Efeu - Die Kulturrundschau

Friseure wären sonst menschlich enttäuscht

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29.02.2024. Zwischen goldenen Gebissen, Girls und Platin-Bananen atmen FAZ und FR auf, dass die große Hip-Hop-Schau in der Frankfurter Schirn ganz ohne Antisemitismus, Machismus und Homophobie auskommt. Eine neue "Kunstschau des Antisemitismus", befürchtet derweil die NZZ in Venedig. Jonathan Glazers in Cannes gefeierter Film "The Zone of Interest" erfüllt Claude Lanzmanns Maßstab, wie man vom Holocaust erzählt, glaubt die FAZ. Perlentaucher und Filmdienst haben Zweifel. Henryk Broder verrät seinem Kollegen Deniz Yücel in der Welt, warum kein Filmemacher auf die Idee gekommen ist, Solidarität mit den Ukrainern zu zeigen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.02.2024 finden Sie hier

Film

Nazi-Badespaß am Rande des Holocausts: "The Zone of Interest"

Heute startet Jonathan Glazers "The Zone of Interest" in den deutschen Kinos. Der Film über das Idyll der Familie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß in unmittelbarer Nachbarschaft zur Massenvernichtung der Juden wird seit der Goldenen Palme in Cannes vergangenes Jahr insbesondere mit Blick auf die Darstellung des Holocaust im Film diskutiert: Dieser findet hier nur als aufs Off verweisende Spur statt - etwa als aufsteigender Rauch über Mauern im Bildhintergrund oder auf der Tonspur des Films. "Als Claude Lanzmanns 'Shoah' vor fast vierzig Jahren ins Kino kam, setzte er einen Maßstab dafür, wie man von der Massenvernichtung erzählt, ohne sie zu zeigen", erinnert Andreas Kilb in der FAZ. "'The Zone of Interest' ist der erste Spielfilm, der ihn erfüllt."

Patrick Holzapfel zeigt sich im Perlentaucher dennoch skeptisch: "In einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen sterben, müsste gerade das Kino sein Verhältnis zum Nicht-Verdrängen des Holocausts überdenken. 'The Zone of Interest' will ein verantwortungsvoller Film sein, der alle bereits gemachten Fehler umschifft. Er wiederholt aber letztlich nur das Bemühen um intellektuelle Souveränität, der es im Kern vor allem an Menschlichkeit mangelt. Oder ist es verboten, das leider nur der Redensart nach Unmenschliche menschlich zu filmen? Wahrscheinlich müsste man genauer definieren, was diese Menschlichkeit wäre, sie ist aber sicher irgendwo dort zu finden, wo man kein Wort mehr herausbringt, wenn man sich vergegenwärtigt, was in den Vernichtungslagern geschehen ist." In einem großen Filmdienst-Essay legt Holzapfel seine Gedanken noch etwas ausführlicher dar.

Auch Lukas Foerster hat im Filmdienst insbesondere wegen "Glazers allzu kalkulierter Informationspolitik", die es beim Beiläufigen bewenden lässt, mitunter Zweifel, ob dieser Film wirklich das Meisterwerk ist, zu dem er seit Cannes erklärt wird: "Zu kritisieren ist daran nicht, dass Glazer Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung anzuwenden versteht, die zwar nicht dieselben sind wie die der Kulturindustrie, aber letztlich genauso formalistisch, also unter Absehung der Inhaltsebene, funktionieren; sondern, dass er es im Großen und Ganzen dabei bewenden lässt, also bei der fast schon seriell anmutenden Produktion von Kippbildern zwischen Alltag und Schrecken. Aller Raffinesse im gestalterischen Detail zum Trotz führt der Film kaum über den bereits in den Eingangsszenen etablierten Skandal einer in die Überschreitung eingepassten Normalität hinaus." Weitere Besprechungen in taz, Standard und Tagesspiegel.

"Die Berlinale braucht keine Vorschriften, keine politischen Drohungen, sie braucht in aller Freiheit einen Reset", schreibt Katja Nicodemus in der Zeit unter den Eindrücken aktueller Wortmeldungen aus der Politik und im Hinblick auf die neue Festivalleitung. Und weiter: "Die es auf Unversöhnlichkeit anlegen, handeln geschickt, denn Israel als 'Apartheidstaat' zu bezeichnen und ihm vorzuwerfen, einen 'Genozid' zu verüben, verstößt nicht gegen das Strafrecht. ...  Im Kulturbereich ist der Staat aufgerufen, Kunst- und Meinungsfreiheit in besonderer Weise zu schützen. Er kann und soll nicht Gesinnungen überprüfen oder Meinungen kontrollieren. Neutral in Sachen Juden und Israel ist er keineswegs, aus geschichtlichen Gründen kann und will er das nicht sein. So steckt er nun in dem heillosen Dilemma, gegen die antiisraelische Propaganda etwas tun zu müssen, doch ohne juristische Handhabe."

