Efeu - Die Kulturrundschau

Ein nicht sehr effizienter Teufel

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20.11.2023. Bei einem Symposium zur Documenta erlebt die SZ vor allem Erschöpfung und Ratlosigkeit. Ganz berauscht ist sie hingegen von der Musik in Jaromír Weinbergers Oper "Schwanda, der Dudelsackpfeifer". Die nmz taucht mit Philipp Stölzls "Andersens Erzählungen" in München hinab zu einem märchenhaften Meeresgrund. Die FAS entdeckt beim Jubiläum zum 100-jährigen Geburtstag der Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft ein Deutschland der zwei Geschwindigkeiten. Rolling Stones, Beatles, Madonna: Der Gegenwarts-Pop ist eine einzige Retro-Zeitmaschine, seufzt der Tagesspiegel.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.11.2023 finden Sie hier

Kunst

Zumindest in einem Punkt waren sich die Teilnehmer eines Symposiums zur aktuellen Situation der Documenta einig, seufzt Nils Minkmar in der SZ: Die Kunstschau ist "an einem Nullpunkt" angelangt. Ziemlich erschöpft und ratlos wirkten unter anderem Meron Mendel und die Politologin Nicole Deitelhoff, so Minkmar, die gemeinsam mit Jürgen Habermas und anderen ein Statement gegen Antisemitismus unterzeichnete (unser Resümee): Sie "sah sich nun mit dem Vorwurf der Unterstützung eines Genozids konfrontiert. Sie lächelte ratlos. Und nicht aus den Untiefen der asozialen Netzwerke kommen solche Vorwürfe, sondern, fügte sie an, von angesehenen Akademikerinnen der Ostküste der USA. Auch Meron Mendel sprach von einer völligen Verschiebung der politischen und weltanschaulichen Lager. Er sei früher immer von einer 'Gemeinsamkeit der moralischen Werte' ausgegangen - dass man also gemeinsam erschrecke und innehalte, wenn Kinder gefoltert und ermordet werden. Aber diese Annahme wurde durch seine Erfahrungen widerlegt. Für manche sei Israel immer der weiße Täter, und die Palästinenser seien die indigenen Opfer. " Dank der klugen Moderation des Soziologen Heinz Bude wurde dann aber doch einigermaßen konstruktiv diskutiert, meint Minkmar. In der FR schreibt Michael Hesse zum Thema. In der FAZ resümiert Georg Imdahl die Tagung.

Weiteres: Carmela Tiele stellt in der taz die kaum bekannte Künstlerin Anneliese Hager und ihre "fotografielose Fotografie" vor, die in einer Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim zu sehen ist.

Besprochen werden die Ausstellung "If the Berlin Wind Blows My Flag. Kunst und Internationalisierung vor dem Mauerfall" in Neuer Berliner Kunstverein (n.b.k.), daadgalerie und Galerie im Körnerpark (taz), eine Retrospektive mit Gemälden von Nicolas de Stael im Musée d'Art Moderne in Paris (tsp), die Ausstellung "Will Eisner - Graphic Novel Godfather" im Jüdischen Museum Rendsburg (taz).
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Literatur

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In Berlin hat Durs Grünbein gemeinsam mit Florian Illies über seinen neuen Roman gesprochen. In "Der Komet" erzählt der Schriftsteller anhand des Lebens seiner Großmutter von der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Den Roman findet SZ-Kritiker Cornelius Pollmer überaus geglückt. Grünbein wirkte auf ihn bei der Veranstaltung aber zunächst wie "eine Art Zauderer von Ost", als Illies von W.G. Sebalds These sprach, dass "die deutsche Literatur vor dem Grauen des Luftkriegs versagt habe. Grünbein erwidert, er habe sich mit dieser These, die er für interessant halte, intensiv beschäftigt und gewiss, rekonstruierbar sei vieles, ob es sich erzählen lasse jedoch eine andere Frage. Solche Vorsicht ist auch deswegen begründet, weil längst bekannt ist, wie leicht sich einzelne Erinnerungen zu kollektiven verdichten können, wie groß die Gefahr ist, dabei Legendenbildung zu erleben. Der skeptische, wachsame Dichter Durs Grünbein ist aber gerade deswegen der schlüssige Autor eines Berichts wie 'Der Komet', in dem solche Fährnis ungerührt erkannt und benannt wird: 'Aber was konnten Augenzeugen in einer Nacht wie dieser schon wahrhaft bezeugen?'"

