Efeu - Die Kulturrundschau

Inmitten der Damast- und Silberpracht

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28.12.2023. Die Filmkritiker bekommen in Maite Alberdis still schönem Drama über den chilenischen Oppositionellen Augusto Góngora eine Ahnung, was Sterben bedeuten könnte. Boris Akunin wurde erst mit Preisen überhäuft und nach Kritik am Krieg gegen die Ukraine von Russland nun auf die "Liste der Terroristen und Extremisten" gesetzt, berichtet die taz. Die FAZ kostet in Dresden angehäuftes Wild auf verlassenen Festtafeln. Die SZ begibt sich im c/o Berlin mit Mary Ellen Mark an die Ränder der Gesellschaft. Und die Welt läutet mit Jonathan Tetelman den Generationswechsel unter den Tenören ein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.12.2023 finden Sie hier

Film

Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie mal war: "L.O.L.A."

Andrew Leges britischer, "durchweg faszinierender" Low-Budget-Science-Fiction-Film "L.O.L.A." ist eine echte Entdeckung, schwärmt FR-Kritiker Daniel Kothenschulte: Mit seiner Geschichte über zwei junge Frauen, die sich im Jahr 1941 mittels eines Zeit-Teleskops Filme und Musik aus den Sechzigern und Siebzigern reinziehen, gelingt dem Regisseur "ein ebenso mitreißendes wie zusehends düsteres Pastiche. Dabei bewegt sich der Film auf kürzestem Weg von Wells zu Orwell in einer denkbar grimmigen Vision einer alternativen Vergangenheit. ... Jedenfalls dauert es nicht lange, bis man das Trampeln deutscher Knobelbecher zu englischsprachigen Nazi-Liedern durch ihr Zutun auf Londons Straßen hört. David Bowie ist plötzlich aus der Zukunft ausradiert, während hartkantiger Technobeats faschistische Propaganda transportieren. ... Beatles-Fans werden sich auch des ominösen Found-Footage-Films 'All this and World War Two' von Susan Winslow erinnern, in dem 1976 Lennon/McCartney-Songs einen Zusammenschnitt von Weltkriegs-Wochenschauen untermalten. Genau diese anachronistische Faszination kehrt hier zurück, makabre Untertöne inklusive." SZ-Kritikerin Sofia Glasl findet den Film ganz im Gegensatz etwa zu Christopher Nolans Kino-Gedankenexperimente zu Zeit und Raum "angenehm verspielt" und hat viel Freude an der "Haptik all der Apparate und Medien", die dieser selbst im Found-Footage-Stil auf 16mm anmutender Film präsentiert.

Was es bedeuten könnte, zu sterben: "Die unendliche Erinnerung"

In "Die unendliche Erinnerung" beobachtet die chilenische Filmemacherin Maite Alberdi die letzten gemeinsamen Jahre des Ehepaars Paulina Urrutia und Augusto Góngora. Letzterer war Teil der chilenischen Opposition gegen Pinochet und litt vor seinem Tod an Alzheimer. Perlentaucher Patrick Holzapfel erfährt dabei eine Ahnung, "was es bedeuten könnte, zu sterben". Der Film "ist - mit Ausnahme der zuckerigen Musik - ein angenehm zurückhaltendes Dokument des tragischen aber doch erfolgreichen Kampfes einer Liebe gegen das Vergessen." Die Kamera "hält die richtige Distanz, zeigt was nötig ist, aber nichts darüber hinaus. ... Die Erinnerung, heißt es im Film einmal, wäre die Identität. Paradoxerweise beweist der Film, dass ebendiese Identität auch und vielleicht vordergründig im Vergessen zu finden ist. So tauchen die verdrängten, unverdauten Bilder als Wahnvorstellungen wieder auf, wenn Augusto mit unsichtbaren Menschen streitet. Das Sich-Wieder-Verlieben im plötzlichen Erkennen hängt mehr am vorherigen Vergessen als an der Gewohnheit des Zusammenlebens. Die Liebe richtet sich bedingungslos auch auf den Menschen, der nicht mehr das ist, was er war." Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz bezeugt "stille Bilder von behutsamer Schönheit. ... Welche Bedeutung der Film für Chile hat, zeigt sich schon daran, dass 'La memoria infinita' in der Startwoche "Barbie" von der Spitze der Charts verdrängte. 50 Jahre ist es jetzt her, dass Pinochet sich an die Macht putschte. Das Drama von Augusto und Paulina ist auch das Drama ihres Landes."

