Efeu - Die Kulturrundschau

Ehebruch in Gedanken

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06.12.2023. Franz Kafka wird heute vor allem als Meister des abgrundtief Komischen gefeiert, meint Reinhard Stach im Standard mit Blick auf die "Verwandlung". Die berückte Welt hört in Düsseldorf die Poesie des Unsagbaren in Manfred Trojahns "Septembersonate". In Reinhard Keisers Barockoper "Nebucadnezar" wird derweil das Orchester von der moralischen Leine gelassen, freut sich die FAZ. Die NZZ lässt sich derweil in einer Pariser Stockhausen-Inszenierung von Weihrauch einnebeln und freut sich anlässlich eines Zürcher Bach-Konzerts über barocken Unsinn.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.12.2023 finden Sie hier

Bühne

Juliane Banse (Ellice Staverton), Holger Falk (Osbert Brydon), Statisterie,
© Wolf Silveri


Eine berückend schöne, der Poesie des Unsagbaren verpflichtete Musiktheateradaption der Henry-James-Novelle "The Jolly Corner" hat Manuel Brug (Welt) im Opernhaus Düsseldorf gesehen. "Septembersonate" heißt die Bühnenfassung von Manfred Trojahn. Brug begeistert sich insbesondere für die Figuren, etwa für den Protagonist Osbert, der "sich immer mehr in seine Geschichten und Gespinste verstrickt. Ein Narzisst, durchaus. Ellice, die Actrice, eine Lulu in vielfachen Gestalten als Marilyn, Revuegirl, schließlich Osberts Doppelgänger, mit dem er sich verknüllt und verschlingt. Juliane Banse macht das mit viel Empathie für das gemeinsame Gestern, aber auch als nicht fassbar Fragende ganz fabelhaft, herbstlich schön schwingt sich die Stimme mit herbem Vokalrand auf, intensiv und doch distanziert. Singend ist Osbert II (Roman Hoza) sein Klon mit Mein-Freund-Harvey-Hasenohrenhelm, vampirhaft, horrorfilmnostalgiegruselig." Joachim Lange bespricht die Aufführung für die nmz.

Lotte Thaler besucht für die FAZ das Rokokotheater Schwetzingen, wo Reinhard Keisers Barockoper "Nebucadnezar" gegeben wird. Die Modernisierung des Stoffes durch den Regisseur Felix Schrödinger findet nicht durchweg den Zuspruch der Rezensentin ("peinliches voyeuristisches Waterboarding"), die Musik jedoch ist eine Wucht: "Das Philharmonische Orchester Heidelberg, das auf modernen Instrumenten spielt, legte sich höchst motiviert für Keisers Musik ins Zeug, im Tutti wie auch in den vielen Soli des Fagotts und der fabelhaften Oboe. Einmal stürmte das Orchester wie von der moralischen Leine gelassen los, als Adina ihren Darius wie einen Hund auf die Bettkante zitiert, den Ehebruch schon in Gedanken vorwegnehmend. Und keine Frage, wer hier am Pult des Orchesters steht: eine Frau, Dorothee Oberlinger, die ihre Musiker kollegial animierend durch die Partitur führt und einmal sogar selbst, wie mitleidend, zu ihrer Blockflöte greift. Eine Entdeckung."

Paris, le 21 novembre 2023. Karlheinz Stockhausen / Sonntag aus Licht (scènes 3,4 et 5). Foto © Denis ALLARD / Philharmonie de Paris


In der Pariser Cité de la Musique und der Philharmonie de Paris wurde, über zwei Tage und zwei Orte verteilt, Karlheinz Stockhausens "Sonntag aus 'Licht'" gegeben, mit Maxime Pascal am Pult. In der NZZ zeigt sich Eleonore Büning beeindruckt von der Spannbreite des Werks: "Auch im zweiten Aufzug, den 'Engelsprozessionen', kreuzen sich Scherz und Ernst, Raum und Zeit. Sieben Engelschöre tanzen jauchzend durch die Gänge des sternförmig platzierten Publikums. Ein Happening - heute sagt man 'immersiv' dazu. Als Stockhausen das musikalische Geschehen ins Innere der Zuhörer verlegte, war dieses Modewort noch nicht erfunden. Der dritte Teil, 'Lichter-Bilder', bezieht die gesamte Natur mit ein, alle sollen Gott, die Liebe und das Leben lobpreisen. Im vierten, 'Düfte-Zeichen', wird das Publikum gründlich eingenebelt mit Weihrauch. Und es taucht endlich Über-Eva auf, die wie Wagners Erda eine Packung Weisheit im Gepäck hat: 'Männer, hört auf die Frauen. Ihr seid von Frauen geboren.'"

