Efeu - Die Kulturrundschau

Sie hat nie etwas anderes gesagt als Ich

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14.12.2023. Die SZ zertrennt mit Caspar David Friedrich in mehr als sechzig Gemälden und hundert Zeichnungen in der Hamburger Kunsthalle die süßliche Einheit von Mensch und Natur. Dem PEN Berlin kommen zunehmend die Mitglieder abhanden: Dass am Wochenende auch noch die BDS-nahe Autorin A.L. Kennedy auftreten wird, macht es nicht besser, seufzt die taz. Im Perlentaucher nimmt Stefanie Diekmann in Jeanne Herrys Justizdrama "All Eure Gesichter" Platz in einem so schönen wie puristischen Stuhlkreis. In Lviv pulsiert wieder das Leben, bemerkt die taz auf einer Theaterreise. Und die Zeit kuschelt sich ein ins superflauschige Mittelmaß von Taylor Swift.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.12.2023 finden Sie hier

Kunst

Kehinde Wiley: The Prelude (Ibrahima Ndiaye und El Hadji Malick Gueye), 2021. Rennie Collection, Vancouver. Courtesy of the artist und Stephen Friedman Gallery, London © Kehinde Wiley

Das große Caspar-David-Friedrich-Jahr hat noch gar nicht begonnen, aber schon dieses Jahr waren die Buchveröffentlichungen zahlreich, etwa Florian Illies' "Zauber der Stille". Auch die Hamburger Kunsthalle beschließt das Jahr mit einem Knall - in der Ausstellung "Kunst für eine neue Zeit" zeigt sie über 60 Gemälde und 100 Zeichnungen Friedrichs - und stellt sie zeitgenössischen Künstlern gegenüber. In der SZ ist Till Briegleb hingerissen, deutet die Ausstellung Friedrich doch weniger religiös, sondern "sucht vielmehr, Friedrichs passive Betrachter in ihrer städtischen Kleidung als Beginn einer fundamentalen Ablösung zu verstehen. Natur wird in der Morgendämmerung des industriellen Zeitalters bei Friedrich zum Objekt. Die süßliche Einheit von Mensch und Natur, die Friedrichs Vorgänger mit ihren arkadischen Schäferidyllen malten, weicht bei ihm dem Gefühl, dass Natur ein Rohstoff ist für den touristischen Erholungswunsch des Städters." Daran schließen die rund 20 zeitgenössischen KünstlerInnen an, indem sie "die Entfremdung des Menschen zu seinem biologischen Kontext" thematisieren. "Swaantje Güntzel, die das 'Eismeer' voller Plastikmüll darstellt. Oder Kehinde Wileys Kitschmonumenten, für die er schwarze modische Jugendliche in riesig vergrößerte Versionen der Kreidefelsen und des Nebelmeers setzt, wird der menschliche Abstand zum idealisierten Naturzustand in verschärften Konturen gezeigt."

Bild: Verena Dengler: Sponsors. 2001-2014. MAK GK 666. Bild: Georg Mayer

Schlicht "phänomenal" nennt Katharina Rustler (Standard) die Ausstellung "Hard/Soft" im Wiener Museum für Angewandte Kunst, die sich Textil und Keramik in der zeitgenössischen Kunst widmet und mit historischen Werken kontrastiert: Zahlreiche Werke beschäftigen sich "mit dem Körperlichen und beziehen sich auf die oft als weiblich konnotierten Techniken des Webens und Töpferns. Mit ihren archaisch anmutenden Keramikvasen, die mit Brüsten bestückt sind, greift die polnische Künstlerin Agnieszka Brzeżańska genau das auf und setzt sich mit matriarchalen Ritualen auseinander. Besonders beeindruckend sind die monumentalen Arbeiten, die von der Höhe der Mak-Ausstellungshalle profitieren - wie jene meterlangen hängenden Figuren aus schwarzem Stoff von Magdalena Abakanowicz oder die aus Dämmmaterial bestehenden XXL-Skulpturen von Klára Hosnedlová."