Viel zu brav findet Nora Zukker vom Tages-Anzeiger die Entscheidung, den Schweizer Buchpreis an Christian Haller für "Sich lichtende Nebel" zu geben: Hier sei kein einzelnes Buch, sondern ein Lebenswerk ausgezeichnet worden. Ein wenig anders sieht es Roman Bucheli in der NZZ: Haller mache in der philosophisch grundierten Novelle den "Glutkern seiner Poetik" zum Thema, sie sei die "Quintessenz dieses Schaffens. Sehr zu Recht ist sie darum mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet worden." Birgit Holzer spricht für die FR mit der französischen Schriftstellerin Camille Laurens (mehr zu ihr bereits hier). Kajo Roscher berichtet in der taz vom 38. Treffen junger Autor*innen in Berlin. Gina Thomas schreibt in der FAZ einen Nachruf auf die Schriftstellerin A. S. Byatt.

Besprochen werden unter anderem Tanja Handels Neuübersetzung von Toni Morrisons Romandebüt "Sehr blaue Augen" (NZZ), Amitav Ghoshs "Der Fluch der Muskatnuss" (Standard), Barbra Streisands Memoiren (taz), Joanna Bators "Bitternis" (Zeit), Anke Feuchtenbergers Comic "Genossin Kuckuck" (Standard) und neue Hörbücher, darunter Franziska Walsers und Edgar Selges Aufnahme von Rilkes "Duineser Elegien" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ulrich Greiner über Rainer Maria Rilkes "Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein":

"Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein.
Da hab ich Stein auf Stein gelegt und stand schon wie ein kleines Haus ..."
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Bühne

Szene aus "Andersens Erzählungen" am Residenztheater München. Foto: Sandra Then

nmz-Kritiker Wolf-Dieter Peter ist von der ersten Sekunde an verzaubert von Philipp Stölzls Inszenierung des Musiktheaterstücks "Andersens Erzählungen" im Münchner Residenztheater: "Der schwarze Zwischenvorhang hebt sich zu einer Kutschenfahrt auf dem Meeresgrund. Neugierige Fischlein und zauberhaft durchsichtige Quallen umschweben den aufgeschnittenen Innenraum, in dem Andersen mit seinem frierenden Gegenüber, dem 'Mädchen mit den Schwefelhölzchen' plaudert." Nicht nur die herrlich märchenhafte Atmosphäre dieses Stücks über Hans-Christian Andersens Leben entzückt den Kritikern, sondern auch das perfekte gewählte Ensemble: "... etliche Märchenfiguren hin zu den kopfüber hereinschwebenden und dennoch schön singenden Meerschwestern von Laura Richter und Suzanna de Ruiter. Über all ihre reizvollen Porträts hinweg beeindruckte der den realen Fotografien Andersens frappierend ähnliche Moritz Treuenfels - inklusive des immer wieder notwendigen liebedienend unterwürfigen Rundrückens, der schlacksigen Körpersprache und einem nuancierten Sprechen. Ein Schicksal wird hier nahegerückt, anrührend und mitleidend." SZ-Kritikerin Christiane Lutz zückt das Taschentuch, wenn hier die tragische Geschichte der kleinen Meerjungfrau mit Andersens unglücklichen Liebesbeziehungen verknüpft wird. Schön und traurig ist das und zieht dabei alle "Register des Theaterzaubers", schwärmt die Kritikerin. 

Szene aus "Schwanda-der Dudelsackpfeifer" am Musiktheater an der Wien. Foto:Matthias Baus.

