Efeu - Die Kulturrundschau

Schönes und Schreckliches im Stakkato

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09.11.2023. Die SZ taucht mit dem Stück "Mitläufer" in die dunkle Vergangenheit der Bayerischen Staatsschauspiele ab. Zur Eröffnung der "Buch Wien" gestattet die Schriftstellerin A.L Kennedy dem Standard einen Einblick in die prekäre Lebenswelt britischer Autoren. Die FR betritt andächtig die Empathieräume des britischen Künstlers John Akomfrah. Die Veranstaltungen des Lausitz-Festivals sind wie Ufos, erfährt VAN.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.11.2023 finden Sie hier

Bühne

Szene aus "Mitläufer" v.l. Steffen Höld, Michael Goldberg, Max Mayer, Claudia Golling © Sandra Then

Christian Joß-Bernau taucht für die SZ mit der Inszenierung des Stücks "Mitläufer", konzipiert von Noam Brusilovsky und Lotta Beckers, in ein düsteres und lange verschwiegenes Kapitel der Geschichte des Residenztheaters in München ein. Heute, am Jahrestag der Reichspogromnacht hat das Stück Premiere, in dem das Theater Licht ins Dunkel der eigenen NS-Vergangenheit bringen will, so der Kritiker. Brusilovsky und Beckers konzipierten das Stück auf der Basis von Spruchkammerakten aus dem Staatsarchiv, vor der sich Personen für ihr Handeln während des Nazi-Regimes verantworten mussten, so Joß-Bernau. Der Text gibt wieder, was die drei verantwortlichen Personen: Oskar Walleck (ab 1934 Generalintendant des Bayerischen Staatstheaters und SS-Mann), Alexander Golling und Curt Langenbeck dort zu Protokoll gaben, berichtet der Kritiker: "Mit drei Schauspielern hat Brusilovsky aus dem Archivmaterial Charaktere entwickelt: 'Es ist kein Versuch, Realität nachzuspielen, es ist kein dokumentarisches Theater, wo Texte vorgelesen werden.' Die Schauspieler hätten Figuren gebaut: 'Sie spielen diese Figuren.' Entlassung jüdischer Mitarbeiter, Propagandatheater? Walleck, Golling und Langenbeck winden sich. Letzterer eingesponnen, versponnen in seine Ideen. Bei den Intendanten ist es das System, das zum Handeln zwang, ihre Haltung eine Mischung aus Nichtwissenwollen und behauptetem inneren Widerstand. Immer wieder waren die Schauspieler mit der Frage konfrontiert, ob ihre Personen sich dies eigentlich alles selber glauben. Auch die Archivlage sei unglaublich lückenhaft, aber gerade die Lücken seien das Interessante, findet Brusilovsky."

Weiteres: Die Berliner Opernhäuser und Orchester haben ein gemeinsames Statement veröffentlicht, melden die Agenturen. In diesem verurteilen sie Antisemitismus und den Terror der Hamas und rufen zur Solidarität mit jüdischen Menschen auf. Im Aufruf heißt es unter anderem: "Die deutschen Theater und Orchester stehen solidarisch zu Israel. Die Gewaltexzesse gegen die israelische Bevölkerung sind durch nichts zu rechtfertigen. Es ist entsetzlich, dass manche die aktuelle Situation zum Anlass nehmen, antisemitische Hetze in Deutschland zu verbreiten."

Weiteres: Die Volksbühne Berlin hat einen Auftritt des Ex-Labour-Chefs Jeremy Corbyn abgesagt, der sich in "Äußerungen in der Vergangenheit, nicht ausreichend von antisemitischen Positionen distanziert" habe (Begründung des Theaters), meldet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. Patrick Wildermann berichtet im Tagesspiegel vom Beginn des 7. Monolog-Festivals im TD Berlin (ehemals Theaterdiscounter).

Besprochen werden Adrian Figueroas Inszenierung "Pauken" am Hebbel am Ufer Berlin (tsp), Andreas Homokis Inszenierung von Wagners "Götterdämmerung" am Opernhaus Zürich (FAZ), Evgeny Titovs Inszenierung von "Le nozze di Figaro" an der Staatsoper München (Zeit), Christiane Mudras Inszenierung von Hotel Utopia (SZ).
Archiv: Bühne

Kunst

John Akomfrah, Vertigo Sea, 2015. © Smoking Dogs Films. Courtesy Smoking Dogs Films and Lisson Gallery. Foto: Schirn Kunsthalle Frankfurt.