Im FR-Gespräch erzählt Eva Raabe, scheidende Direktorin des Weltkulturen Museums in Frankfurt, wie sich das Museum weiter dekolonisieren wird: "Ich glaube, ganz egal, wer meine Nachfolge antritt, wird weiterführen, dass wir bei jedem Projekt die indigenen Nachfahren der Urheberkultur kontaktieren. Dass wir weiterhin sehr stark mit indigenen Künstlern zusammenarbeiten. Rückgabe wird auch ein großes Thema sein. Wir haben eine Kamerun-Sammlung von über 2.000 Objekten und ein großer Teil davon stammt aus militärischem kolonialem Kontext. Es werden auch indigene Gruppen mit uns Kontakt aufnehmen, weil sie von der Sammlung wissen und sie sehen möchten. Es gibt Objekte, die gibt es nur noch in Europa und nicht in den Museen der Ursprungsländer."

Außerdem: Berlins Staatliche Museen erhöhen die Preise um 2 Euro, meldet Christiane Peitz im Tagesspiegel: "Hermann Parzinger betont in einer Mitteilung dazu, wie erfreulich es sei, dass die Museen inzwischen wieder an das Vor-Corona-Niveau anknüpfen können und 2023 bislang knapp vier Millionen Besucher:innen aus der ganzen Welt verzeichnen." Der Streit um den Nachlass von Franz West ist endgültig beendet, meldet Olga Kronsteiner im Standard: "Zuständig für den Nachlass ist die von West gegründete Stiftung. Die Kinder klagen jetzt auf den Pflichtteil, der Anspruch ist womöglich verjährt."

Besprochen wird die Anne-Witt-Ausstellung "Workers Forum" im Kunstverein Wolfsburg (taz), die Ausstellung "kontrastreich" mir Arbeiten des Berliner Zeichners Danja Akulin in der Galerie Poll (Blz) und Charlotte Mullins "Die Geschichte der Kunst. Neu erzählt" (Standard).
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Literatur

Deniz Yücels und Eva Menasses Reaktionen auf die Kritik am PEN Berlin zu deren eher diffuser Haltung zu Israel und infolge ersten Austritten haben gleich zu einer zweiten Austrittswelle geführt, berichtet Julia Hubernagel in der taz. Insbesondere, dass Menasse den Ex-Mitgliedern in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache unterstellt hat, kommt nicht gut an. Dass am kommenden Wochenende nun eine Veranstaltung mit der BDS-nahen Autorin A.L. Kennedy stattfinden soll, komme noch hinzu. "Dass man von der BDS-Nähe Kennedys jedoch nichts gewusst haben will, wie etwa Menasse erklärt, wirkt wenig glaubwürdig. ... BDS-Positionen wie Kulturboykotte, das bekennt Eva Menasse im Interview mit der Berliner Zeitung, seien mit den Werten der PEN-Charta unvereinbar. Die Frage bleibt: Warum jenen eine Plattform bieten, die andere Stimmen zum Schweigen bringen wollen? Aus Angst, der 'Cancel Culture' Vorschub zu leisten, denjenigen das Mikro reichen, die mit Leidenschaft selbst 'canceln'? Toleranz gegenüber Intoleranten, ein Hauch von Trotz umweht diese Haltung irgendwie immer." Yücel, sonst für klare Kante gegen Antisemitismus bekannt, "hält an A. L. Kennedy fest, die er für ihre Literatur schätzt. Im Übrigen, sagt er, gebe es durchaus auch Mitglieder, die die Haltung des PEN Berlin als zu eindeutig proisraelisch einstuften." Dazu passend: Nach ihrer Verteidigung in der NZZ (unser Resümee) verteidigt sich Eva Menasse nun auch in der Zeit mit allerdings denselben Argumenten gegen ihre Kritiker.

Außerdem: In einem langen Essay für die Welt umkreist der Schriftsteller Thomas Glavinic seine ADS-Erkrankung, die ihn geradewegs in den existenziellen Ruin treibt. Besprochen werden unter anderem Marlen Hobracks "Schrödingers Grrrl" (FR), Jon Fosses Abschluss seiner "Heptalogie"-Reihe (Standard), Barbara Yelins Comic "Die Farbe der Erinnerung" (Jungle World), Cecilia Joyce Röskis Debüt "Poussi" (Standard), Bernhard Schlinks "Das späte Leben" (online nachgereicht von der FAZ), eine Jubiläumsausgabe von Flix' Comicklassiker "Held" (taz) und Georg Ringsgwandls "Die unvollständigen Aufzeichnungen der Tourschlampe Doris" (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur

