Efeu - Die Kulturrundschau

Die Lage ist tatsächlich ernst

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04.08.2023. Jüdische Allgemeine und Jungle World wundern sich über die Verehrung Martin Walsers: Haben denn alle schon die "Moralkeule Auschwitz" vergessen? Der Tagesspiegel freut sich schon auf Ali Ahmadzadehs Film "Critical Zone" beim Filmfestival Locarno, der iranische Regisseur selbst darf nicht anreisen. Die FAZ stellt die pakistanische Architektin Yasmeen Lari vor, die zeigt, dass traditionelles Bauen erstens nicht zwangsläufig von Religion geprägt sein muss und zweitens klimafreundlich ist. SZ und Tagesspiegel fragen, warum die deutschen Bühnen im Sommer alle gleichzeitig Pause machen müssen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.08.2023 finden Sie hier

Film

Zeigt die Ängste junger Menschen im Iran: "Critical Zone"

Der Film des iranischen Regisseurs Ali Ahmadzadeh, "Critical Zone", läuft auf dem Filmfestival Locarno - aber in Abwesenheit des Regisseurs, meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel: Die online vorliegenden Clips aus dem Film versprechen "einen wilden Ritt durch den Underground von Teheran, ein Roadmovie als Momentaufnahme der Wut und der Ängste junger Menschen im Iran. ... Das iranische Sicherheitsministerium hat den 36-jährigen Ahmadzadeh einbestellt, bereits letztes Jahr wurde er festgenommen und saß einige Tage in Haft. Jetzt wurde sein Visum kassiert und man forderte ihn auf, 'Critical Zone' aus dem Locarno-Programm zurückzuziehen. Der Film, ohne Genehmigung und teils mit versteckter Kamera gedreht, wird trotzdem dort laufen. ... Willkür, Schikanen, Festnahmen, es geht immer weiter. Auch mit Drohungen gegen jüngere Filmkünstler, die weniger Schutz durch internationale Bekanntheit genießen." Auch deshalb empfiehlt Peitz dem Berliner Publikum eine aktuelle Open-Air-Kino-Reihe (PDF) mit Filmen aus dem Iran.

Auf Artechock kommt Rüdiger Suchsland auf ein Standard-Gespräch von vor wenigen Tagen mit Annette Hess zu sprechen, die die "Serienblase" als endgültig geplatzt bezeichnet und auch ansonsten in Sachen gescheiterter Serienboom "kein Blatt vor den Mund nimmt", wie sich Suchsland freut. "Die Lage ist tatsächlich ernst, und der aktuelle Streik der Drehbuchautorinnen und Schauspieler in Hollywood wird alles noch etwas schlimmer machen: Sky streicht seine deutschen Fictionproduktionen, Disney kürzt massiv, Paramount verhandelt mit Banken wegen neuer Kredite. Der vielmilliardenschwere Streamingboom, angeblich das Geschäft der Zukunft, ist erst einmal gestoppt. Alles wird schmaler, kleiner, zugleich teurer. Angebote und Plattformen werden ganz verschwinden. 'Der Markt ist gesättigt' heißt das im Kapitalismusdeutsch. Und wenn die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland nicht nur 'Funk', sondern einen Funken Verstand und Kundenverständnis und kreativen Esprit hätten, und klüger wären, als sie sind, dann würden sie längst nicht nur ihr Programm in sogenannten Mediatheken zum Nachgucken anbieten, sondern ... ihre ganzen Mediatheken zu einer großen öffentlich-rechtlichen Megathek zusammenschmeißen".

Weitere Artikel: In der Türkei gibt es Streit zwischen der Rundfunkaufsichtsbehörde und Disney+, weil der US-Konzern eine Serie über Atatürk nun doch nicht produzieren will, meldet Anna Vollmer in der FAZ. In Japan ärgert man sich über die in Sachen Nuklearexplosion arg unsensible Werbekampagne zum "Barbenheimer"-Phänomen, meldet Nadine A. Brügger in der NZZ. Pascal Blum berichtet im Tages-Anzeiger vom Auftakt des Filmfestivals Locarno. Auf Artechock stimmt Rüdiger Suchsland auf das Festival ein. Johanna Adorján spricht für die SZ mit der Schauspielerin Fanny Ardant, die derzeit in Carine Tardieus "Im Herzen jung" (besprochen bei Artechock und bei uns) zu sehen ist. Dass der neue "Indiana Jones"-Blockbuster gefloppt ist, habe vor allem mit dessen "woke" Agenda zu tun, glaubt Jörg Wimalasena in der Welt: Das Publikum wolle einfach keine starken Frauen neben Indiana Jones - dass zumindest in Teil 1 und Teil 2 der Archäologen-Sause nicht minder starke Frauen an Indys Seite stehen, erwähnt er allerdings nicht.