Ein BVG-Musical, muss das sein? Kann man machen, findet Peter Laudenbach in der SZ. Die den Berliner Verkehrsbetrieben gewidmete Show "Tarifzone Liebe" im Berliner Admiralspalast ist jedenfalls "schwungvoll und ohne Verspätungen im Takt inszeniert. Die Kalauer klingen, als hätten die Texter zu großzügig bei den mobilen Händlern in der U 8 eingekauft: 'BVG, die härteste Droge der Welt - ein Zug, und du bist weg.' Weil der BVG sowieso niemand eine 'Alles-super!'-Werbung abnimmt, hat ein Chor der genervten BVG-Kunden seinen Auftritt, um ein paar Beschwerden anzubringen beziehungsweise zu singen: 'Zu spät, zu laut, zu dreckig! Ich fand 'nen Krümmel in der Ritze! Warum darf mein Pudel nicht auf die Sitze?'"

Weitere Artikel: Wolfgang Behrens denkt in der nachtkritik über die Schwierigkeiten der Theaterwelt beim Umgang mit Israel nach. Jakob Hayner zeichnet in der Welt nach, warum Fortinbras, eine Figur aus Shakespeares "Hamlet", lange vergessen war, aber derzeit wieder wichtig ist.

Besprochen werden eine Inszenierung von Molières "Der Menschenfeind" am Wiener Burgtheater (FAZ), Anna Bergmanns Joyce-Carol-Oates-Adaption "Miss Golden Dreams" am Staatstheater Karlsruhe (SZ), Nestroys "Höllenangst" am Linzer Landestheater (Standard) und Igor Strawinskys "The Rake's Progress" am Freiburger Theater (nmz), Manfred Trojahns Kammeroper "Septembersonate" im Opernhaus Düsseldorf (nmz)
Archiv: Bühne

Kunst

Teresa Feodorowna Ries: "Hexe bei der Walpurgisnacht", 1895. Foto: Birgit und Peter Kainz, Wien Museum

Olga Kronsteiner und Katharina Rustler rekonstruieren im Standard den Lebensweg der Künstlerin Teresa Feodorowna Ries, deren Statue "Hexe bei der Toilette für die Walpurgisnacht" demnächst im Wien-Museum ausgestellt wird. Ihr "jedwedem Klischee von lieblicher Weiblichkeit" trotzendes Werk brachte ihr nicht nur Bewunderung ein: "Eine Künstlerin, die in der 'männlichen' Disziplin ihr Talent unter Beweis stellte, galt manchen, aber bei weitem nicht allen Zeitgenossen als Affront. 'Als ich am Firnistage in die Ausstellungshalle kam, wurde ich gleich beim Eingang von Kollegen stürmisch begrüßt', erinnerte sie sich in ihrer 1928 publizierten Autobiografie. 'Irgendjemand nannte dabei laut meinen Namen, und im selben Moment erscholl von der Stiege, die in den Saal hinaufführte, eine donnernde Stimme: 'Das ist die Ries?! Man sollte ihr den Eintritt verbieten. Wie kann sie sich unterstehen, aus einem edlen Marmor eine so scheußliche Fratze zu machen?!''"

Miron Schmückle: "Flesh for Fantasy", 2022. © VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Courtesy the artist and Setareh Düsseldorf, Foto: Joachim Schulz

Das Frankfurter Städel Museum zeigt unter dem tollen, einem Billy-Idol-Song entlehnten Titel "Flesh for Fantasy" Bilder des rumänisch-deutschen Künstlers Miron Schmückle. In der FR ist Lisa Berins von den Exponaten mehr als nur angetan: "Von Weitem wirken sie zart und prunkvoll zugleich, filigran und barock, farbenfroh und zurückhaltend. Erst wenn man näher herantritt, sieht man, dass diese tollen Pflanzen keine echten Vorbilder haben, keine wahrheitsgetreuen Naturstudien sein können. Blaue Stängel greifen wie Adern um dicke, weiche Knospen, die auch Organe, Nieren oder Herzen, sein könnten, man meint fast, sie pulsieren zu sehen. Zellartige Oberflächenstrukturen, angeknabbertes Blattwerk, faserige Verästelungen, kugelige, kleine Geschwülste, saftige, fleischige Blüten und Blätter, teilweise in becken-, vulven- oder zungenartigen Formen - der Blick auf Schmückles Werke ist wie ein Blick in das Innenleben eines Organismus."

