Efeu - Die Kulturrundschau

Kränkelnde Utopie

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10.08.2023. Wie man Tradition nach vorne bringt, lernt der Standard aus der Essaysammlung "Futuromania" des Popjournalisten Simon Reynolds. Die Filmkritiker gruseln sich in einem Essayfilm von Regina Schilling vor einem pausbäckigen Eduard Zimmermann, der Frauen in "Aktenzeichen XY ungelöst" das Zuhausebleiben empfahl. Die NZZ besucht eine Ausstellung des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medien im chinesischen Shenzhen und findet fast nur "schöne" Werke. In der Welt plädiert der Übersetzer Juri Durkot dafür, Denkmäler russischer Künstler aus ukrainischen Stadtbildern zu verbannen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.08.2023 finden Sie hier

Musik

Simon Reynolds veröffentlicht mit "Futuromania" seine Sammlung von Artikeln aus dreißig Jahren Popjournalismus nun auch auf Deutsch. Spießte er in seinem Abriss "Retromania" noch die Nostalgielust der Popmusik auf, dreht sich in diesen Texten alles darum, wie Popmusik in den guten alten Zeiten noch nach vorne blickte. Eine "Geschichte von Pop als immer frisch upgedateter Entwicklungsroman hinsichtlich technischer Errungenschaften" nennt Standard-Kritiker Christian Schachinger das. "Ob dabei die etwa von Kraftwerk noch verbreitete und schon etwas kränkelnde Utopie einer symbiotischen Zukunft von Mensch und Maschine überwiegt? Alles könnte ja auch in den dystopischen und hyperventilierenden Breakbeats des Drum'n' Bass oder im zäh tektonische Platten verschiebenden Dröhnland der konzeptuellen Dark-Ambient- und Laptop-Apokalypse untergehen. ... Speziell im Bereich der schwarzen Clubmusiken wurde laut Reynolds dank Innovationen wie Sampling oder DJ-Kunst immer schon Tradition nach vorn gedacht, also aufbauend auf möglicherweise überkommenen Gegebenheiten Science-Fiction betrieben."

Außerdem: Für VAN besucht Olivia Giovetti das Jugendorchester Concertgebouworkest Young. Hannes Stein porträtiert in der Welt die Musikmanagerin Tanja Dorn. Jean-Martin Büttner vom Tages-Anzeiger rät den Frauen, die Vorwürfe gegen Till Lindemann erhoben haben, gegen den Rammstein-Sänger vor Gericht zu ziehen. Edo Reents schreibt in der FAZ einen Nachruf auf Robbie Robertson von The Band. Jens-Christian Rabe schreibt in der SZ zum Tod des Singer-Songwriters Sixto Rodriguez, der einem grö0eren Publikum vor einigen Jahren durch den Dokumentarfilm "Searching for Sugar Man" bekannt wurde.

Besprochen werden ein Konzert des Orchestra Baobab (FR) und Keith Jarretts 1994 entstandene Aufnahme von Carl Philipp Emanuel Bachs "Württembergischen Sonaten" ("Die Musik des Bach-Sohnes wird von Keith Jarrett, darf man sagen, zum Juwel erhoben", freut sich Wolfgang Schreiber in der SZ). Wir hören rein:

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Kunst

Matthias Sander hat für die NZZ eine Ausstellung des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medien im chinesischen Shenzhen besucht. Dort gibt es einen Raum, der nur ausgewählten Personen zugänglich ist. Die Kunst dort soll besonders kritisch sein, erfährt Sander, der ziemlich enttäuscht ist, als er in der verbotenen Kammer steht: "Eine große Leinwand zeigte ein Video von Manhattan am 11. September 2001, über der Skyline waberten dunkelgraue Rauchschwaden. Eine Installation bestand aus übereinandergestapelten Käfigen, in denen jeweils eine Schale Plastik-Hundefutter und ein großer Fernsehbildschirm standen. Ein drittes Werk schien so harmlos, dass wir Neugierigen rasch daran vorbeiliefen und es gleich vergaßen. ... Wir fragten den Museumsführer, warum diese Werke separat ausgestellt wurden. Er sagte, das Museum wolle den Besuchern keine 'furchteinflößenden' Werke zumuten, zumal auch Kinder kämen. Die Besucher sollten eine gute Zeit haben, die Kunst solle 'meihao' sein - das lässt sich übersetzen mit 'schön', 'gut' oder 'glücklich'. Der Nebenraum werde deshalb nur Experten gezeigt." Nicht "meihao" ist übrigens auch alles Nackte, erfahren wir.