Und doch: Auf Twitter kursieren immer noch die Fragen, warum zum Beispiel die Festivalleitung nicht den Schauspieler David Cunio erwähnte, der 2013 einen Film auf der Berlinale hatte und der heute mit seinen Kindern und seiner Frau zu den Geiseln der Hamas gehört. Nils Minkmar hatte in seinem SZ-Artikel (unser Resümee) am Dienstag diese Frage zuerst gestellt.


Mal abgesehen von der Frage, ob die Entgleisungen bei der Berlinale-Abschlussfeier antisemitisch waren oder nur das Prädikat Meinungsfreiheit verdienen, fragt Welt-Autor Henryk Broder in Antwort auf Deniz Yücel (der gestern die Freiheit auch des "dummen Worts" verteidigte, unser Resümee), "warum kein Filmemacher auf die Idee gekommen ist, sich in eine ukrainische Flagge zu hüllen, als Zeichen der Solidarität mit den Ukrainern, die seit zwei Jahren von den Russen gebombt werden. Hast Du schon darüber nachgedacht, lieber Deniz, warum das so ist? Soll ich es Dir sagen? Mach ich gerne. Was die Palästina-Freunde triggert, ist nicht das Leiden der Palästinenser, sondern der Umstand, dass es Juden aka Israelis sind, die die Palästinenser leiden lassen."

Im SZ-Gespräch mit David Steinitz bekräftigt der Regisseur İlker Çatak seinen Ärger darüber, dass seine Oscarnominierung für "Das Lehrerzimmer" im Zusammenhang mit den Nominierungen für Sandra Hüller und Wim Wenders in deutschen Medien seltener erwähnt oder sein Name mitunter unterschlagen wird (unser Resümee). "Mein Großvater war Bauer, der erst in Deutschland lesen und schreiben gelernt hat, und jetzt ist sein Enkel für Deutschland für einen Oscar nominiert. Das wäre neben dem ganzen 'Ausländer raus'-Geplärr der AfD doch mal ein tolles Beispiel für gelungene Integration gewesen. Das kann junge Leute mit Migrationsgeschichte inspirieren. Ich weiß noch, wie wichtig es für mich war, statt all der deutschen Namen 'Fatih Akın' in einem Abspann zu sehen." Im Welt-Kommentar will Marie-Luise Goldmann den Rassismus-Vorwurf allerdings nicht stehen lassen: Hüller und Wenders seien schlicht bekannter. "Eher wäre also ein einseitiger Fokus der Medien zu bemängeln, der sich immer wieder auf einige wenige Superstars konzentriert. Verständlich wäre also eine Kritik an der Art, wie Medien sich aus aufmerksamkeitsökonomischen Gründen zunehmend dazu hinreißen lassen, Schlagzeilen mit Prominenz zu generieren."

Weitere Artikel: Andreas Scheiner spricht für die NZZ mit Agnieszka Holland über deren polnisches Grenzdrama "Green Border". Beate Hausbichler spricht mit Daniel Sanin von der Beratungsstelle #WeDo über Machtmissbrauch beim Film. Besprochen werden Denis Villeneuves Science-Fiction-Epos "Dune: Teil 2" (Perlentaucher, FD, FR, NZZ, Presse), Shujun Weis chinesischer Film Noir "Only the River Flows" (FD, SZ), Christian Johannes Kochs und Jonas Matauscheks Dokumentarfilm "Wir waren Kumpel" über das Ende des Steinkohlebergabbaus in Deutschland (FD, SZ) und Ian Penmans Buch "Fassbinder - Tausende von Spiegeln" (Jungle World). Und hier außerdem alle Filmkritiken des Filmdiensts zur aktuellen Kinowoche.
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Kunst

Hank Willis Thomas, Black Power, 2006, Chromogener Druck, 40,6 x 50,8 cm, Barret Barrera Projects, © Hank Willis Thomas

