wacken zeichnen sich unter den in der Anreise begriffenen Fans düstere Gewitterwolken ab, nachdem die Festivalleiter wegen unwetterbedingter Komplettverschlammung des Geländes die Anfahrt mit dem Auto untersagt haben, berichtet Frank Schäfer in der taz. Unterdessen soll ein Teil von Lemmy Kilmisters Asche auf dem Festivalgelände verstreut werden, berichtet Jakob Biazza in der SZ. Annekathrin Kohout denkt auf ZeitOnline über das Verhältnis zwischen Fan-Influencern und Popstars nach. Arne Löffel plaudert in der FR mit dem DJ und Produzenten Olivier Mateu.

Besprochen werden das neue Album von PJ Harvey (Jungle World), ein Salzburger Schumann-Liederabend mit dem Bariton Christian Gerhaher und dem Pianisten Gerold Huber (Standard) und das neue, sanftere Töne anschlagende Album "Love's Holiday" der einstigen Noise-Rock-Abrissbirne Oxbow ("Die Gitarre wird dabei sensationellerweise gezupft", ruft Christian Schachinger im Standard überrascht).

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Literatur

Der Schauspieler Edgar Selge bedankt sich in der Zeit beim letzte Woche gestorbenen Martin Walser (hier und dort unsere Resümees) für dessen Mut zur Kontroverse. Besprochen werden unter anderem Emma Clines "Die Einladung" (Zeit), Emmanuel Carrères Gerichtsreportage "V13. Die Terroranschläge von Paris" (SZ) und Kathrin Rögglas NSU-Roman "Laufendes Verfahren" (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Walser, Martin, Cline, Emma, NSU

Kunst

Konrad Klapheck, She-Dragon, 1964. Bild: WikiArt.org


Der deutsche Pop-Art-Pionier Konrad Klapheck ist gestorben. In der FAZ erinnert Rose-Maria Gropp an einen Künstler, der die Unsterblichkeit der Maschinen suchte und statt desse ihre Vergänglichkeit fand: "Seine - erste - gemalte Schreibmaschine von 1955, mit einem schon verdächtig straff eingespannten, weißen Blatt Papier, hieß noch schlicht 'Schreibmaschine'; da träumte Andy Warhol in New York noch von seinem frühen 'Type writer'. Die Schreibmaschine, unter anderen Geräten, wird in Klaphecks Werk diverse Metamorphosen durchmachen, unter sehr verschiedenen Namen, das zudem. Ein senkrecht gestelltes Bügeleisen heißt 1964 'Der Hausdrachen' ... Die delikate Sinnsuche in seinen Bildern gibt Klapheck sein Alleinstellungsmerkmal. Er ist der Maschinist einer scheinbar unschuldigen Dingwelt, die in ihren Formen so vertraut wie in ihrer Zurichtung unheimlich wirkt." So empfand das wohl immer auch taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller: "Die Dingwelt, die er seit den sechziger Jahren oft monumental ins Bild setzte, mochte zwar dem banalen Alltag entstammen, auffallend oft auch den Arbeitsplätzen der Frauen, als Hausfrau oder Sekretärin. Aber in ihr hallte die militärische Aufrüstung und Ordnungswut des zurückliegenden Nationalsozialismus ebenso nach, wie sie den Wirtschaftswunderzeiten, der Aufrüstung der Haushalte mit Elektrogeräten einen Echoraum baute. Etwas vom Geist der Militarisierung schien sich da eingenistet zu haben, wo genäht und getippt wurde, und das hatte oft auch etwas Unheimliches."

Weiteres: In der FAZ gratuliert Stefan Trinks der südafrikanischen Künstlerin Marlene Dumas zum Siebzigsten. Besprochen werden eine Überblicksschau des Fotografen Arno Fischer im Berliner Haus am Kleistpark (taz), Zeichnungen von Kathrina Karrenberg im Lichtenberger Ausstellungsraum After the Butcher (taz) und die Ausstellung "Gezwitscher. Kunst aus der Vogelperspektive" in der Kunsthalle Wilhelmshaven (taz).
Archiv: Kunst