Weiteres: In München wurde wegen der "wirtschaftlichen Lage" die geplante Kunst am Bau des erweiterten Flughafenterminals 1 gestrichen, meldet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. Im Tagesspiegel ist Bernhard Schulz ganz zufrieden mit dem Urteil zum Bild "Paris-Bar" (unser Resümee), das der Plakatmaler Götz Valien im Auftrag von Martin Kippenberger malte: "Kopf und Hand, im Münchner Gerichtsurteil finden sie endlich wieder zusammen." Gunda Bartels besucht für den Tagesspiegel den Konzeptkünstler Nasan Tur, der gerade in der Berlinischen Galerie ausstellt, in seinem Atelier in Hohenschönhausen. Besprochen werden außerdem die Gruppenausstellung "Words don't go there" im Kunstverein Braunschweig (taz), die Bisky-Ausstellung "Im Freien" im Kunstverein Freunde Aktueller Kunst in Zwickau (BlZ) und die Ausstellung der Fotografien Lee Millers im Bucerius-Forum in Hamburg (NZZ).
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Film

Sie nannten ihn "Ganoven-Ede": True-Crime-Pionier Eduard Zimmermann (ZDF)

Vor wenigen Jahren traf Regina Schilling mit ihrem Essayfilm "Kulenkampfs Schuhe" über die Vermischung von Mentalitäts- und TV-Geschichte einen Nerv und sorgte für viel Gesprächsstoff. Jetzt zeigt das ZDF ihren neuen Essayfilm, "Diese Sendung ist kein Spiel" über Eduard Zimmermanns True-Crime-Klassiker "Aktenzeichen XY ... ungelöst". Erneut geht es um Mentalitätsgeschichte, wie sie sich in der Fernsehstube formierte, schreibt Thomas Groh im Perlentaucher, aber weniger "um die oft kritisierten ethischen Implikationen der Sendung (Ist der Nachbar zuletzt nicht vielleicht doch auffallend häufig abends aus dem Haus gegangen? Ist die Frau aus dem vierten Stock nicht doch auffallend häufig mit unterschiedlichen Männern im Treppenhaus anzutreffen?), sondern um eine neue Kultur der Angst, die mit 'Aktenzeichen XY… ungelöst' in den Stuben Einzug hielt. Plötzlich lebte man nicht mehr in einer trotz gängiger Alltagsprobleme mehr oder weniger kommod eingerichteten Welt ('Haben wir denn noch was zum Anstoßen zuhause?' - 'Eine Flasche Eierlikör müsste noch da sein', heißt es an einer Stelle im Film, ein Zitatschnippsel aus einem 'XY'-Einspieler), sondern in einer Welt, in der an jeder Ecke nicht nur das Verbrechen, sondern gleich das anonyme Böse lauerte: Raub, Gewalt und Mord im Sumpf zwielichtiger Milieus, die sich allerorten unter dem dünnen Firniss kleinbürgerlicher Idyllen zu bilden schienen. Einschalten wird zur Bürgerpflicht wie heutzutage das Teilen greller Schlagzeilen in AfD-lastigen Facebook-Blasen."

Die Sendereihe war im Grunde eine einzige Disziplinierung von Frauen, sich abends besser nicht in Kneipen begeben, sondern Herd und Kinder hüten sollten, beobachtet NZZ-Kritiker Marcel Gyr anhand von Schillings Film: "Auffallend oft brachte 'Ganoven-Ede', wie er alsbald genannt wurde, ein Verbrechen in Zusammenhang mit dem Ausbruch aus dem geordneten bürgerlichen Leben: eine unzufriedene Hausfrau, die ohne Wissen ihres Mannes in den Ausgang geht, oder eine junge Frau, die spätabends per Anhalter nach Hause will, anstatt auf den letzten Bus zu warten. ... In den Gewaltverbrechen, die das Team von Eduard Zimmermann auswählte, war der Täter demgegenüber stets ein unbekannter Fremder. Das Sittlichkeitsverbrechen - das Wort Vergewaltigung gab es in der Sendung lange Zeit nicht - geschah häufig in einem abgelegenen Wald. Dem stellt die Filmemacherin die Kriminalstatistik entgegen, die besagt, dass sich bei der deutlichen Mehrheit von Sexualdelikten das Opfer und der Täter schon zuvor gekannt haben." Im Tagesspiegel bespricht Kurt Sagatz den Film. WDR und Dlf Kultur haben mit der Filmemacherin gesprochen.