Film

Hat sich gut im Griff: "All Eure Gesichter"

Jeanne Herrys Justizdrama "All Eure Gesichter" reiht sich gut ein in die Tradition des französischen Stuhlkreisfilms, schreibt Stefanie Diekmann im Perlentaucher. Der Film handelt vom Sprechen und vom Sprachhandeln. "Die Kombination von bester Absicht und prominentem Cast ist in den meisten Fällen keine gute Nachricht. Der Cast in 'All eure Gesichter' ist exzeptionell. (Allein drei Mitglieder der Comédie Française; die Allzweck-Stars Jean-Pierre Darroussin und Gilles Lellouche; Élodie Bouchez und Miou-Miou als zwei Aktricen mit komplizierten Filmografien; die unübersehbare Nebendarstellerin Anne Benoît …) Und er hat sich erstaunlich gut im Griff in einer Partitur der Halbnahen, Nahen und Detailaufnahmen, in der langsam geschnitten und lange gesprochen wird, manchmal auch längere Zeit geschwiegen und fast nie zu viel veranstaltet. Wer das puristische Kino liebt, wird immer noch manches auszusetzen finden (die Filmmusik, ein etwas redundantes Ende, ein paar überflüssige Rückblenden). Aber das ändert nichts daran, dass es sich um einen klugen, sehr schönen Film handelt, der zudem nach 'Passages' (R: Ira Sachs, 2022) und 'Les cinq diables' (R: Léa Mysius, 2023) Adèle Exarchopoulos endgültig als eine der interessantesten Schauspielerinnen ihrer Generation etabliert."

Wie aus den Achtzigern: "Silent Night"

Hongkong-Actionmeister John Woo meldet sich erstmals seit den frühen Nullern wieder mit einer US-Produktion im Kino zurück - und das mit einem Gimmick: Sein Selbstjustizthriller "Silent Night" bietet bis auf ein paar Textnachrichten keine Dialoge. Tazler Michael Meyns winkt jedoch ab: "Ja, es gibt zwei, drei schöne Actionmomente, auch eine minutenlange Kamerafahrt, mit der Woo seinen vielen Epigonen noch einmal zeigt, wer der Meister ist, aber was soll man über einen Film sagen, der sich anfühlt, als wäre er von 1988? Der jeden Latino als schwerst tätowierten Gangster zeigt, die Polizei als komplett unfähig, einen Jedermann, der in Kürze zum beinharten Superkiller wird. Im Teenageralter konnte man so etwas goutieren, um 1990, als die Welt noch in klare Gut-Böse-Muster eingeteilt war, zumindest scheinbar." Stimmt schon, meint auch FR-Kritiker Daniel Kothenschulte, doch "bei alternden Rockstars werden späte Beweise von Virtuosentum meist frenetisch gefeiert."

Auch Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek wirkt matt nach dem Film: "Man erkennt die Handschrift, man spürt die Energie, aber alles wirkt formelhaft und bemüht, die Choreografie der Schießereien raubt einem nicht mehr den Atem. Der Michelangelo der Action packt ein letztes Mal seine alten Tricks aus, doch die sind inzwischen nichts Besonderes mehr. Sie sind Allgemeingut geworden." Perlentaucher Nicolai Bühnemann hat immerhin Freude an der "Souveränität des alten Action-Meisters. ... Auch wenn es ihm nicht gelingt, an den Irrwitz der Heroic-Bloodshed-Meisterwerke seiner Hongkongfilme der späten 1980er und frühen 1990er anzuknöpfen, ist John Woo hier merklich in seinem Element."

Außerdem: In der FR begrüßt Daniel Kothenschulte die neue Berlinale-Leiterin Tricia Tuttle im "ewigen Berlinale-Dilemma" zwischen Filmkunst, Filmstars und Popularität (mehr zu dieser Personalie bereits hier). Maria Wiesner verbeugt sich in der FAZ vor Sandra Hüller, die gerade mit einem Preisregen und einem großen Porträt im New Yorker einen sagenhaften Lauf auf dem internationalen Parkett hat. Bernhard Heckler berichtet in der SZ (online gestellt vom Tages-Anzeiger) von der Comic-Con in Tokio, wo sich die Hollywoodstars die Klinke in die Hand geben. Patrick Heidmann porträtiert für den Tagesspiegel die nach Eigenauskunft "queer-feministische Filmemacher*in" Julia Fuhr Mann. Für die SZ plaudert David Steinitz mit Matthias Schweighöfer. Denise Bucher besucht für die NZZ die Dreharbeiten der Schweizer Prestigeserie "Davos 1917".