Einen "Raum für Empathie" betritt FR-Kritikerin Lisa Berins bei einer Ausstellung mit Videoinstallationen des britischen Künstlers John Akomfrah in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Zwischendurch ist Berins ganz schön aufgewühlt, denn Akomfrah "reißt mit seinen Film-Kunstwerken die Scheuklappen des kollektiven Gedächtnisses auf": historische Aufnahmen von rassistischer Polizeigewalt rauschen hier über den Bildschirm, Umweltkatastrophen, dazwischen meditative Naturaufnahmen und "laut flatternde Schmetterlingspopulationen". "Schönes und Schreckliches" im Stakkato-Takt, so Berins. Etwas Ruhe findet sie dann im letzten Raum: "Sein neuestes Werk im hinteren der drei Räume ist das stillste, dezenteste, poetischste ...'Becoming Wind' von 2023 ist eine zeitlupenartige allegorische Darstellung des Garten Eden (auch eine Schlange kommt vor), in der es um Natur, aber auch um die Möglichkeit der Entfaltung der eigenen Identität geht - und um das Verschwinden eines Paradieses. 'Wir müssten fast zu etwas Windartigem werden, um dorthin zu gelangen', sagt Akomfrah in einem Gespräch mit der Kuratorin. Im Übrigen nehme es der Künstler in Kauf, dass man seine Werke auch ein bisschen pathetisch finden könne."

Besprochen werden eine Retrospektive von Mark Rothko in der Fondation Louis Vuitton in Paris (tsp), eine Ausstellung des Street-Fotografen Joel Meyerowitz in der Werkstatt-Galerie Hermann Noack in Berlin (tsp), die Ausstellung "Hej rup!" im Bröhan-Museum über die tschechische Avantgarde der Zwischenkriegszeit (taz), die Ausstellung "in situ" über den heutigen Umgang mit dem Nationalsozialismus in der Kunsthalle Darmstadt (taz) und eine Ausstellung mit Werken von Lee Ufan im Hamburger Bahnhof (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Hartmut Welscher blickt für VAN in den Süden Brandenburgs, wo das Lausitz Festival zwar seit 2019 durchaus ansehnliche Fördersummen erhält, aber dennoch den Unmut der lokalen Kulturszene auf sich zieht - wohl auch, weil es vor allem Hamburger sind, die hier die Mittel abgreifen. "Von dessen Existenz erfuhren viele Akteure vor Ort erst, als für die Auftaktveranstaltung im März 2019 großflächig Werbung plakatiert wurde." Ein aktuell kursierendes Arbeitspapier geht hart mit den bisherigen Jahrgängen des Festivals ins Gericht: "Kulturakteure vor Ort seien nur unzureichend eingebunden, lokale Veranstalter ganz übergangen worden. Das Programm scheine willkürlich zusammengestellt, die Veranstaltungen korrespondierten weder miteinander noch mit der Region... Die Veranstaltungen des Lausitz Festivals seien wie Ufos, die 'kurz und unangekündigt einfliegen und am nächsten Tag wieder verschwunden sind, ohne auch nur Spurenelemente von kultureller oder wirtschaftlicher Substanz zu hinterlassen', schreibt Mitunterzeichner Michael Apel, Geschäftsführer der Spremberger Kino und Kultur GmbH, in einer separaten Stellungnahme."

Außerdem: Karl Fluch plaudert für den Standard mit Dirk von Lowtzow über 30 Jahre Tocotronic. In der taz erinnern sich einstige Wegbegleiter an den vor einem Jahr verstorbenen Indiemusiker Kristof Schreuf. Corina Kolbe erinnert in der NZZ an das Konzert von Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestras im Gazastreifen vor zwölf Jahren. Tobias Bleek wirft für VAN einen Blick zurück auf die Musik des Jahres 1923. Die Identität des Mannes auf dem Cover des Led-Zeppelin-Albums "IV" ist nun durch einen Zufallsfund geklärt worden, meldet der Guardian: Es handelt sich dabei um einen englischen Strohdachdecker namens Lot Long.