Außerdem: Frankreich diskutiert über die Haltung zu den jüngsten Vergewaltigungsvorwürfen gegen Gérard Depardieu, berichtet Andreas Busche im Tagesspiegel. Und das Filmkritik-Team der SZ kürt seine "Magic Moments" 2023. Besprochen werden Susanna Fanzuns Dokumentarfilm "Die Giacomettis" (Perlentaucher), die beiden Horrorfilme "The Queen Mary" von Gary Shore und "Baghead" von Alberto Corredor (FAZ), eine Berliner Ausstellung über Filmplakate (taz), Christos Nikous auf Apple gezeigte Liebeskomödie "Fingernails" (FAZ) und Sofia Coppolas Biopic "Priscilla" ("ein merkwürdig laues, zahnloses Drama", findet Gunda Bartels im Tsp). Außerdem informiert uns die SZ hier, welche Filme sich in dieser Woche wirklich lohnen und welche nicht, und dort verschafft der Filmdienst einen Überblick über alle Filmstarts.
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Kunst

Bild: Tiny, Halloween, Seattle, Washington, 1983 © Mary Ellen Mark, Courtesy of The Mary Ellen Mark Foundation and Howard Greenberg

Ganz gleich, ob Mary Ellen Mark Mutter Theresa, Prostituierte, Hollywoodstars, Kranke oder Teenager bei Abschlussbällen fotografierte - stets waren ihre Porträts geprägt von tiefem Respekt, erkennt Andrian Kreye, der in der SZ in der Mark-Retrospektive "Encounters" im c/o Berlin bewundert, wie viel Zeit sich Mark für die Porträtierten nahm. Manchmal lebte sie am Rand der Gesellschaft, bei den Menschen, die sie mit der Kamera begleitete, etwa, als sie 1983 für das Life Magazine eine Gruppe von Teenagern in den Straßen von Seattle fotografierte: "Es war vor allem Erin Blackwell mit dem Spitznamen Tiny, die sie zu ihrer Hauptfigur machte. Das Mädchen hatte mit 14 schon ihre ersten zwei Verhaftungen wegen Prostitution hinter sich und träumte davon, auf einer Pferdefarm zu leben, Geld für Diamanten und Edelsteine und zehn Kinder zu haben. Von Tiny machte Mark auch ihr vielleicht bekanntestes Foto, ein strenges Porträt, auf dem das Mädchen an Halloween ein schwarzes Kleid und einen Hut mit Schleier trägt. Sie könnte zu einer Cocktailparty unterwegs sein, nur an ihrem Gesicht kann man ablesen, was für eine Härte in diesem Leben lauert."

Adriaen van Utrecht: Großes Stillleben mit Hund und Katze, 1647. Staatliche Kunstsammlungen Dresden