Design

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Das Berliner Kunstmuseum Dahlem entreißt den von den Nazis einst verfemten Designer Paul Jaray mit einer Ausstellung dem Vergessen, freut sich Karlheinz Lüdeking in der FAZ. Jarays Pionierarbeiten kann man gar nicht genug würdigen - so schuf er unter anderem das moderne Propellerdesign. Doch "besonders folgenreich wirkten Jarays Forschungen beim Design von Automobilen. Bis 1930 sahen Autos noch mehr oder weniger aus wie Kutschen ohne Pferde. ... Die Vorstellung einer Umhüllung des Ganzen drängte sich erst dann auf, als die Autos immer schneller wurden und dabei auf zunehmenden Luftwiderstand stießen. Um ihn zu verringern, bekam das Auto immer stärker abgerundete Karosserien. Das war nicht nur nützlich, sondern auch visuell ansprechend, denn damit zeigte sich das Automobil zum ersten Mal als eine ganzheitliche und in sich geschlossene Einheit. Das Zweckmäßige harmonierte zunächst also noch ganz zwanglos mit dem Ästhetischen, und an dieser Harmonie hat Jaray auch dann noch unbeirrt festgehalten, als er feststellen musste, dass die Mehrheit seiner Zeitgenossen das nicht so sahen wie er."
Archiv: Design

Film

Das ohnehin schon immer schwach ausgestattete Kuratorium junger deutscher Film, einst wichtiger Antriebsmotor für die Genese des Jungen Deutschen Films und dessen insbesondere internationalen Erfolge, soll nach aktueller Debatten-Großwetterlage um die Reform der Filmfördeung zu einem einem weiteren Dienstleister der Filmwirtschaft werden, befürchtet Lars Henrik Gass im Filmdienst: In allen Forderungen und Vorschlagen schimmert die marktkonforme Angepasstheit durch, mit dem Ziel, jetzt aber endlich den wirtschaftlichen Erfolg herbeizufördern. "Kreativität wird als reine Funktion der 'Wirtschaftskraft des deutschen Films' angesehen - nicht nur im In-, sondern auch im Ausland. Doch der deutsche Film war niemals erfolgreicher im Ausland als zu jener fernen kurzen Zeit, wo weitgehend unreglementiertes Denken und Arbeiten möglich war - und selten erfolgreich, wenn die Förderinstitutionen ihr Geld in Projekte steckten, die als besonders wirtschaftlich galten. ... Die Richtung ist klar: Abkehr vom Autorenfilm, von unbequemer, radikaler, gar unverständlicher Subjektivität. Stattdessen müsse 'unsere Branche' und der deutsche Film 'konkurrenz- und zukunftsfähig' werden: - Rückkehr zum Produzentenkino der 1950er-Jahre, selbstverständlich im Stuhlkreis ('Beteiligung von Talenten an der Entscheidungsfindung') 'unter Einbeziehung von Diversitätsstandards'."

Außerdem: Mit sanftem Unverständnis reagiert Claudia Reinhard im Tagesspiegel-Kommentar auf die vom Verband der deutschen Filmkritik aufgestellte Forderung, die Berlinale möge künstlerische Leitung und Geschäftsführung zugunsten der Kunst wieder in einer Person vereinen. Daniel Kothenschulte sorgt sich in der FR um die Kollateralschäden des Hollywood-Doppelstreiks: die zahlreichen Crew-Techniker hinter den Kulissen, die nun nach und nach aus der Krankenkasse zu fallen drohen, weil sie nicht auf die dafür nötigen Arbeitsstunden mehr kommen.

Der aus "The Wire" bekannte Schauspieler Michael Kostroff räumt derweil im Welt-Gespräch mit der Vorstellung auf, dass in Hollywood ja ohnehin alle Schauspieler Millionäre seien - was lediglich für die A-Liste gelte, aber ganz gewiss nicht für Schauspieler seines Rangs. Andreas Scheiner berichtet in der NZZ vom Auftakt des Filmfestivals Locarno. In der taz fragt sich Arabella Wintermayr, warum die Klimakrise so selten Thema in Serien ist. In Japan gibt es wegen des sensiblen Atombomben-Themas noch keinen "Oppenheimer"-Start und auch wegen "Barbie", der dort Mitte August starten soll, gibt es nun Ärger, berichtet Axel Weidemann in der FAZ: Ein japanischer PR-Account von Warner Brothers hatte ein "Barbenheimer"-Meme mit Atombombenthematik und unsensiblem Wording gepostet. Für die SZ plaudert David Steinitz mit dem Schauspieler Simon Schwarz.