Besprochen werden William Oldroyds gleichnamige Verfilmung des Romans "Eileen" von Ottessa Moshfegh (taz, FAZ), Dominik Grafs auf Arte gezeigter Film "Mein Falke" (FAZ, mehr dazu bereits hier), Henrik Martin Dahlsbakkens "Munch" (FR), Bradley Coopers "Maestro" (NZZ, unsere Kritik) und die zweite Staffel der Actionserie "Reacher" nach einem Roman von Lee Child (ZeitOnline). Und hier der Überblick beim Filmdienst über alle Filmstarts.
Archiv: Film

Bühne

Lviv vibriert vor Leben, die Stadt hat heute 200.000 Einwohner mehr als vor dem Krieg, weiß Dorothea Marcus, die für die taz der Kölner Theatergruppe Futur.3 hinterhergereist ist. Futur.3 zeigt auf Deutsch und Ukrainisch das Stück "Ich will leben", das die Geschichte von Selma Merbaum, einer jungen Dichterin, die 1942 in einem NS-Arbeitslager ums Leben kam, erzählt. "Ist es in Ordnung, sich als unbedrohtes deutsches Theater im Kriegsgebiet Ukraine bejubeln zu lassen? Oder geht es hier um eine Form von Western Saviourism, auch wenn man das Gefühl, im Krieg zu sein, in Deutschland kaum nachvollziehen kann?", fragt Marcus. Für Olha Puzhakovska, künstlerische Leiterin des Lesi Theaters, mit dem Futur.3 kooperiert, "ist es völlig eindeutig, dass deutsche Theater gerade momentan in die Ukraine reisen müssen. Internationale Kooperationen bedeuteten für sie finanzielle Unterstützung und Solidarität - auch, weil in der Ukraine die Kulturbudgets seit Kriegsbeginn empfindlich gekürzt wurden, Schauspieler und Techniker an der Front sind. Seit Monaten tobt im Land eine emotionale Debatte, ob Kultur zurzeit überhaupt gefördert werden sollte - oder ob nicht alle Mittel lieber ins Militär fließen. Aber wofür kämpfen, wenn nicht um die Kultur und Identität des Landes?"

Szene aus "Wer Wind sät". Bild: Christina Iberl.

Während aktuell der linke Antisemitismus an Universitäten offen zutage tritt, bringt das Staatstheater Meiningen mit Frank Behnkes Inszenierung von Paul Grellongs "Wer Wind sät" ein Stück über rechten Antisemitismus und Holocaust-Leugnung an Unis auf die Bühne. Harvard-Professor Charles will einen Nazi an der Uni reden lassen, die jüdische Dekanin intrigiert dagegen, irgendwie geht es um Meinungsfreiheit, resümiert Nachtkritiker Henryk Goldberg, der das Stück für ein Ärgernis hält: "Nicht nur aus Gründen der Ästhetik, nicht nur weil der US-Amerikaner Story und Figuren auf dem Reißbrett entworfen hat, das wäre nur langweilig. Vor allem, weil hier ein wichtiges, ein zunehmend wichtiges Thema versenkt und verspielt wird. Muss man Rechtsradikalen, muss man Antisemiten ein Podium bieten um der Meinungsfreiheit willen? Und wenn sie 30 Prozent der Wähler haben wie in Thüringen? Hier in Grellongs Harvard aber geht es nicht um die Meinungsfreiheit, es geht darum, wie verrottet der universitäre Betrieb ist. Nichts als Intriganten und Opportunisten. Die Gefährdung des offenen Diskurses kommt heute eher aus den Reihen einer aggressiven studentischen Meinungsführerschaft."