Der in Berlin lebende britische Künstler Jesse Darling wurde mit dem Turner-Preis ausgezeichnet, meldet Lanre Bakare im Guardian: Nach der Preisverleihung "zog Darling eine palästinensische Flagge aus seiner Tasche. Als wir ihn später fragten, warum, erklärte er: 'Weil dort ein Genozid geschieht und ich wollte dazu etwas in der BBC sagen.'"

Weitere Artikel: Rose-Maria Gropp bespricht in der FAZ Uwe Flecklers Roman "Im Schatten der Blauen Pferde", der sich um das berühmte verschollene Gemälde Franz Marcs ("Turm der blauen Pferde") annimmt. In England heißt, weil sonst die Etikette verletzt wäre, die Queen's Gallery nun King's Gallery, weiß unter anderem Monopol. Der Kunstsammler Rafael Jablonka hat die in seinem Besitz befindlichen Werke aus der Wiener Albertina abgezogen, berichtet der Standard. Caspar David Friedrichs Skizzenbuch wurde in die offizielle Liste der national wertvollen Kulturgüter aufgenommen und kann deshalb nicht außerhalb Deutschlands verkauft werden, meldet Annegret Erhard in der Welt. Emil Noldes Gemälde "Palmen" wird versteigert, weiß Marcus Woeller, ebenfalls in der Welt.

Besprochen werden Elmgreen & Dragsets Installation "Read" in der Kunsthalle Praha (Tagesspiegel), die Schau "Ilya & Emilia Kabakov: Tomorrow We Fly" im Tel Aviv Museum of Art (Monopol) und eine Théophile-Alexandre Steinlen gewidmete Schau im Pariser Musée de Montmartre (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

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Ronald Pohl läutet das Kafka-Jahr 2024 im Standard mit einem Gespräch mit dem Experten Reiner Stach ein. Jede Lesegeneration findet ihren eigenen Zugang zu Kafka, sagt er: "In früheren Jahrzehnten hat man sehr stark auf die albtraumhaften Elemente in Kafkas Werk fokussiert. Das hing mit politischen Deutungen zusammen, die ihn - ohne dass er es gewusst hätte - zum Propheten erhoben, zum Autor, der den Totalitarismus vorhersah." Heute hingegen stünden "die Züge des abgrundtief Komischen" im Vordergrund. "Die Betonung des Prophetischen hing mit dem Existenzialismus zusammen, mit religiösen Deutungen. Darüber sind wir hinweg. ... Wenn Sie 'Die Verwandlung' zum ersten Mal lesen und unter 20 Jahre alt sind, so ist das zunächst einmal nur schrecklich. Ich habe mit Schülern über diesen Albtraum gesprochen. Manche wollten danach keinen Kafka mehr lesen. Lesen Sie den Text dagegen als erfahrenerer Leser ein zweites oder drittes Mal, springt Ihnen die Komik sofort ins Auge. Ein Mensch wacht als Käfer auf, und sein erster Gedanke ist: Herrgott noch mal, jetzt wird es aber knapp, dass ich meinen Zug erreiche! Leute, die sich Illusionen über ihre eigene Lage machen, sind immer komisch."

Weitere Artikel: In Belarus hat ein Fernsehpropagandist gefordert, die Minsker Wohnung der im Berliner Exil lebenden Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch zu beschlagnahmen, meldet Marc Reichwein in der Welt. Die Autorin Maren Wurster erzählt für "10 nach 8" von ZeitOnline von ihren Streifzügen per Rad durchs ehemalige Ost-West-Grenzland im Wendland, wo sie seit einiger Zeit lebt: "Selbst wenn ich einen Schleichweg nehme und es keinen sichtbaren Hinweis gibt, ist die Wahrnehmung nach Übertritt der früheren Grenze eine andere." In Wien wurde eine Leseveranstaltung mit Deborah Feldman abgesagt, meldet Michael Wurmitzer im Standard. Peter Handkes Notizbücher lassen sich nun online durchsehen, melden die österreichischen Agenturen. Alexandra Millner gratuliert im Standard dem Schriftsteller Richard Wall zum 70. Geburtstag. Die Presse gibt Buchtipps zum Fest. In der FR legt uns Arno Widmann den bereits 2010 erschienenen Bildband "Menschenaffen wie wir" von Jutta Hof und Volker Sommer als Geschenk ans Herz.