Zwischen Fischtellern und Blumenpracht im Übermaß entdeckt Andreas Platthaus (FAZ) "Zeitlose Schönheit" - so der Titel der Ausstellung der Dresdner Galerie Alte Meister, die derzeit Stillleben aus der eigenen Sammlung zeigt und quer durch die Kunstgeschichte führt: "Die wahre Dramatik der Stillleben-Kunst bieten einmal mehr die verlassenen Festtafeln. Nicht die wandfüllenden Darstellungen von Frans Snijders, die eher lautes Leid anklingen lassen, das bei der Jagd aufs angehäufte Wild oder den Mühen des Imports exotischer Früchte entstanden sein muss (im Gegensatz zum Katalog kann die Saalbeschriftung gar nicht genug auf niederländischen Kolonialismus verweisen), sondern die subtilen Anordnungen auf kleinen Genrestücken, deren Porzellan- oder Glasgeschirr an den Kanten der Tische und Konsolen ständig vom Absturz bedroht scheint. Deren Pasteten wie explodierte Granathülsen inmitten der Damast- und Silberpracht liegen. Oder deren Totenköpfe im Halbdunkel der Randzonen als Buchstützen dienen. Die prekäre Balance des Lebens ist das Thema dieser Malerei, und sie auf vordergründige politische Aussagen aus heutiger Perspektive zu bringen greift zu kurz, denn diese Bilder übten grundsätzliche Kritik an der menschlichen Existenz."

Außerdem: Im Monopol-Magazin denkt Jens Hinrichsen über Kunst unter dem wachsenden Einfluss von Künstlicher Intelligenz nach. Nachrufe auf den im Alter von 68 Jahren gestorbenen New Yorker Künstler Pope.L bringen Hyperallergic und Monopol.

Besprochen werden die Ausstellungen "Naturtalent - 300 Jahre Pascha Weitsch" und "#Weitsch Reloaded - Harz. Fotografie. Heute" im Herzog Anton Ulrich Museum Braunschweig und die Ausstellung "Pascha Weitsch zum 300. Geburtstag" im Städtischen Museum Braunschweig (taz)
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Literatur

Russland hat nun auch den zuvor jahrelang mit Staatspreisen überhäuften Krimiautor Boris Akunin auf seine "Liste der Terroristen und Extremisten" gesetzt, meldet Inna Hartwich in der taz. Seine Bücher sind aus allen Angeboten verschwunden und werden nicht mehr nachgedruckt. "'Meine unglückselige Heimat ist in die Hände von Verbrechern geraten', schrieb Akunin" dazu. Der in Großbritannien lebende Autor war "auf Videoanrufe der kremltreuen Comedians Wowan und Lexus hereingefallen. Diese - sie hatten auch bereits Angela Merkel und Robert Habeck reingelegt - riefen als ukrainischer Kulturminister und ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj bei Akunin an." In diesem Gespräch "berichtete er über seine Unterstützung für die Ukraine. ... Dass Akunins Bücher so bereitwillig aus den Bücherregalen genommen werden, dass auch andere Autor*innen, vor allem die, die der Staat als 'ausländische Agenten' listet, kaum mehr in russischen Buchläden zu finden sind, ist eine neue Zäsur in Putins Russland. Seit den Zeiten des Großen Terrors unter Stalin wurde kein Schriftsteller zum Terroristen erklärt, Bücher wurden zuletzt in der Sowjetunion verboten."

Weitere Artikel: Der Philosoph Wilhelm Schmid liest für die NZZ bei Rilke und Paul Klee zu Silvester nach, wie man sein Leben zum Besseren verändern könnte - und landet schließlich bei der Formel "3B+ES. Die drei großen B stehen für Bewegung, Berührung, Beziehung, plus E für gute Ernährung und S für das Schöne, das bejahenswert erscheint". Die taz bringt die Erzählung "Die Heimsuchung", mit der Susanne Romanowski den Publikumspreis des Open-Mike-Wettbewerbs 2023 gewonnen hat.