Den britischen Theatern kommen die Intendanten abhanden, schreibt Brian Logan im Guardian und fragt: Brauchen Theater überhaupt noch Intendanten? "Die Vorstellung, dass ein Alleinführer die Macht monopolisiert, widerspricht dem Zeitgeist. Der berechtigte Impuls, Macht zu teilen und sie integrativer zu gestalten, wurde durch die Covid-Pandemie, die Privilegienmuster in den Künsten offengelegt hat, erheblich verstärkt. Außerdem fühlt es sich einfach an wie ein noch härterer Job, nach der Corona-Krise und inmitten einer Krise der Lebenshaltungskosten, mit versiegenden Kunstgeldern, einer bedrängten Belegschaft und einem Publikum, das es nicht eilig hat, zu seinen Theatergewohnheiten von vor 2020 zurückzukehren."

Besprochen werden Yana Ross' Inszenierung von Virginie Despentes Roman "Liebes Arschloch" am Schauspielhaus Zürich (FAZ) und Gisèle Viennes Produktion "Extra Life", zu sehen im Rahmen des Pariser Festival d'Automne in der MC93 - Maison de la Culture de Seine-Saint-Denis in der Vorstadt Bobigny (FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Daniel Haas wirft für die NZZ einen Blick auf die jüngste Generation von Deutschrapperinnen: "Wie ihre amerikanischen Kolleginnen tragen diese Künstlerinnen ihre Sexualität aggressiv zu Markte. Sie tun dies allerdings ohne den ordinären Narzissmus der Männer. Shirin David bewirtschaftet die Looks der Pornografie, demontiert in ihren Texten aber diese Ästhetik mit Scharfsinn und Witz. Badmómzjay, die offen bisexuelle Rapperin aus Berlin, attackiert in ihren Songs maskulines Anspruchs- und Besitzdenken und droht einem Typen schon mal, ihm die Freundin auszuspannen. Haiyti, die artistische Quersumme aus Edith Piaf und Bushido, besingt feminines Liebesleid mit überdrehter Melancholie und tritt in ihren Videos mal als drag-inspiriertes Pop-Alien, mal als Gangstergirl in Erscheinung. Wie für Minaj ist Barbie auch für David oder auch für die Schweizer Rapperin Loredana die stilistische Vorlage, um Genderrollen durch die Mangel postmoderner Ironie zu drehen. Die Idee, genderkritisches Bewusstsein und ein tiefsitzendes Décolleté schlössen sich aus, hat mit diesen Künstlerinnen endgültig ausgespielt." Diese Aussicht gefällt Haas offensichtlich so gut, dass er es sich auch nicht nehmen lässt, ein bisschen Gift gegen jene feministische Milieus zu spritzen, die er nicht ganz so sexy findet.

Christine Lemke-Matwey erklärt in der Zeit, warum gerade Taylor Swift der Superstar für das Jahr 2023 gewesen ist: "Swifts Musik ist wie eine superleichte, superflauschige, schmutzabweisende Polyesterdecke", die auch deshalb gut tut, "weil sie nichts anderes zelebriert als ein herrlich unspektakuläres, gut geerdetes, nicht versiegendes kreatives Mittelmaß. Sie hat nie etwas anderes gesagt als Ich und wird nie etwas anderes sagen, da ist sie authentisch. Dieses Ich meint sie selbst, klar; aber es meint eben auch alle 278 Millionen Ichs (oder mehr) um sie herum, jedes einzelne, alle zusammen, immer wieder. Das ist eine große Umarmung und Tat. Die wir gut brauchen können. In einer toxischen, radikalisierten, von Kriegen und Katastrophen zerfressenen Welt wie der des Jahres 2023, in der einem immerzu Bekenntnisse abverlangt werden, tut es wohl, einfach mal in Ruhe gelassen zu werden und trotzdem nicht allein zu sein."

Außerdem: Ljubiša Tošić porträtiert für den Standard die Dirigentin Keren Kagarlitsky, die heute in Wien die Uraufführung von "Lass uns die Welt vergessen - Volksoper 1938" dirigiert. Julia Ramseier staunt in der NZZ über die Improvisationsgabe der Pianistin Gabriela Montero. Max Dax plauscht für die FR mit Helge Schneider. Ljubiša Tošić wirft für den Standard einen ersten Blick aufs Programm fürs Schönberg-Jubiläum im Jahr 2024. Die Welt-Redaktion kürt die besten Popsongs des Jahres.
Archiv: Musik