In Amerika ist Hip-Hop längst im Museum angekommen, in Deutschland erst dank der Schau "The Culture" in der Frankfurter Schirn, die allerdings zuvor im Baltimore Museum of Art zu sehen war, weiß Elena Witzeck (FAZ). Der Gefahr des "voyeuristischen" europäischen Blicks entgeht die Schau durch Lässigkeit und Selbstreflexion, atmet die Kritikerin auf: "Was wir sehen, sind jede Menge Codes und Referenzen. Miguel Lucianos 2006 für 'Plátano Pride' mit Platin umhüllte Kochbanane: Aus dem Grundnahrungsmittel wird ein Objekt zum Protzen. Anthony Akinbolas schwarze Durags, die schon lange dem Schutz von Afrohaar dienen, zerschnitten und gedehnt und neu zusammengenäht, sodass sie eine schimmernde Oberfläche ergeben, die sich, je nach Betrachter, mit Rothkos und Rauschenbergs Nuancen von Schwarz messen will. Wir sehen 'Grillz', die goldenen Gebisse reicher Rapper samt Verweis auf das Gebiss George Washingtons, das, zur Erinnerung, aus Elfenbein, Golddraht und Zähnen versklavter Schwarzer gefertigt war. Wir sehen Robert Pruitts 'For Whom the Bell Curves', ein Sortiment von Goldketten, das die Routen des Sklavenhandels von der Westküste Afrikas bis zur Ostküste Amerikas beschreibt. 'Now you know', würde Notorious B.I.G. sagen."

"Und was ist mit der Kritik an dem aggressiven, zur Schau getragenen Mackertum, an Machismus, Homophobie und Antisemitismus in der Szene? An Sexismus, Misogynie und Gewaltverherrlichung in vielen Hip-Hop-Videos und -Texten?", fragt Lisa Berins in der FR: "Zum Glück erspart die Ausstellung den Besucherinnen und Besuchern Beispiele dafür (ist ja auch eine Geburtstagsausstellung!), stattdessen gibt sie künstlerischen Reflexionen darüber Raum: Die New Yorker Künstlerin Nina Chanel Abney gestaltete 2021 das Cover für das Album 'Expensive Pain' von Meek Mill. In ihrer illustrierten Collage schwirren Cash, Cars und Schwarze, nackte Girls um einen Rapper - das Cover löste eine öffentliche Diskussion darüber aus, ob es sich um Parodie und Kritik an sexistischen Stereotypen und binärgeschlechtlichen Klischees handelt."

Die Petition, die den Ausschluss Israels von der Venedig Biennale fordert, hat nach eigenen Angaben inzwischen 18.000 Unterzeichner. (Unser Resümee). Es droht die nächste "Kunstschau des Antisemitismus", wenn jetzt nicht klar "Position gegen jegliche Form von judenfeindlichem Aktivismus" bezogen wird, warnt Philipp Meier, der in der NZZ auf eine besondere Absurdität aufmerksam macht. Der in Rio de Janeiro geborene Kurator Adriano Pedrosa hat die Schau nämlich unter das Motto "Foreigners Everywhere" gestellt, mit dem Ziel, "vor allem Kunstschaffende einladen, die sich selber als Ausländer, Immigranten, Ausgewanderte, in der Diaspora Lebende, Emigrierte, Exilierte und Flüchtlinge verstehen. Umso befremdlicher wäre es, an dieser Biennale im Zeichen des Fremden ausgerechnet jenem Staat eine Teilnahme im Bereich der Länderpavillons zu verweigern, der nach dem Holocaust als Heimat für die seit je verfolgten Juden gegründet wurde. Auch heute noch gelten Juden in der Diaspora oft genug als die Fremden schlechthin." Auch Italiens Kulturminister Gennaro Sangiuliano ist entsetzt, ergänzt Birgit Rieger im Tagesspiegel: Er "nannte das Schreiben in einer Erklärung 'inakzeptabel' und 'schändlich'. Israel habe 'nicht nur das Recht, seine Kunst auszudrücken, sondern auch die Pflicht, seinem eigenen Volk Zeugnis abzulegen, zu einem Zeitpunkt, an dem es von skrupellosen Terroristen aus heiterem Himmel schwer getroffen wurde.'"

Besprochen werden die die Jeff-Wall-Ausstellung in der Fondation Beyerle bei Basel (SZ, mehr hier) und die Ausstellung "George Hoyningen-Huene: Glamour & Style" in der Berliner Galerie Jäger Art (taz)
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Bühne

"Ich werde Dich immer lieben", schreibt Fabian Hinrichs, der zuletzt mit Rene Pollesch das Stück "ja nichts ist ok" für die Volksbühne erarbeitete, in einem sehr persönlichen Nachruf im Spiegel und in der nachtkritik an seinen engen Vertrauten. Vor allem aber rechnet er mit dessen Nachrufern ab: "Wenn ich manche dieser Echos, dieser Rufe lese, kann ich nicht anders, als an den Hass zu denken, den teilweise dieselben Leute, die jetzt pseudobetroffen in ihre Tastatur weinen, in den letzten zweieinhalb Jahren über ihn ausgegossen haben. Es lief nicht immer rund in der Zeit seiner Intendanz  - der Bruch der Pandemie, das mediale Verlangen nach bleischweren Antworten statt politischer Poetologie -, aber selbst dann, selbst dann gab es doch immer wieder Stücke, die eine große Kraft besaßen. Wo sonst bitte, wo bitte sonst hat man auch nur eines solcher Stücke überhaupt gefunden in Deutschland, Österreich, Schweiz? Eine solche künstlerische Freiheit im Geiste und im Tun? Dieser Hass ging ihm zu Herzen. Das könnt ihr wörtlich nehmen."

