Erzählungen

So wohnt Mark Zuckerberg

Von Sascha Josuweit
22.03.2011. Einer wie Zuckerberg musste einen wie McBeath zwangsläufig mit Geringschätzung betrachten, davon war McBeath überzeugt. In Wirklichkeit betrachtete Zuckerberg ihn mit dem denkbar größten Respekt, schließlich stand McBeath keine fünf Meter von ihm entfernt und zielte mit einer Winchester Safari auf Zuckerbergs Eier... Eine Erzählung
Es war ein herrlicher Morgen in der Bay Area. Die Sonne meinte es gut mit den Abermillionen Solarmodulen im Silicon Valley. Der Lokalsender von Palo Alto spielte Suzie Q in der Version von Doug Cliffords Creedence Clearwater Revival Coverband, aber das war egal. Mark Zuckerberg hatte gerade den Türgriff seiner Haustür in der Hand. Er hielt den Türgriff in der Hand, was denn sonst, wenn er die Tür öffnen wollte, musste er den Griff runterdrücken, so war das nun mal. Zuckerberg hatte schlecht geschlafen in seinem neuen Haus, die frisch installierte Überwachungsanlage war in der Nacht dreimal losgegangen und er hatte den Cops die Sache erklären müssen. Beim ersten Mal hätten sie ihm fast nicht geglaubt und um ein Haar mit aufs Revier genommen, als sie zwei Stunden später noch einmal vorbeikamen, kannten sie ihn schon und nickten nur und dachten, hoffentlich lässt der Spinner das gleich morgen reparieren, beim dritten Mal, das war so gegen halb acht, waren sie nicht mal mehr aus dem Wagen ausgestiegen, sondern hatten ihm nur durch das geöffnete Fenster zugewinkt. Zuckerberg hatte im Pyjama an seiner Haustür gestanden und zurückgewinkt.
Zuckerberg, was für'n bekloppter Name, sagte Katie Wu zu ihrem Kollegen im Streifenwagen. Jude, sagte Ofer, der es wissen musste, und Katie fragte nicht weiter, sondern dachte wieder an den süßen Boy, mit dem sie sich vergangene Woche auf Facebook angefreundet hatte. Es war das erste Mal, dass es ihr nicht gleichgültig war oder sogar unangenehm, wie bei diesem Typen aus Carson City, der Tess und sie echt genervt hatte eine Weile. Ich glaube, ich bin verknallt, sagte Katie, doch nicht zu Ofer, der verstand nichts davon, zu Tess, zu Stella und zu Erin vielleicht, oder nee, zu Erin lieber nicht, die plapperte immer gleich los und dann wussten es alle und überhaupt, was war denn passiert, nichts, aber wenn es nach ihr ginge, könnte schon was, vielleicht ja schon morgen, wer konnte das wissen, da trafen sie sich bei Conny's und hinterher Kino und danach, wer weiß, aber Erin erzählte oft Dinge über einen, die man selbst noch nicht wusste, ganz anders Tess und Stella, haha, Stella war so was von verschwiegen dagegen, da musste schon ein anderer Golden Retriever vorbeikommen, dann konnte die aber bellen, also Stella würde sie es erzählen, ja, und Tess schon auch.

"Tess. Te-ess!"
"Mom?"
"Schatz, ich hab die Hände nich frei, ich mach mir die Strähnen.
"Ja, Mom."
"Tessie, es hat geläutet. Gehst du bitte mal. Bestimmt ist es das Gehege für Mikeys Roboterspinnen."
"Was?"
"Mike. Mikey wollte es so gerne haben, alle in seiner Klasse haben eins. Erklär's dir später, okay. UND JETZT MACH BITTE EINFACH DIE TÜR AUF!"

Also Tess würd ich's sagen und ... Katie wurde unterbrochen. Gerade, als Ofer den Wagen wieder in Gang setzte, kam es über den Sender: Shots fired, Birch Street, Höhe Leland. Das war gleich um die Ecke.
Mark Zuckerberg stand immer noch auf dem Treppenabsatz. Er sah aus wie ein verschlafener Teenager, der seine Eltern verabschiedet: Drei Wochen Europa, drei Wochen sturmfreie Bude und der Typ verzieht keine Miene, was für ein Phlegma!
Ofer Horwitz beschleunigte den Wagen und bog in die Stanford Avenue ein, und Zuckerberg legte sich noch ein bisschen aufs Ohr.

