Efeu - Die Kulturrundschau

Es schneite zerrissene Taschentücher

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17.08.2023. Die Zeitungen gratulieren Herta Müller zum Siebzigsten: Die SZ bewundert, wie sich die Literaturnobelpreisträgerin eine sprachmagische Rüstung gegen die Zumutungen der rumänischen Diktatur bastelte. Die Filmkritiker verneigen sich zum Achtzigsten vor Robert de Niro, dem Getriebenen, dem man auch die schwachen Filme der letzten Jahre verzeiht. Die Zeit wünscht sich mehr Parität bei Klassikwettbewerben. Und Hyperallergic erkennt in New York die Morbidität in den Zypressen von Vincent van Gogh.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.08.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Der kaukasische Kreidekreis". Bild: Monika Rittershaus

Mehr als hundert Jahre nach ihrer Gründung findet bei den Salzburger Festspielen erstmals inklusives Theater statt: Helgard Haug inszeniert gemeinsam mit der Gruppe Hora, bestehend aus Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, den "Kaukasischen Kreidekreis" nach Bertolt Brecht. Laut SZ-Kritiker Egbert Tholl "verzettelt" sich der Abend gelegentlich, aber der "ästhetische und emotionale Genuss" überwiegt, meint er: "Wenn man bei der Salzburger Aufführung erlebt, wie Simone Gisler in einem mehr oder weniger freien Extempore die Hochzeit der Grusche mit dem Soldaten Simon imaginiert, herbeifantasiert, in ihrer Erzählung, ihrem Spiel Realität werden lässt, dann glaubt man ihr sofort, dass sie Recht hat, wenn sie sich selbst als die schönste Braut der Welt bezeichnet." "Auch diese Schauspieler sind jetzt Salzburger Festspiele", freut sich Manuel Brug in der Welt nach einem witzigen und bewegenden Abend: "Sogar mit einer Diversitäts-Barbie wird agiert. Und am Ende steht dann plötzlich die von Robin Gilly gestellte Frage, ob die Grusche wohl auch ein Kind genommen hätte, 'das so aussieht wie ich?' Da schluckt aber keiner mehr, da lächelt man eher vergnügt, so charmant haben die Darsteller einen längst umwickelt."

Im Alter von 96 Jahren ist die Operndiva Renata Scotto gestorben. In der Welt erinnert Manuel Brug an die "flammende Aura der italienischen Primadonna alter Schule", deren "herber und prickelnder, anregender und verstörender" aceto balsamico nicht immer gern für Studioaufnahmen genommen wurde: "Die Scotto, die irgendwann auch, mit schönem Erfolg, Regie zu führen begann, war ein Bühnenbiest, selbst im Alter noch in so untypischen Rollen wie der Strauss'schen 'Rosenkavalier' Marschallin, die sie etwa in Catania in sehr viel Geheimnis und weibliche Magie kleidete oder auch als dessen 'Elektra'-Klytemnästra, die klassische Abschiedsrunden-Partie einst bühnenbebender Soprane oder Mezzos." In der SZ schreibt Wolfgang Schreiber. Wir hören noch einmal rein:



Weitere Artikel: In einem großen Zeit-Interview spricht der Theaterregisseur Robert Wilson darüber, wie er mit 27 Jahren einen taubstummen, schwarzen Jungen adoptierte, über die Ignoranz seines Vaters und den Einfluss des japanischen Theaters auf seine Arbeit. Sir John Eliot Gardiner wird Hector Berlioz' vierstündige Oper "Les Troyens" Ende August bei den Salzburger Festspielen und Anfang September beim Musikfest Berlin dirigieren: In der FAZ spricht Gardiner über die Herausforderung, Berlioz zu dirigieren und die Abneigung der Franzosen gegenüber der Musik von Berlioz: "Seine Zeitgenossen fanden den heftigen Ausdruck seiner Fantasie unverständlich; Wagners 'Tannhäuser', in Paris kurz vor 'Les Troyens' aufgeführt, und Verdis 'Rigoletto' waren mehr nach ihrem Geschmack." Im Tagesspiegel kann sich Christiane Tewinkel trotz allen Pomps der Faszination der Bayreuther Festspiele nicht entziehen: "Soziales wird an diesem Ort konsequent abgedrängt. … Kein Opernhaus, eher eine Art Klangkloster, und nirgends lässt sich eine Akustik erleben wie genau hier."

Besprochen werden Georges Aperghis' uraufgeführtes Musiktheater "Die Erdfabrik" bei der Ruhrtriennale (FAZ) und Christoph Marthalers Inszenierung von Verdis "Falstaff" sowie Bohuslav Martinus "Griechische Passion" bei den Salzburger Festspielen (NZZ).
Archiv: Bühne

Musik

Hannah Schmidt wünscht sich in der Zeit mehr Parität bei Klassikwettbewerben - und zwar nicht nur in den Jurys, sondern auch bei den Bewertungskriterien. "Es sind überwiegend deutsche, weiße Besetzungen, die hier die Preise vergeben - und zwar vor allem dafür, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Stücke weißer Männer interpretieren. ... Die Strukturen, die die Zugänge zu den meisten Wettbewerben, ihren Preisen und ihrem Karriereversprechen bestimmen, sind so ungerecht wie bedenklich. Denn sie schließen aus und führen dazu, dass die Musikszene weiter im eigenen Saft köchelt. Allen Bemühungen zum Trotz entsteht beim Vorspiel häufig der Eindruck, die Klassik sei eine weitgehend unschuldige Parallelwelt, in der es in erster Linie um Perfektion und Virtuosität geht."