Besprochen werden Carine Tardieus "Im Herzen jung" mit Fanny Ardant (FAZ, FR, Tsp, taz, Standard, unsere Kritik), Kôji Shiraishis fürs Heimkino erschienene BDSM-Doku "Safe Word" (Ekkehard Knörer bezeugt in der taz eine "filmische Lust am Befreien") und die Netflix-Serie "Heartstopper" (Tsp, Presse). Außerdem erklärt die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Bühne

Szene aus der "Götterdämmerung" in Bayreuth. Foto: Enrico Narwath


Valentin Schwarz hat noch mal an seiner Bayreuther Ring-Inszenierung gefeilt und das Ergebnis ist vielleicht manchmal etwas trivial, aber jetzt schlüssig, meint Jan Brachmann in der FAZ und antwortet Kritikern gleich auf den Vorwurf, es fehle dieser Inszenierung, die im hier und heute spielen könnte, alles Mythische. Zu fragen wäre doch: "Ist Wagner wirklich mythisch? ... Wie geht der Archaismus zusammen mit dem Parfüm Pariser Salons, das Wagner aus den Klavierstücken seines Schwiegervaters Franz Liszt importierte? Hat Wagner nicht ohnehin nur die Krise der spätbürgerlichen Familie zwischen Lustimperativen und Vertragswerken, zwischen Leistungsdruck und Krankheit, Kunstrausch und Erwerbsdruck mythisch überschminkt? Waren also die 'Buddenbrooks' nicht längst Oper, bevor sie Roman wurden?" Ein dickes Lob geht an den Dirigenten Pietari Inkinen und an die "außerordentlich schön" singenden Sänger.

In der taz gratuliert Joachim Lange Bayreuth-Chefin Katharina Wagner zu diesem Ring: "Künstlerisch riskiert Katharina Wagner eine Menge. Vom eigenwilligen Altstar (Frank Castorf) bis zum jungen, noch unbekannten Regietalent Valentin Schwarz. Dass das nicht jedem gefällt, ist klar", Lange gefiel es. "Nach dem Vorgänger-Ring von Castorf, der das Scheitern großer Utopien bildmächtig durchdekliniert hatte, bricht der Österreicher die Erzählung vom Untergang der Götterwelt beim Kampf um die Macht (für die der Ring steht) konsequent auf Menschenmaß herunter und macht daraus eine Art Familiensaga. Dabei kommen in der Ausstattung von Andrea Cozzi (Bühne) und Andy Besuch (Kostüme) zwar etliche Utensilien, die eigentlich wie der Ring (also das Gold) selbst dazugehören, abhanden. Dafür gibt es zusätzliches Personal und ein eigenes System von optischen Leitmotiven. ... Wer bereit ist, sich auf die Binnenlogik dieser Erzählung einzulassen, wird allemal spannend unterhalten."

Weiteres: Im van Magazin liefert Albrecht Selge Eindrücke aus Bayreuth. Frank Schlößer unterhält sich für die nachtkritik ausführlich mit dem Theatermacher Alejandro Quintana, der nach dem Putsch Pinochets in Chile vor fünfzig Jahren in die DDR flüchtete und dort das Teatro Lautaro in Rostock gründete. Besprochen werden noch der Salzburger "Jedermann" ("Michael Maertens ist der verhaltene Typus, womöglich sogar eine Spur befangen. Man kann das unjedermannisch und langweilig finden. Aber es hat auch etwas sehr Modernes, wie ihm eben doch nicht ganz entgangen ist, dass es auf der Welt Probleme gibt", meint in der FR Judith von Sternburg) und Dmitri Tcherniakovs Bayreuther Inszenierung des "Fliegenden Holländer" mit einem hinreißenden Michael Volle in der Hauptrolle ("Allein schon sein phänomenaler Auftrittsmonolog war atemberaubendes Wagnerglück pur!", ruft Joachim Lange in der nmz)
Archiv: Bühne