Vorbei mit dem Märchen ist es hingegen in Tobias Kratzers Inszenierung von Jaromir Weinbergers Oper "Schwanda, der Dudelsackpfeifer" am Musiktheater an der Wien - und das ist hervorragend, freut sich Egbert Tholl in der SZ. Weinbergers Oper feierte Ende der 1920er Jahre enorme Erfolge, bis zur Machtergreifung der Nazis - und der Komponist fliehen musste. Eigentlich basiert diese Geschichte von Schwanda, der sich mit dem Räuber Babinsky, dem geheimen Liebhaber seiner Frau, zu einer Reise in die Unterwelt aufmacht, auf tschechischen Märchen - bei Kratzer ist davon aber nicht mehr viel zu spüren, meint Tholl: "Es gibt immer noch eine Eiskönigin und einen (nicht sonderlich effizienten) Teufel, aber unter der Kuscheldecke der Gemütlichkeit zieht Kratzer ein dunkles Sehnen, Begierden, Abgründe hervor." Vollständig eingenommen ist der Kritiker vom Orchester unter der Leitung von Petr Popelka: Niemand "kann sich diesem Gleißen und Funkeln entziehen, der ganze Raum wird Klang, und Odzemek, Polka, Furiant, die tschechischen Tänze und alle anderen Derivate von Volksmusik, von denen Weinberger eine Überfülle in seine Partitur stopfte, erhalten eine helle, silbrige Härte. Das Sediment blubbert nur noch in exakt kalkulierten Dosen hoch, etwa beim mehrfach wiederkehrenden Lied Dorotas, in dem sie Heimat und kleines Glück besingt."

Kratzer hat sich bei der Inszenierung von Arthur Schnitzlers erotischen Fantasiewelten aus der "Traumnovelle" inspirieren lassen, verrät FAZ-Kritiker Reinhard Kager: "Dementsprechend sexuell aufgeladen ist vor allem die Szene in der Hölle, wo Babinsky mit dem Teufel (ebenso imposant gesungen wie dargestellt von Krešimir Stražanac) in einem Kartenspiel auf dem nackten Körper einer Frau um Schwandas Seele pokert. Nach Babinskys ergaunertem Sieg verwandelt sich die trostlose Kellerbar in eine Art Lusthöhle, in der sich, überblendet von Videoaufnahmen, Halbnackte oder Latexbekleidete tummeln." In der nmz bespricht Joachim Lange das Stück.

Weiteres: Simon Strauß schreibt in der FAZ einen Nachruf auf den Berliner Theaterarzt Hartmut Rühl. In der FAZ meldet Kerstin Holm, dass der Intendant des Moskauer Bolschoi-Theaters, Wladimir Urin, von seinem Amt zurücktreten musste, wohl weil er kurz nach dem Beginn der Invasion in der Ukraine einen offenen Brief gegen den Ukrainekrieg unterzeichnete. Nachfolger soll auf Putins "persönlichen Wunsch" hin Valery Gergiev, jetziger Intendant des Petersburger Mariinsky-Theaters, werden. Egberth Tholl porträtiert in der SZ die Sopranistin Vera-Lotte Boecker.

Besprochen werden Luke Percevals Adaption von George Orwells Roman "1984" im Berliner Ensemble (tsp, nachtkritik, FAZ, BlZ), Ewan Jones Inszenierung des Musicals "Something rotten" am English Theatre Frankfurt (FR), Martina Drostes Inszenierung des Jugendtheaterstücks "Deine Kämpfe - meine Kämpfe" am Schauspiel Frankfurt (FR), Martin Kušejs Inszenierung von Molières "Menschenfeind" am Wiener Burgtheaters (SZ, nachtkritik), in einer Doppelbesprechung William Forsythes Choreografie "Friends of Forsythe" am ZKM in Karlsruhe und Ioannis Mandafounis' Performance "A la carte" im Bockenheimer Depot (SZ), Jette Steckels Inszenierung von Kleists "Prinz von Homburg" an der Berliner Schaubühne (Welt), Paul Kubelkas Inszenierung von "Bis nächsten Freitag" am Wiener Theater in der Josefstadt (FAZ), Michael Thalheimers Adaption von Kafkas "Der Prozess" am Thalia Theater in Hamburg (nachtkritik), Carl Philip von Maldeghems Inszenierung von "Die Erfindung der Demokratie - Der vergessene Teil der Orestie", einer Neufassung von Aischylos' Tragödie die "Eumeniden" am Salzburger Landestheater (nachtkritik), Nils Cortes Inszenierung des digitalen Theaterstücks "Symmetrie" im XRT am Staatstheater Nürnberg (nachtkritik).
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Musik