Außerdem: Moritz Tübbecke erkundigt sich für die Jungle World nach der Lage jener Berliner Clubs, die vom Ausbau der A100 in ihrer Existenz bedroht sind. Besprochen wird das Abschiedskonzert von Devo in Berlin (taz).
Archiv: Musik
Stichwörter: Klassik, Berliner Clubs

Literatur

Herta Müller beim Literaturfest München 2016. Foto: Heike Huslage-Koch unter CC-Lizenz
Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller wird heute 70 Jahre alt. "Die Erfahrung der Diktatur ist Ausgangspunkt und Erfahrungskern in Herta Müllers literarischem Werk", schreibt Lothar Müller in der SZ. In ihrem Herkunftsland Rumänien war sie erheblichen Schikanen ausgesetzt, bevor sie 1987 nach Deutschland auswanderte. Der surrealistische Aspekt ihres Schaffens habe damit zu tun, erklärt Lothar Müller: Er ist "aus der inneren Notwehr gegen die Verhöre hervorgegangen: 'Es schneite zerrissene Taschentücher, der Vogel an der Bushaltestelle ging auf den Händen ins Gras, der Stoppelbart des Vernehmers war aus Erde, das Holz der Erde Möbel im Wind, die Frau im Park aß einen Pfirsich aus ihrer eigenen Gesichtshaut. So fing ich an zu schreiben.' Als eine Miniatur-Poetik dieses Schreibens lässt sich der 2012 entstandene Text 'Das chinesische Glasauge' lesen. Er handelt, im Blick auf mehrere Glasdosen im Schaufenster einer Konditorei in Temeswar in den 1980er-Jahren, vom wahllosen Nebeneinander der Dinge und wie sich daraus im Kopf eine Art sprachmagische Rüstung gegen die Zumutungen der Diktatur basteln lässt."

Die rumänischen Behörden stempelten ihr einst den 29. Februar als Ausreisedatum in den Pass, wohlwissend, dass 1987 kein Schaltjahr war, erzählt Paul Jandl in der NZZ: "Mit dem 29. Februar war die spätere Literaturnobelpreisträgerin noch einmal aus allen Wirklichkeiten gefallen, tief hinunter in eine Welt, in der Buchstaben und Zahlen amtliche Wahrheiten behaupten, aber vor allem eines sind: Lüge. Man wundert sich nicht, dass das Schreiben für Herta Müller bis heute ein paradoxer Vorgang geblieben ist. Jedes Notieren wird auch ein Entziffern. Wo steckt die Lüge in den eigenen Erinnerungen? Wie schreibt man über die Lügen der anderen und die böse schillernde, alle Wahrheiten auf den Kopf stellende Realität der Diktatur? ... Müller hat etwas in die deutschsprachige Literatur gebracht, das einzigartig ist: ein Vertrauen in die Sprache, das ganz aus dem Misstrauen gegenüber den Wörtern kommt. Weil nur die Wachsamkeit beruhigend ist, verzeichnet die Schriftstellerin alles genau." Cornelia Geißler würdigt Müller in der FR für ihr Engagement zum Schutz der Demokratie. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen kurz und knapp.