Mikey ist so ein Idiot, Tess lief die Treppen hinunter, was muss er sich rumtreiben, warum kann er nicht mit dem Arsch zu Hause bleiben, wenn Post für ihn kommt, bei dem hab ich was gut.
"Tess, ist es das Päckchen?"
"Moment noch, Mom", antwortete Tess viel zu leise.
Sie öffnete die Haustür, und noch ehe sie sein Gesicht einordnen konnte, stieß ihr McBeath, dieser Psycho, mit dem Gewehrkolben die oberen Schneidezähne heraus, pok, alle vier, ein sauberer Stoß. Tess spürte, wie das Blut in die Mundhöhle schäumte. Zugleich geschah etwas Komisches mit ihrem Gesicht, es begann zu wachsen, lief über, stülpte sich über ihre Schultern, ihre Brüste, auf die sie so stolz war, weil sie eine Nummer größer waren als die ihrer Freundin Kate, bis hinunter zu den Füßen, mein Gott, ist das eklig, ich seh aus wie ein Freak, Mikey, du kleiner Bastard, ich hab was gut bei dir und ob, dachte sie noch, dann verlor sie das Bewusstsein.
"Tess? Ach, Scheiße, muss man denn alles selber machen?"

Wovon träumte Mark Zuckerberg in seinem Haus? Meistens schlief er tief und traumlos und erwachte zeitig von allein, frisch und gestärkt. Manchmal jedoch, in den frühen Morgenstunden, suchte ihn dieser unselige Fäkaltraum heim. Es war wie ein Fluch, den er nicht abschütteln konnte, wie ein Fleck, der nicht weggeht, er sprach mit niemand darüber, und vielleicht war das der Grund, warum er diesen Scheißtraum nicht loswurde. Die Winklevoss-Zwillinge kamen drin vor und ein Luftballon voller Exkremente. Es war schon widerlich. Zuckerberg erwachte jedes Mal mit einem Gefühl tiefster Scham. Vielleicht auch diesmal. Oder bewahrte das Läuten ihn vor der peinlichen Geschichte? Dass er so arglos die Tür öffnete, hatte allerdings einen anderen Grund. Nach den Ereignissen der letzten Nacht hatte er fest damit gerechnet, in die vertrauten Gesichter von Katie Wu und Officer Horwitz zu blicken. Stattdessen blickte er in die Mündung des Gewehrs von Elmer McBeath.

Elmer McBeath war ein Loser und auch wieder nicht, das kam ganz auf den Standpunkt an. Für Elmer McBeath zum Beispiel war Elmer McBeath ein Kerl, der wusste, wann seine Ehre auf dem Spiel stand. Es war nicht das erste Mal, dass er jemand zeigen musste, wo seine Grenzen waren. Und diese Tess hatte definitiv eine Grenze überschritten. Dass sie seine unbeholfenen Mails nicht beantwortete, übrigens genau wie ihre schlitzäugige Freundin Kate, war das eine, doch als sie in ihr Profil schrieb, sie stehe nicht auf legasthenische Hinterwäldler, die nach Pferdemist stinken, und ihn auf Facebook sperren ließ, da machte sie einen Fehler. McBeath schlief nicht. Er trank eine halbe Flasche Zielwasser, dann packte er die Winchester in den Kofferraum seines alten VW Caddy und fuhr los. Besonders eilig hatte er es nicht. Für die 250 Meilen von Carson City runter nach Palo Alto brauchte er sechs Stunden. Kurz vor halb acht war er da.

Als Kate sich über sie beugte, fehlten ihrer Freundin wie durch ein Wunder nur ein paar Schneidezähne und ihre Oberlippe war so groß wie die Stoßstange von einem Pick-up. In diesem Fall kam das Wunder in Gestalt einer fehlerhaften Platine in der Elektronik von Mark Zuckerbergs Alarmanlage. Eine richtige Wundertüte war das. Ihr hatte es Zuckerberg auch zu verdanken, dass er Besuch von Elmer McBeath bekam. Eine halbe Stunde später und er wäre auf dem Weg ins Büro gewesen.