Besprochen werden unter anderem Mary Olivers Lyrikband "Sag mir, was hast du vor mit deinem wilden, kostbaren Leben" (FR), Stefanie Sargnagels "Iowa" (online nachgereicht vom Tagesanzeiger für die SZ), die Wiederveröffentlichung von Lore Bergers "Der barmherzige Hügel" (Standard), Giovanni Catellis "Camus muss sterben" (Welt) und die Wiederveröffentlichung von Felix Dörmanns Roman "Jazz" aus dem Jahr 1925 (FAZ). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Jonathan Tetelman als "Werther". Bild: Andrea Kremper

Jonas Kaufmann und Piotr Beczala sind Mitte Fünfzig, Rolando Villazon "abgesungen" - da kündigt sich mit dem 35-jährigen Jonathan Tetelman ein Generationswechsel unter den Tenören an, glaubt Manuel Brug in der Welt spätestens nach dessen Interpretation von Jules Massenets "Werther" unter der Regie von Robert Carsen im Baden-Badener Festspielhaus: "Edel, vielfarbig, feinsinnig präsentiert sich die angenehme, aber mit einigen Metallbeigaben auch durchschlagskräftige Stimme dieses Sängers, der durch seine gleißend schöne, ja elegante Leichtigkeit wie jugendlich lässige Unbekümmertheit aufhorchen lässt. Noch interpretiert Tetelman noch ein wenig zu gleichlautend. Aber er weiß, was er kann und stellt das gern aus. Und es blüht eine souverän geführte Spinto-Stimme mit angenehmem Wiedererkennenswert auf. In Jonathan Tetelman hat die Opernwelt also neuerlich einen frischen, gutaussehenden, für die großen italienischen Tenorrollen sich anbietenden Interpreten ausgemacht. Zudem vereinigt er das Beste aus zwei Welten: Feurig-lateinamerikanisches Pfeffertemperament und US-amerikanisches Arbeitsethos und Fleiß."
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Musik

Wie jedes andere technologische Instrument ist auch KI Chance und Gefahr zugleich, meint Jovanka von Wilsdorf im ZeitOnline-Gespräch mit Titus Blume. Dass man bei KI nur noch einen Knopf drücken muss und sich zurücklehnen kann, wie einige Kritiker behaupten, lässt die Songwriterin, die bereits seit einiger Zeit KI-Songcontests veranstaltet, nicht ohne weiteres gelten: "Die KI-Tools können uns einen Teil der Grundarbeit abnehmen, sodass mehr Platz für die kreative Arbeit bleibt. Das ist in etwa, als würde ich Mehl kaufen, um damit zu backen. Ich war nicht auf dem Feld, ich habe nicht geerntet, aber niemand würde sagen, ich hätte den Kuchen nicht selbst gebacken. Auch mit KI bleibe ich die Musikerin." Sie "bietet uns in der Musik eine neue Dimension an Möglichkeiten, und es kommt darauf an, wie wir diese nutzen. Wichtig sind dabei Offenheit, ein kritischer Blick und vor allem Eigenverantwortung. Besprochen wird dieses Thema aber gerade meist als Heilsversprechen oder Horrorszenario. Das ist nicht nur Quatsch, sondern leider auch gefährlich, weil die tatsächlichen Herausforderungen unter den Tisch fallen."

Weitere Artikel: Karl Gedlicka spricht für den Standard anlässlich eines neuen (und in der FR besprochenen) Dokumentarfilms mit Joan Baez über deren Leben und Werk. Für die Zeit porträtiert Timo Posselt die Harfenistin Kety Fusco. Jan Brachmann besucht für die FAZ das Schumann-Haus in Düsseldorf, das nach fünf Jahren Umbauzeit als Museum wiedereröffnet wurde. Marko Martin erzählt in der taz von seinem Besuch im neuen Hard Rock Café im andalusischen Marbella. Im FAZ-Kommentar erinnert Jan Brachmann an Wolfang Schäubles tiefer Liebe zur klassischen Musik. Das SZ-Musikteam kürt seine besten Alben des Jahres. Juliane Liebert etwa hatte 2023 am meisten Freude an Yeules Album "Softscars", für sie "ein Akt des Widerstands gegen Unmenschlichkeit":



Besprochen wird das neue Album von Nicki Minaj (NZZ-Kritiker Daniel Haas beschreibt die einstige Provokateurin als "reflektierte, in den Verteilungskämpfen des Showbiz gereifte Frau").
Archiv: Musik