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Ines Geipel (FAZ) und Marko Martin (Welt) gratulieren dem Lyriker Reiner Kunze zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Ilko-Sascha Kowalczuks Biografie über Walter Ulbricht (taz), Jan Costin Wagners "Einer von den Guten" (FR), Eva Reisingers Debütroman "Männer töten" (Presse), Johannes Willms' Biografie über Ludwig XIV (online nachgereicht von der FAZ), Valery Tscheplanowas "Das Pferd im Brunnen" (Zeit), Maxim Billers "Mama Odessa" (SZ) und Blake Baileys Biografie über Philip Roth (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Robert de Niro in "Cape Fear"
Robert De Niro wird 80 Jahre alt. In seiner Blütephase war er "der größte Filmschauspieler seiner Generation" und sowieso, "ungefähr fünfzehn Jahre lang, der größte Schauspieler des Kinos", schreibt Andreas Kilb in der FAZ. Sein mimisches Repertoire, seinen an den Ressourcen zehrenden Stil hat er sich hart erarbeitet. Nie war das exzessiver zu sehen "als 1991 in Scorseses 'Cape Fear', dem Film, der den Wendepunkt seiner Karriere markiert. Noch einmal wirft er als rachsüchtiger Häftling Max Cady sein ganzes Sein in die Waagschale. Sein Körper ist von oben bis unten mit Bibelsprüchen und Symbolen tätowiert, und am Ende der Geschichte geht er in Flammen auf, bevor er in einem reißenden Fluss versinkt. ... Von da an haushaltet De Niro mit seinen Kräften. Er spart sie sich für die seltenen und kostbaren Gelegenheiten auf, in denen er wieder für Martin Scorsese vor der Kamera steht." Dies sehr zum Kummer von SZ-Kritiker Philipp Bovermann, der in De Niros Spätwerk viele Fehltritte und wenig Ruhmreiches entdeckt: "Nie spielt er ganz schlampig, aus der Fülle einer verdienten Arroganz heraus, nie spannt er die schauspielerischen Muskeln an und sprengt damit Filme, denen ein bisschen Sprengung ganz guttun würde. Die ungeheure Intensität, die er besitzt, zeigt sich in seinen faden Rollen nicht - er geht in ihnen auf und mit ihnen unter." FR-Kritiker Daniel Kothenschulte verzeiht De Niro gerne all die schwachen Filme der letzten Jahre: "Wer immer ihm zu seinem 80. Geburtstag die Hand schütteln wird - ein bedeutenderer Schauspieler als er selbst wird nicht darunter sein."

Im Filmdienst liefert Patrick Holzapfel 80 essayistische Notizen zu De Niros Leinwandpersona: "Was De Niro macht, macht er obsessiv. Er spielt die Getriebenen und Sich-Vernichtenden, die Ehrgeizigen und Übergenauen. Er spielt die, die sich nicht lösen können von ihren schlechten Ideen. Vor allem spielt er auch die Einsamen. Szenen, in denen er alleine ist, wirken oft nachhaltiger als die, in denen er in einer Gruppe ist. ... Die wohl größte Szene dieser Art findet sich gegen Ende von 'Heat', als De Niro es eigentlich bereits geschafft hat und nun zusammen mit seiner Freundin für immer fliehen könnte, um das Land als reicher Mann zu verlassen. Auf der Autofahrt in die scheinbare Freiheit erfährt er jedoch, wo sich ein ehemaliger Kollege, der ihm übel mitgespielt hat, aufhält. Er fährt in einen Tunnel, und auf seinem Gesicht spielt sich die ganze Tragödie einer Prinzipientreue ab. Er ist ganz allein, und er begeht den fatalen Fehler und dreht um. Es ist ihm wichtiger, mit sich selbst im Reinen zu sein als glücklich mit jemandem zusammen." Das britische Filmmagazin Little White Lies wirft in einer Video-Collage Schlaglichter auf De Niros Werk:



Weitere Artikel: Im Tages-Anzeiger spricht Pedro Almodóvar über seinen aktuellen Kurzfilm "Strange Way of Life". Der große Quoten- und Mediatheks-Erfolg des "ARD Sommerkinos" zeige "eben, was dem ARD-Fernsehen fehlt", kommentiert Joachim Huber im Tagesspiegel: "Kinofilme". David Steinitz informiert in der SZ über Social-Media-Turbulenzen rund um ein "Schneewittchen"-Remake von Disney.

Besprochen werden Stefan Westerwelles Kinderfilm "Kannawoniwasein!" (Perlentaucher Jochen Werner reist gerne mit diesem "wundervollen Road Movie durch die in großartigen Kinobildern eingefangenen Weiten der östlichen Bundesländer"), Valeria Bruni Tedeschis "Forever Young" (critic.de, Perlentaucher), Celine Songs Spielfilmdebüt "Past Lives" (taz, FR, FAZ, Perlentaucher) und die DVD-Ausgabe von Emmanuel Mourets "Tagebuch einer französischen Affäre" (taz). Außerdem informiert die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
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Kunst

Vincent van Gogh: "Sternennacht". 1889

Noch eine Van-Gogh-Ausstellung, möchte man zunächst seufzen. Aber das New Yorker Metropolitan Museum of Art konzentriert sich auf einen in der Kunstgeschichte bisher kaum beachteten Aspekt in den Gemälden von Vincent van Gogh: Die symbolische Bedeutung der Zypressen. Vor allem in den Jahren vor seinem Selbstmord malte Van Gogh immer wieder Zypressen, schreibt auf Hyperallergic Daniel Larkin, der dem verdienstvollen Ausstellungskatalog entnimmt, wie intensiv sich Van Gogh in Literatur über die Morbidität der Zypresse vertiefte, etwa in Victor Hugos Gedicht "Les Derniers Bardes". "Weithin als Symbol des Todes verstanden und lange Zeit mit Friedhöfen und dem Makabren in Verbindung gebracht, boten diese Bäume ein künstlerisches Ventil, als van Goghs eigene Sorgen sich vertieften und seine Selbstmordgedanken sich verschlimmerten."

Besprochen wird außerdem eine Ausstellung mit Bildern von Christian August in der Berliner Galerie Burster (Tsp).
Archiv: Kunst