McBeath lud die Winchester durch. Die erste Ladung steckte in der Kuh mit der Strähnenhaube auf dem Kopf, die plötzlich aufgetaucht war und mit ihrer Hysterie noch die ganze Nachbarschaft alarmiert hätte. Es war nicht mal Zeit gewesen, Tess ihre moralische Verkommenheit auseinanderzusetzen. Hatte sie ihn überhaupt erkannt, bevor sie ohnmächtig wurde? Und wo waren die Bullen so schnell hergekommen? Er hatte durch den Garten türmen müssen wie ein Dieb. Er war ein paar Blocks gelaufen, da stand er auf einmal vor diesem Haus, das ihm bekannt vorkam, und im nächsten Moment fiel ihm auch schon der Zeitungsartikel ein: "So wohnt Mark Zuckerberg". Wenn das kein Zufall war. Das wollte er sich doch mal ansehen, wie so einer lebte. Wo er schon einmal da war. McBeath sah den Klingelknopf und stutzte. Was hatte er denn erwartet? Irgendwie kam es ihm falsch vor, dass hier ein Klingelknopf war, ungefähr so, als würde er, Elmer McBeath, mit silbernem Besteck essen oder sich von einem Chauffeur herumkutschieren lassen, lächerlich. Fast hätte er die Hand zurückgezogen.
Einer wie Zuckerberg musste einen wie McBeath zwangsläufig mit Geringschätzung betrachten, davon war McBeath überzeugt. In Wirklichkeit betrachtete Zuckerberg ihn mit dem denkbar größten Respekt, schließlich stand McBeath keine fünf Meter von ihm entfernt und zielte mit einer Winchester Safari auf Zuckerbergs Eier. Die Situation war eigentlich nicht komisch, auch nicht für McBeath. Schließlich würde es nicht lange dauern und man würde ihn hier rausschaffen, mit den Füßen zuerst. Dennoch musste er lachen, es war doch verrückt, er konnte den Klingelknopf einfach nicht vergessen. Der arme Zuckerberg begriff überhaupt nichts.

Die Polizei rekonstruierte das Geschehen so: Elmer McBeath, ein Außenseiter mit latenter dissozialer Persönlichkeitsstörung, geringer Frustrationstoleranz und sprunghaft ansteigender Gewaltbereitschaft aus Carson City, Nevada, fühlte sich von der jungen, attraktiven Tess Myers abgewiesen, nachdem er sie einige Wochen zuvor in einem Internetchat kennengelernt und sie, nun ja, umworben hatte. Er betrank sich und fuhr nach Palo Alto in Kalifornien, um Miss Myers zur Rede zu stellen (angesichts der vier herausgeschlagenen Schneidezähne eine recht steile These). Dabei kam ihm die Mutter von Miss Myers in die Quere. Sie starb durch zwei Schüsse Kaliber 416 in Brust und Bauch. Entweder hatte der Täter nicht einmal die naheliegendsten Umstände kalkuliert, etwa, dass sich außer Miss Myers noch andere Personen im Haus aufhalten könnten, oder aber er hatte es kaltblütig in Kauf genommen.
Dass es auch Mark Zuckerberg erwischte, überraschte die Ermittler kaum. McBeath, so schlossen sie tollkühn, schrieb das Gefühl seines Minderwerts nicht allein dem Verhalten von Miss Myers zu. Vielmehr glaubte er, die menschenverachtende Tendenz eines Mediums erkannt zu haben, als dessen perfekter Repräsentant ihm Zuckerberg erscheinen musste. Der zufälligen Nachbarschaft der beiden vermeintlichen Urheber von McBeaths Martyrium maß man keine weitere Bedeutung bei, ebenso dem Umstand, dass der Täter sich schließlich selbst richtete, ein nahezu klassischer Hergang.
Ein Fernsehpsychologe sprach von einer fatalen Verwirrung der Verhältnisse im Kopf des Täters und von einem typischen Fall von Schuldprojektion. Der Presse fiel auch nichts Besseres ein. Ein Reporter hatte immerhin eine Idee. Elmer McBeath sei ein Enthusiast, schrieb er, ein Dummkopf zwar, aber einer, der ab einem gewissen Punkt aufhört, ein Dummkopf zu sein, und sich in einen Irren verwandelt. Der verantwortliche Redakteur wollte den Artikel erst nicht drucken, etwas daran erinnerte ihn an seine Ex-Frau, eine leidenschaftliche Leserin russischer Romane des 19. Jahrhunderts, doch er kam ums Verrecken nicht drauf, was es war.