Madonna auf Welttournee durch ausverkaufte Hallen, zugleich dominieren die Rolling Stones und Beatles mit aktuellen Veröffentlichungen die Charts: Tagesspiegel-Kritiker Gerrit Bartels beschleicht angesichts dessen der "Eindruck, dass im Popjahr 2023 die Uhren sehr weit zurückgestellt wurden und Pop ein einziger Retrozauber ist." Doch "das Mark des Pop-Knochen, es wird weiterhin ordentlich von den beiden Überbands der Popgeschichte gesaugt. Madonna oder auch die ewigen Depeche Mode sind im Vergleich dazu geradezu Zwerge, letztendlich Jungspunde."

Außerdem: Tobias Brück verabschiedet sich in der Jungle World von der Punkband Mülheim Asozial, die gerade auf Abschiedstour ist: "Welch ein Jammer", war es doch gerade diese "Punk-Band, die den Abstieg des Genres ironisch kommentiert und sich über die von ihm hervorgebrachten kulturellen Zeichen lustig macht". Andreas Hartmann berichtet in der taz von einer Konferenz zur wirtschaftlichen Krise der Berliner Clubszene.

Besprochen werden das von Deutschpunk und NDW inspirierte Album "Haare eines Hundes" des Chemnitzer Duos Tränen (taz), Herbert Grönemeyers neues Lied "Kaltes Berlin" ("eine gesungene Predigt", findet Jan Wiele auf FAZ.net), Peter Kempers Buch "The Sound of Rebellion" über die politische Geschichte des Jazz (SZ) und "Flying Wig", das neue Album von Devendra Banhart, der sich hier von seinen Freak-Folk-Wurzeln endgültig löst und sich für von den Achtzigern inspirierten Dream-Pop-Klangwelten öffnet (FR).

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Film

FAS-Kritiker Bert Rebhandl langweilt sich beim Festakt zum 100-jährigen Bestehen der Spitzenorganisation der deutschen Filmwirtschaft, wo sich auch Claudia Roth und Robert Habeck für kurze Grußbotschaften blicken ließen. "Wenn der hochfrequent getaktete Alltag von Spitzenpolitikern auf die Gemächlichkeit einer Lobbyorganisation trifft, die sich einen Festakt leistet, der eher nach Vertreter-Umtrunk aussieht als nach Fest, dann geht das gar nicht anders als mit ein bisschen Knirschen. Aber mit auch nur ein bisschen Beobachterdistanz war 100 Jahre SPIO doch ein recht bizarrer Moment: Man sah hier ein Deutschland der zwei Geschwindigkeiten. Einerseits eine Politik, die hinter den Herausforderungen herhetzt und sich mit fahrigen Wortspenden für 15 Minuten mal eben irgendwo einklinkt (am besten gleich bei einer ganzen Branche). Andererseits einen Betrieb, der den Eindruck erweckt, es sollte am besten einfach alles immer so bleiben wie schon lange, nur idealerweise mit deutlich mehr Geld vom Staat."

Außerdem: Jörg Taszman spricht für den Filmdienst mit Colm Bairéad über dessen (in der Welt besprochenen) Film "The Quiet Girl". Besprochen werden Oliver Parkers "In voller Blüte", mit dem sich Michael Caine von der Leinwand verabschiedet (Standard), Ridley Scotts "Napoleon" (Welt), Susanna Fogels Verfilmung von Kristen Roupenians im New Yorker veröffentlichten Kurzgeschichte "Cat Person" (ZeitOnline) und Martin Schilts Dokumentarfilm "Krähen" (Welt).
Archiv: Film