Weitere Artikel: FR-Kritiker Daniel Kothenschulte sieht beim Festival in Locarno neue, düstere Filme von Katharina Huber, Lav Diaz und Radu Jude. Dietrich Leder schreibt im Filmdienst über den Kameramann Hoyte van Hoytema, mit dem Christopher Nolan ("Oppenheimer") bevorzugt zusammenarbeitet. Nadine A. Brügger staunt in der NZZ über den aktuellen Überflug von "Barbie"-Regisseurin Greta Gerwig, die aus dem No-Budget-Kino kam und deren aktueller Film nun schon über eine Milliarde Dollar eingespielt hat.

Besprochen werden Celine Songs Liebesfilm "Past Lives", der bei der Berlinale für viel Aufmerksamkeit sorgte (Zeit, Presse), Tian Xiaopengs chinesischer Animationsfilm "Deep Sea" (taz, FR, FAZ), Aslı Özges Nachbarschafts-Paranoiafilm "Black Box" (taz, Tsp, Welt) Robert Rodriguez' Thriller "Hypnotic" mit Ben Affleck (FAZ) und Ed Herzogs neuer Eberhofer-Krimi "Rehragout-Rendezvous" (Tsp).
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Architektur

Der israelische Pavillon bei der Architekturbiennale in Venedig wurde von den Kuratoren Oren Eldar, Edith Kofsky und Hadas Maor in eine Serverfarm umgewandelt, für die die Farm in Bnei Zion Pate stand, entnimmt Sophie Jung (taz) dem Begleitbuch der Ausstellung "cloud-to-ground". Sie stört sich vor allem daran, dass diese Farmen so gesichtslos sind und von privaten Unternehmen betrieben werden. Sie hätte eine andere Idee, mit der sich vielleicht auch einige inzwischen nutzlos gewordene Bauten der Moderne retten ließen: "Das ICC in Berlin, dieser tolle maschinenartige Koloss aus den 1970ern, steht leer, die ostmoderne Robotron-Kantine in Dresden droht abgerissen zu werden. Vielleicht, vielleicht ließen sich doch darin Serverfarmen unterbringen, für alle sichtbar, gefüllt mit den Daten der Stadt und betrieben von der Stadt."

Zum Tod des französischen Architekturhistorikers Jean-Louis Cohen schreiben Bernhard Schulz im Tagesspiegel und Hartmut Frank in der FAZ.
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Stichwörter: ICC

Literatur

Der Übersetzer Juri Durkot bekräftigt in der Welt, dass Tolstoi, Puschkin und Majakowski in ukrainischen Stadtbildern nichts mehr verloren haben - entsprechende Straßennamen und Denkmäler seien ein Ausdruck eines russischen Kolonialismus. "Überall, wo das Imperium auftauchte, hinterließ es seine Namen und seine Denkmäler. Besonders in den Republiken ging es darum, die russisch-sowjetische Herrschaft zu unterstreichen. In Osteuropa war es nicht anders. In diesem Sinne bedeuteten die Puschkin-Denkmäler ungefähr genauso viel wie Lenin-Denkmäler: 'Es ist unser Territorium, hier haben wir das Sagen'. ... Jetzt sollen die Namen der meisten russischen Schriftsteller oder Komponisten aus ukrainischen Städten verschwinden. Einen westlichen Intellektuellen, der an einem sonnigen Nachmittag auf einer Rhein-Terrasse an seinem Wein nippt, mag das befremden. Unter russischem Beschuss oder im Schutzkeller fühlt es sich anders an."

Außerdem: In der Zeit staunt Nils Markwardt darüber, wie deutlich Wladimir Sorokins 2006 in Russland erschienener, 2022 auch auf Deutsch veröffentlichter Science-Fiction-Roman "Der Tag des Opritschniks" die russische Gegenwart beschreibt: Der Autor "zeichnet hier in dystopischer Überspitzung das Bild einer Diktatur, in der sich die sowjetische Überwachungsparanoia mit zaristisch-orthodoxer Herrschaftsfolklore mischt". Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Der Schauspieler Samuel Finzi erzählt Mara Delius von der Literarischen Welt, welche Bücher ihn geprägt haben.

Besprochen werden unter anderem Carsten Gansels Biografie "Ich bin so gierig nach Leben" der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann (Tsp), eine Neuausgabe von Tom Kromers "Warten auf nichts" aus dem Jahr 1935 (taz), Nicola Lagioias "Die Stadt der Lebenden" (SZ) und Alison Bechdels Comic "Das Geheimnis meiner Superkraft" (FAZ).
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