Besprochen werden ein Berliner (VAN) und ein Frankfurter (FR) Abend mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko, ein Konzert des Ensembles Kaleidoskop in Berlin (VAN), Gilberto Gils letzter Auftritt in Europa auf seiner Abschiedswelttournee (NZZ), ein Konzert der Influencerin Shirin David, die nun als Rapperin zu reüssieren versucht (SZ) und Till Lindemanns neues Soloalbum "Zunge" (NZZ).
Archiv: Musik

Literatur

Gestern Abend hat A.L. Kennedy die Buch Wien mit einem emphatischen Plädoyer fürs Lesen und Schreiben eröffnet (zu lesen auch in der SZ). Im Standard-Gespräch gestattet die Schriftstellerin einen Einblick in die desolate Lebenswelt britischer Autorinnen und Autoren: Selbst Booker-Preisträger haben mitunter Probleme, Verträge zu bekommen. Und viele sind auch nervös "darüber, dass sie von der konservativen Presse und rechten Politikern gecancelt und dämonisiert werden, die die Kontrolle über das Narrativ haben wollen. Autoren sind nervös, etwas zu sagen, das die Daily Mail nicht mögen könnte. ... Viele Bücher erscheinen auch gar nicht. Oder Autoren wechseln von großen zu kleinen Verlagen. Ich wurde mal von einer Zeitung gebeten, darüber zu schreiben, habe aber dann abgesagt. Ich wollte den damit verbundenen Kummer nicht." Denn "die Menschen wussten nicht, wo ich nun wohne und wie sie zu mir kommen. Deshalb bin ich auch gern für Lesungen und Vorträge im Ausland. Es ist nett, Dinge sagen zu können ohne die Angst, dass Menschen zu dir nach Hause kommen und dich bedrohen."

Besprochen werden unter anderem Paul Austers "Baumgartner" (Tsp), ein Bildband über das Thomas Mann House in Los Angeles (online nachgereicht von der FAZ), eine Ausstellung in Wien über Gewalt in Undergroundcomics (Standard), Meryem Alaouis "Pferdemund tut Wahrheit kund" (FAZ) und Peter Sloterdijks "Zeilen und Tage III" mit Notizen von 2013 bis 2016 (Zeit).
Archiv: Literatur

Film

Bleibt lakonisch in schönstem Jim-Jarmusch-Schwarzweiß: "Fremont" von Babak Jalali

Der iranisch-britische Regisseur Babak Jalali dreht Filme wie einst Jim Jarmusch in jungen Jahren, gerade so als hätte es die letzten 30 Jahre nicht gegeben, freut sich Benjamin Moldenhauer im Perlentaucher nach der Sichtung von "Fremont", einem Film über eine auf ihrer Flucht in der Bay Area gelandeten Afghanin. Die Stilmittel liegen offen zutage: "Jim-Jarmusch-Schwarzweiß, Fokus auf die Menschen, die er zeigt, und nicht auf etwaige Herausforderungen, die bestanden werden müssen, eine ausgeprägt lakonische Haltung zur Welt." Zwar kann einem der Film damit hier und da auch mal "potenziell auf den Glückskeks gehen", doch in seiner "erzählerischen Offenheit, die verstärkt wird durch das ersatzlose Streichen jeder schematischen Figurenpsychologie (die dann aber nicht durch eine komplexere ersetzt würde, sondern einfach Leerstelle bleibt), gelingen den durchkomponiert-spartanischen Bildern viele wunderschöne Momente."
 
Weitere Artikel: Birgit Roschy wirft für epdFilm einen Blick auf die Filme von Sandra Hüller, die aktuell in "Anatomie eines Falls" (unsere Kritik) zu sehen ist. Patrick Heidmann porträtiert für epdFilm die Schauspielerin America Ferrera. Und die Agenturen melden, dass der für seine Science-Fiction-Arbeiten bekannte Filmemacher Rainer Erler gestorben ist. Außerdem melden sie, dass sich die Schauspieler-Gewerkschaft SAG-AFTRA und die Hollywood-Studios nach vier Monaten Streik über neue Arbeitsbedingungen geeinigt haben.

Besprochen werden Saim Sadiqs "Joyland" über Transfeindlichkeit in Pakistan (taz, FD, epd), Suzanne Raes' "Vermeer - Reise ins Licht" (taz, FD), Hans Steinbichlers Verfilmung von Robert Seethalers Roman "Ein ganzes Leben" (FD, SZ), Carter Smiths auf DVD erschienener Film "Swallowed" (Perlentaucher) und Nia DaCostas neuer Blockbuster "The Marvels" (Standard, FR, Welt, Presse). Hier außerdem der Überblick beim Filmdienst über alle Filmstarts der Woche.
Archiv: Film