Intervention

Kollaps einer Scheinriesin

Von Richard Herzinger
29.12.2022. Noch mehr als ihre fehlende Bereitschaft zur Selbstkritik irritiert die Ungerührtheit, mit der Angela Merkel die Schrecken der russischen Aggression hinzunehmen scheint. Hatten ihr doch selbst Weggefährten, die ihrer nachgiebigen Russlandpolitik kritisch gegenüberstanden, stets bescheinigt,  das Schicksal der Ukraine liege ihr persönlich am Herzen. Ihre Äußerungen lassen keine Einsicht erkennen. Mit ihren Signalen in Richtung einer "Verhandlungslösung" mit den Aggressoren artikuliert sie eine weit verbreitete Haltung.
Gut ein Jahr nach dem Ende ihrer Amtszeit als Bundeskanzlerin liegt Angela Merkels politisches Vermächtnis in Trümmern - jedenfalls, was ihre Russlandpolitik betrifft. Der russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine hat ihre Strategie der Einhegung des Kreml durch "Dialog" und Einbindung in Verhandlungsformate auf grauenhafte Weise zunichte gemacht. Die entsetzlichen Folgen trägt die Ukraine. Doch auch für die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft hat der - von fast der gesamten deutschen politischen Elite mitgetragene - verfehlte strategische Ansatz Merkels gravierende Konsequenzen. Es rächt sich jetzt ihr starres Festhalten an der Energieabhängigkeit von Russland, die durch das von ihr bis zuletzt befürwortete Gaspipelineprojekt Nord Stream 2 sogar noch verstärkt werden sollte.

Doch nach wie vor weigert sich die Ex-Kanzlerin, ihr Scheitern einzugestehen - geschweige denn, ihre fatalen sicherheitspolitischen Fehleinschätzungen zu bedauern. Dabei irritiert noch mehr als ihre fehlende Bereitschaft zur Selbstkritik die emotionale Ungerührtheit, mit der sie die Schrecken der russischen Aggression hinzunehmen scheint. Hatten ihr doch selbst politische Weggefährten, die ihrer nachgiebigen Russlandpolitik kritisch gegenüberstanden, stets bescheinigt,  das Schicksal der Ukraine liege ihr persönlich sehr am Herzen.

Doch als die russische Invasion der gesamten Ukraine begann, war von der Ex-Bundeskanzlerin außer einer knappen Pressemitteilung, in der sie den Angriff verurteilte, lange keine Reaktion zu vernehmen - und sei es nur ein Ausdruck ihrer Erschütterung über die Untaten, die Putins mörderische Soldateska an der ukrainischen Zivilbevölkerung verübt. Statt dessen ließ sich Merkel wenige Wochen nach Beginn des russischen Überfalls von Fotografen beim entspannten Urlaub in Italien ablichten.

Erst etwa drei Monate später nahm sie anlässlich ihres ersten öffentliche Auftritts seit dem Ende ihrer Kanzlerschaft, bei dem sie mit einem Moderator gut gelaunt über ihr Leben nach der Politik plauderte, auch zu ihrer Russlandpolitik Stellung. Nicht nur wies sie dabei zurück, irgendwelche Fehler gemacht zu haben. Sie verstieg sich sogar zu der Behauptung, durch ihr Agieren habe die Ukraine wertvolle Zeit gewonnen, um sich gegen den jetzt stattfindenden russischen Großangriff zu wappnen. Dies hat sie seitdem in mehreren Interviews und Reden wiederholt.