Besprochen werden Sobo Swobodniks Diskurskomödie "Geschlechterkampf - Das Ende des Patriarchats" (Tsp, Artechock), Laura Moras demnächst auf Netflix gezeigtes, kolumbianisches Drama "The Kings of the World" (NZZ), Valentin Merz' "Nachtkatzen" (es geht um "Sprache als eine erogene Zone", stellt Fritz Göttler in der SZ fest), die zwei auf Romanen von Sally Rooney basierendeen Serien "Normal People" und "Conversations with Friends" (FAZ), ein neuer "Teenage Mutant Ninja Turtles"-Film ("extrem charmant und solide", freut sich Juliane Liebert in der SZ) und die auf Arte gezeigte Miniserie "Mein Glückstag" aus Peru (FAZ).
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Literatur

Der Tod von Martin Walser (hier und dort unsere Resümees) beschäftigt die Feuilletons weiter. Benjamin Ortmeyer von der Jüdischen Allgemeinen "reibt sich verwundert die Augen" darüber, dass jene, welche sonst in Sonntagsreden Solidarität mit den jüdischen Gemeinden markieren, sich jetzt auch tief vor Walser verneigen: "Moralkeule Auschwitz" - alles vergessen? "Wer frühere Romane Walsers genau gelesen hat, konnte von der Paulskirchenrede nicht wirklich überrascht sein. Sowohl sein Antiziganismus als auch seine Judenfeindschaft und seine Relativierung der Nazi-Zeit waren schon früh von ihm fixiert worden. Sein autobiografisch konnotierter Roman 'Ein springender Brunnen' sollte ursprünglich heißen: 'Der Eintritt meiner Mutter in die Partei'. Um in ihrer Kneipe das SA-Publikum nicht zu verlieren, trat Walsers Mutter in die Nazi-Partei ein und 'rettete' damit die Familie - eine Heldin also. In diesem Roman wird eine geschichtsrevisionistische Bösartigkeit an die andere gereiht." Klaus Bittermann kommt in der Jungle World zu ähnlichen Schlüssen: "In seinen Romanen hat Walser immer wieder antisemitische Klischees verwendet und dieses Spiel mit antisemitischen Bildern wurde ihm zur Obsession."

Außerdem: In der NZZ schreibt Sergei Gerasimow weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Spannend findet es Andreas Platthaus in der FAZ, wie die neuen, für den Herbst angekündigten Romane von Stephanie Bart, Ilija Trojanow und Deniz Utlu jeweils ihre zeitliche Perspektive verhandeln. Besprochen werden unter anderem die neuen Bücher von Kathrin Röggla und Emmanuel Carrère, die sich jeweils mit historischen Prozessen befassen (Tsp), Plinio Martinis "Nicht Anfang und nicht Ende" (NZZ) und der dritte Band aus Aike Arndts Comicreihe "Gott" (Tsp).
Archiv: Literatur

Bühne

Sollen die Theater ihre Ferien flexibler gestalten?, fragt Christiane Lutz in der SZ im Gespräch mit Akteuren des Theaterbetriebs: "Ist es eigentlich sinnvoll, dass alle Stadt-, Staatstheater und alle Opernhäuser in einem Bundesland gleichzeitig sechs lange Wochen am Stück Sommerpause machen? Vorhang runter, wir sehen uns im Herbst, Tschü-hüss? Oder andersrum gefragt: Wäre es nicht eine gute Idee, die Theater und Opern auch im Sommer spielen zu lassen? Um auch den Urlaubern in der Stadt was zu bieten? Und: Gehört es nicht zur Aufgabe der Theater zu spielen?", fasst sie die Position Olaf Zimmermanns zusammen, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, der daran erinnert, dass deutsche Theater immerhin in hohem Maße subventioniert werden. Ob das Angebot gerade von TouristInnen dann wirklich wahrgenommen wird, stellt die stellvertretende Intendantin des Münchner Residenztheaters, Ingrid Trobitz, in Frage: "Bei 38 Grad geht doch keiner ins Theater, es sei denn, er sucht die Klimatisierung."

Der Tagesspiegel hat eine kleine Umfrage zum Thema gemacht. Die straffen Zeitpläne des Theaters erlauben außer einer größeren Sommerpause kaum Zeit für Erholung, hält beispielsweise Christiane Peitz fest: "Auch zwischen den Jahren und rund um Ostern wird nicht pausiert. Die Freizeit der anderen ist die Hochzeit der Künste: Wer wollte ihnen da die etwas längere Pause verübeln, bis Ende August mindestens der Probenbetrieb wieder losgeht?" Rüdiger Schaper plädiert hingegen für versetzte Ferien: "Immer mehr Berliner bleiben im Sommer in der Stadt, und das wird weiter zunehmen. Wer kann, geht angenehmerweise im Winter oder in der Vorsaison auf Reisen. Was spricht dagegen, dass die Opern versetzt Ferien machen? Dass die Schauspielhäuser sich abwechseln und auch mal zu anderer Zeit pausieren?"