Besprochen werden unter anderem Barbra Streisands Autobiografie (SZ) und Uwe Fleckners "Im Schatten der Blauen Pferde" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Musik

Eine "selten gehörten Leichtigkeit" verlieh András Schiff beim Konzert in Zürich Bachs Goldberg-Variationen, freut sich Christian Wildhagen in der NZZ. "Schiff, fast durchweg schneller und leichtfüßiger unterwegs als Gould, setzt die Akzente anders. Bei ihm gibt es sogar Platz für ein Augenzwinkern, wenn er bei einigen besonders virtuosen Variationen durchscheinen lässt, wie sich Beethoven Bach zum Vorbild genommen hat, als er achtzig Jahre später seine Diabelli-Variationen komponierte. ... So laufen bei Schiff die immer befreiter und heller tönenden letzten Variationen konsequent auf das sogenannte Quodlibet zu. Darin hat Bach - als wollte er sich lustig machen über die eigene Musik - gleich drei Anspielungen auf seinerzeit populäre Volkslieder versteckt. Einer der zitierten Gassenhauer begann mit der Textzeile 'Kraut und Rüben haben mich vertrieben'. Schiff spielt auch das mit einem souveränen Augenzwinkern, als wolle er sagen: So viel barocken Unsinn habt ihr dem Gott der Musik wohl gar nicht zugetraut."

Das wurde auf Twitter vielfach weitergereicht:


Außerdem: Frederik Hanssen porträtiert im Tagesspiegel die Geigerin Antje Weithaas. Für die SZ plaudert Harald Hordych mit Marius Müller-Westernhagen, der heute 75 Jahre alt wird, über die Vitalität von Rock'n'Roll. Besprochen werden ein Auftritt von Daniil Trifonov im Wiener Konzerthaus (Standard), das neue Album von Pose Dia (Jungle World), Matti Friedmans Buch "Wer durch Feuer" über Leonard Cohen und Jom-Kippur-Krieg (NZZ) sowie Konzerte von Feine Sahne Fischfilet (taz), Sampha (Tsp) und The Prodigy (FR).
Archiv: Musik

Film

Wenig trinken, keine kurzen Röcke: "How to Have Sex"

"How To Have Sex", ihren Film über Geschlechterrollen bei Jugendlichen, gingen manchmal erschütternde Recherchen voraus, erzählt die Regisseurin Molly Manning Walker im taz-Interview mit Patrick Heidmann. Zwar basiert der Film zum Teil auf eigenen Jugenderfahrungen doch" es war mir wichtig, auch die Perspektive heutiger Teenager in die Geschichte einfließen zu lassen, schließlich bin ich selbst inzwischen 30 Jahre alt. Wir haben diverse Workshops mit 16- bis 19-jährigen veranstaltet und mit ihnen über Sex und Einverständnis gesprochen. Ich war ein wenig erstaunt, wie wenig sich verändert hat. Es waren immer noch vor allem die jungen Mädchen, die gesagt haben, es sei vor allem wichtig, nicht zu kurze Röcke zu tragen und zu viel zu trinken. Und unter Jungs werden nach wie vor die, die am meisten Sex haben, als echte Kerle und Legenden gefeiert."

Außerdem: Michael Ranze unterhält sich für den Filmdienst mit der Schauspielerin Aylin Tezel, die mit dem auf der schottischen Isle of Skye spielenden Drama "Falling Into Place" ihr Langfilmdebüt als Regisseurin in die Kinos bringt. Stefan Brändle wirft in der FR einen Blick auf die Turbulenzen, die Ridley Scotts "Napoleon" in Frankreich ausgelöst hat. Andreas Hartmann stellt in der taz Highlights aus dem Berliner Festival "Around the World in 14 Films" vor. Der Siegfried-Kracauer-Preis für die beste Filmkritik des Jahres geht an Julia Lorenz für ihre auf Zeit Online veröffentlichte Besprechung von "Black Panther 2", meldet der Filmdienst. Jan Brachmann gratuliert in der FAZ dem Schauspieler Tom Hulce zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Bradley Coopers Biopic "Maestro" über Leonard Bernstein (taz, Standard, mehr dazu bereits hier), Rodrigo Sorogoyens "Wie wilde Tiere" (Tsp), Maximilian Erlenweins Unterwasserthriller "The Dive" (online nachgereicht von der FAS) und Takashi Yamazakis "Godzilla Minus One" (Standard).
Archiv: Film