Weitere Artikel: Für die FAZ hat sich Irene Bazinger mit Viktor Bodos Inszenierung von Felicia Zellers an Gogol angelehntes Stück "Die gläserne Stadt" am Hamburger Schauspielhaus und Nino Haratischwilis Inszenierung "Penthiselea - Ein Requiem" im Deutschen Theater in Dresden gleich zwei Stücke angesehen, die sich im weitesten Sinne mit Korruption in der Oberschicht beschäftigen. Aber es ist vor allem Zelles "grandios verrückte", im Hamburger "Reiche-Leute-Gaunermilieu" angesiedelte Geschichte, die Bazinger einfach umhaut.

Besprochen werden Oliver Reeses Inszenierung von Marius von Mayenburgs Stück "Ellen Babic" am Berliner Ensemble ("schlicht und einfach gut gemachtes Theater", meint Jakob Hayner in der Welt), Torstein Aagaard-Nilsens Inszenierung von Henrik Ibsens Operneinakter "Gespenster" am Staatstheater Meiningen (FAZ) und Simone Geiers Inszenierung "Meine Hölle / Моє пекло" von Oksana Savchenko im Theater Heidelberg (taz).
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Literatur

Der Schriftsteller Eshkol Nevo sammelt in einem Beitrag für die FAZ Realitätssplitter aus Israel nach dem 7. Oktober. Die Fiktion ist ihm suspekt geworden:  "Meinen Studentinnen sage ich immer: Die Realität ist guter Stoff. Nehmt euch von ihr, was ihr braucht. Aber lasst euch durch sie nicht begrenzen. Um ein Ereignis, das euch in eurem Leben geschehen ist, in eine Geschichte zu verwandeln, müsst ihr es radikal übertreiben. ... Aber was tut man im Krieg, wenn die Realität selbst eine Radikalisierung erfährt, ihre eigenen Grenzen sprengt und grenzenlos dramatisch wird? Seit dem 7. Oktober sammle ich Momente. Höre viel zu. Bin Zeuge. Und schreibe das erste Mal in meinem Leben über die Realität, wie sie ist."

Weitere Artikel: Die FAZ hat Lennart Laberenz' Porträt der finnischen Autorin Terhi Kokkonen online nachgereicht. Besprochen werden unter anderem Elena Malisowas und Katerina Silwanowas in Russland mittlerweile verbotener Roman "Du und ich und der Sommer" (Presse) und Aurora Venturinis "Wir, die Familie Caserta" (FAZ).
Archiv: Literatur
Stichwörter: Nevo, Eshkol, Israel, 7. Oktober

Musik

Standard-Kritiker Karl Fluch packt beim neuen, mit John Squire eingespielten Soloalbum des früheren Oasis-Sängers Liam Gallagher in erster Linie das große Gähnen: Zwar klingt es "lebendiger als alles, was er seit dem Ende von Oasis veröffentlicht hat", doch das hängt vor allem mit Squire zusammen: "Eingängige Melodien schüttelt Squire locker aus dem Gelenk, das kann er, und die sich durchs Werk ziehenden Sixties-Reminiszenzen sind eine Art Daseinspflicht, die Friseure der beiden wären sonst menschlich enttäuscht. Und höher gezielt hat Gallagher ohnehin nie.  Ihm reicht es, seiner Meinung nach in Beatles-Sphären zu schweben. Ob das zutrifft oder nicht, ist ihm egal. ... Das Album klingt insgesamt wie ein Museumsstück, brav renoviert und vom Staub befreit, aber dennoch wie aus der Zeit gefallen. 'I'm so bored with this song', singt Gallagher im vorletzten Lied. Das könnte locker schon am Anfang stehen."



Außerdem: Die Welt hat Manuel Brugs Porträt des Mandolinisten Avi Avital online nachgereicht. Besprochen werden ein neues Album sowie ein Memoir der Punkkünstlerin Laura Jane Grace (taz), ein Konzert des Leonkoro Quartetts (Tsp) und der Wiener Auftritt von Air (Presse, Standard).
Archiv: Musik
Stichwörter: Gallagher, Liam, Britpop