Vor dem Hintergrund, dass Merkel 2008 die Aufnahme der Ukraine in den Mitgliedschafts-Aktionsplan der NATO verhindert und sich nach 2014 massiv gegen westliche Waffenlieferungen an sie gestellt hat, wirkt diese Selbstbelobigung geradezu zynisch. Die Ex-Kanzlerin beharrt aber nicht nur auf der Richtigkeit ihrer damaligen Russlandstrategie - sie hält sie offenbar auch jetzt noch für erfolgversprechend. So befürwortet sie größere diplomatische Anstrengungen zur Beendigung des Kriegs und wiederholt die in Deutschland ebenso gängige wie historisch falsche Phrase, Kriege würden stets "am Verhandlungstisch beendet". Sogar von einer künftigen europäischen Friedensordnung, die auch Russland einschließen müsse, fabuliert sie weiter. Dabei beruft sie sich auf Helmut Kohl, der ihrer Ansicht nach heute zwar "alles daran setzen" würde, "die Souveränität und die Integrität der Ukraine zu schützen und wiederherzustellen",  doch parallel dazu "immer auch mitdenken" würde,  "wie so etwas wie Beziehungen zu und mit Russland wieder entwickelt werden können."

Kohl war  jedoch nie mit einer Macht konfrontiert, die einen Ausrottungskrieg gegen ein demokratisches Land mitten in Europa führt, und die sich damit auf unabsehbare Zeit aus dem Kreis zivilisierter Nationen katapultiert hat. Die Einsicht, dass in dieser für Europa seit 1945 beispiellosen Lage nicht diplomatische Geschmeidigkeit, sondern entschlossene militärische Härte gefragt ist, hat in Merkels ganz auf Ausgleich statt auf Konfrontation ausgerichteten politischen und intellektuellen Koordinatensystem keinen Platz - auch wenn sie als einziges Versäumnis ihrer Regierung immerhin einräumt,  "dass wir für die Abschreckung durch höhere Verteidigungsausgaben nicht genug getan haben." In der aktuellen historischen Entscheidungssituation geht es aber nicht primär um Abschreckung, sondern darum, einen Todfeind des freien Europa auf dem Schlachtfeld zurückzuschlagen.

Zweifellos hat Merkel seit 2014 viel für die Ukraine getan. Ohne ihren Einsatz wären wohl nicht einmal die unzulänglichen EU-Sanktionen gegen Moskau von Dauer gewesen. Die Dimension der russischen Aggressionspolitik verkannte sie jedoch - nicht aus Naivität, sondern aufgrund ihrer Überzeugung, Putin durchschaut zu haben und daher seine nächsten Schachzüge voraussehen zu können. Dass sich die Absichten des Kreml-Herrschers jeglicher rationalen Kalkulierbarkeit entzieht und sich hinter seinem Taktieren ein absoluter, sämtliche zivilisatorische Normen negierender Vernichtungswille verbarg, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft - und so ist es offenbar bis heute.

Man könnte dies als individuelles Defizit einer uneinsichtigen politischen Pensionärin abtun, die nicht mehr fähig ist, die Realität einer radikal veränderten Gegenwart zu erfassen. Doch mit ihren Signalen in Richtung einer "Verhandlungslösung" mit Russland  artikuliert sie eine weit verbreitete Haltung. In Umfragen hat sich bereits eine Mehrheit der Deutschen für verstärkte diplomatische Bemühungen gegenüber Russland ausgesprochen, auch wenn die Ukraine dafür zu Zugeständnissen gedrängt werden müsse. Angela Merkel gibt dieser untergründigen deutschen Sehnsucht nach einer Wiederannäherung an Moskau auf Kosten der Ukraine eine autoritative Stimme.

Dass sie sich neuerdings nun doch häufiger zu ihrer Ukraine-Politik äußert, gibt Anlass zu Spekulationen. Möglicherweise hält sie sich dafür bereit, als "Vermittlerin" bei der  Anbahnung von Verhandlungen mit Russland gerufen zu werden. Doch sollte es dazu kommen, wäre dies ein fatales Zeichen dafür, dass das alte, sich bereits als verheerend erwiesene russlandzentrierte Denken in der deutschen Politik wieder die Oberhand gewinnt - und die nach dem 24. Februar ausgerufene "Zeitenwende" doch nur eine rhetorische Luftblase war.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. Hier der Link zur Originalkolumne.