Von der Zusammenarbeit kleiner und großer Tanzkompanien im Rahmen der Initiative "Tanzland" der Bundeskulturstiftung berichtet Dorion Weickmann in der SZ. Sie ist von dem Projekt restlos überzeugt, wie auch der Dirigent Marcus Bosch, den sie zitiert: "Jedes Projekt, das Tanz zu den Menschen bringt, ist ein Gewinn. Wir müssen rausgehen! Nicht nur angesichts einer nachwachsenden Generation, die nicht mehr ohne Weiteres die heiligen Hallen eines Theaters betritt."

Besprochen werden das Lettische Lieder- und Tanzfest in Riga (Welt) und aus Bayreuth "Tannhäuser", der "Fliegende Holländer" (FAZ) sowie der "Ring des Nibelungen" (Standard).
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Musik

Robert Mießner taucht für die taz tief ein in Verästelungen des DDR-Jazz. Thorsten Schmitz und Friedrich Bungert tummeln sich nachts für eine Reportage auf der Seite Drei der SZ am Berliner Alexanderplatz, wo eine Gruppe Jugendlicher, ein paar von ihnen Ausreißer von zuhause, sich regelmäßig trifft, um mangels Geld für Clubs unter dem Fernsehturm gemeinsam K-Pop zu hören und dazu zu tanzen. Besprochen wird die Wiederveröffentlichung des Albums "III" von The Fucking Champs ("diese Stücke ballern ganz ungemein", stellt Benjamin Moldenhauer in der taz zufrieden fest).

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Kunst

Antoine Pesne, Prinz Friedrich Ludwig oder Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen im Gartenwagen mit Friedrich Ludwig (?) © SPSG / Jörg P. Anders

"Der Exotismus ist tief verankert im ästhetischen Programm der repräsentativen Räume", hält tazlerin Katrin Bettina Müller nach ihrem Besuch der Ausstellung "Schlösser. Preußen. Kolonial" im Schloss Charlottenburg fest und ist froh, dass der ägyptische Historiker Hatem Hageb das "schwere Unrecht" hinter den prächtigen Objekten und die "unhinterfragbare Hierarchie zwischen den weißen und den schwarzen Menschen" aufdeckt: "Man merkt seinen Texten den großen Druck an, Aufklärungsarbeit zu leisten, über die Zahlen der versklavten und verschleppten Menschen zu informieren. Was eben in den klassischen kunsthistorischen Interpretationen lange kaum mitgedacht wurde, steht nun im Vordergrund. Das ist auf jeden Fall interessant."

Weiteres: Ingeborg Ruthe betrachtet für die Berliner Zeitung David Hockneys Porträt des Popstars Harry Styles im Biene-Maja-Strickjäckchen und mit Perlenkette. Nina Nevermann stellt in der taz das geplante neue Museum für digitale Kunst in Hamburg vor. Hannes Hintermeier gratuliert in der FAZ dem Münchner Kunstverein zum zweihundertsten Geburtstag. Besprochen wird die Gruppenausstellung "Das große Fressen", die sich auf verschiedene öffentliche Gebäude in Bregenz verteilt (Standard).
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Architektur

Finance and Trade Center in Karatschi. Foto: Marvi Mazhar.

Dass der pakistanischen Architektin Yasmeen Lari nun endlich die gebührende Aufmerksamkeit zukommt, ist für Vera Simone Bader (FAZ) großer Grund zur Freude und Anlass, ihr Werk in den Blick zu nehmen, das auch in einer Werkschau des Architekturzentrums Wien im Fokus steht. Lari interessierte sich immer für nachhaltige und der Öffentlichkeit nützliche Bauten, erzählt Bader, selbst als sie erfolgreich wurde: "Für Lari, die aus einer einflussreichen Familie stammt und in Oxford studiert hat, war das 1989 fertiggestellte Finanz- und Handelszentrum an der Hauptverkehrsachse das erste Großprojekt. Und es war ihre Reaktion auf die Identitätsfrage: Sie verzichtete dezidiert auf islamische Symbole und konzentrierte sich stattdessen auf die Elemente, die ihr als typisch für die Bautradition des Landes erschienen, wie die Inszenierung von geschlossenen, halb offenen und öffentlichen Räumen. Die so entstandenen Höfe und offenen Fußgängerbrücken sorgten für Privatsphäre, bildeten dennoch einen öffentlichen Raum aus und dienten der natürlichen Luftzufuhr. Dafür befestigte sie auf den Dächern zusätzlich Windfänger - kleine Türmchen, die dazu beitragen, mit wenig Energie jenen Teil des Gebäudes herunterzukühlen, der überwiegend aus Glas besteht. Entstanden ist eine ökologisch wegweisende Stadtikone, der weitere Großbauten folgen sollten." Später wandte sich Lari jedoch lieber wieder dem Wohungsbau für die Ärmeren zu und erprobte Bauweisen mit Lehm und Holz.

Besprochen wird außerdem die Ausstellung "Das Kranke(n)haus. Wie Architektur heilen hilft" im Architekturmuseum der TU München (monopol).
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