Intervention

Ergo totgeschlagen

Von Richard Herzinger
14.09.2019. Wenn der vermeintliche "Wille des Volkes" sich austoben kann, ohne dass er durch Institutionen der repräsentativen Demokratie, durch verbindliche Gesetze und durch die Gewaltenteilung gebändigt wird, kommt dabei keine "wahre Demokratie" heraus, sondern Willkür. Die rechtsradikale AfD will da nichts anderes als ihre Vorläufer in den Zwanzigern
Die populistische und nationalistische Rechte in Europa versucht den Eindruck zu erwecken, sie stehe für die Verteidigung und Erweiterung der Demokratie gegen eine "volksferne" politische Elite. Darin unterscheidet sie sich von ihren historischen Vorläufern in den 1920er und 1930er Jahren, die offen für die Beseitigung der Demokratie agitierten. Doch im Kern will die neue, "modernisierte" Rechte nichts anderes als die Demokratiefeinde von damals. Indem sie suggeriert, die institutionalisierte, repräsentative Demokratie sei ein System zur Niederhaltung des authentischen Willens des Volkes, greift sie die Fundamente der demokratischen Ordnung an.

Die Verfechter eines harten Brexit in Großbritannien denunzieren das frei gewählte Parlament als "Feind des Volkes", und Premierminister Boris Johnson präsentiert sich als Stimme und Vollstrecker des wahren Volkswillens gegen die demokratisch legitimierten Abgeordneten, die diesen angeblich verfälschen. Abweichler in der eigenen konservativen Partei denunziert er als "Verräter" und wirft sie, im Stile eines autoritären Führers, kurzerhand aus ihr hinaus. In Deutschland vereinnahmt die rechtsradikale AfD das Erbe der "friedlichen Revolution" in der DDR von 1989/90, indem sie die Parole "Wir sind das Volk" übernimmt und damit suggeriert, die parlamentarische Demokratie der Bundesrepublik unterdrücke die Bevölkerung  ebenso wie einst die SED-Diktatur.

Der Ruf "Wir sind das Volk" war im Widerstand gegen den SED-Staat tatsächlich eine genuin demokratische Losung. Eine von jeder Entscheidung über ihr Schicksal ausgeschlossene Bevölkerung ließ die totalitären Machthaber damit wissen, dass sie Entmündigung und Rechtlosigkeit nicht länger hinnehmen werde. Das "Wir", das sich auf diese Weise als "Volk" deklarierte, beanspruchte damit aber keine Homogenität als geschlossenes Kollektiv mit einer einheitlichen Gesinnung. Als "Volk" im Sinne einer Einheit verstanden sich die vielen verschiedenen aufbegehrenden Individuen nur im Gegensatz zu der Diktatur, die ihnen allen gleichermaßen ihre elementaren Rechte vorenthielt. In dieser gemeinsamen Frontstellung gegen die autokratische Herrschaft vereinten sich unterschiedlichste, ja gegensätzliche Strömungen, Interessen und Weltanschauungen. Nachdem die Diktatur beseitigt war, teilte sich dieses vereinte "Volk" wieder in widerstreitende politische, soziale und ideelle Gruppen und Einzelpersonen auf.

In einem demokratischen Rechtsstaat verwandelt sich die Parole "Wir sind das Volk" jedoch in den Ausdruck einer antidemokratischen, kollektivistischen und damit autoritären Geisteshaltung. Die Okkupation des Slogans durch eine gleichgerichtete, durch keine demokratische Legitimation dazu ermächtigte Minderheit suggeriert, "das Volk" sei von einem einzigen Willen beseelt, der über dem Recht und der mühsamen institutionellen Aushandlung von Kompromissen zwischen unterschiedlichsten Interessen und Ansprüchen stehe. Diesen Ausgleich zwischen in gegensätzliche Richtungen strebenden Kräften der Gesellschaft kann nur eine repräsentative, durch rechtsstaatliche Normen und eine unabhängige Justiz abgesicherte Demokratie bewerkstelligen, nicht aber eine wie immer definierte "direkte Demokratie". "Das Volk" kann in einer Demokratie nicht unmittelbar herrschen, sondern nur vermittelt durch die Herrschaft des Rechts, das alle Bürger schützt und dem sich daher alle Bürger unterwerfen.

In seinem Drama "Dantons Tod" hat Georg Büchner schon im frühen 19. Jahrhundert gezeigt, wohin dagegen die Auffassung vom "Volk" als einem vermeintlich mit einem einheitlichen Willen ausgestatteten und sich mit einer Stimme artikulierenden Kollektivkörpers in letzter Konsequenz führt. In einer Szene will eine wütenden Menge einen Passanten lynchen, den sie für einen Aristokraten hält. Einer ihrer Anführer ruft aus: "Wir sind das Volk, und wir wollen, dass kein Gesetz sei, ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt es kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!" Wenn der vermeintliche "Wille des Volkes" sich austoben kann, ohne dass er durch Institutionen der repräsentativen Demokratie, durch verbindliche Gesetze und durch die Gewaltenteilung kanalisiert, kontrolliert und gebändigt wird, kommt dabei keine "wahre Demokratie" heraus, sondern gesetzlose Willkür.

Gegenüber jedem Politiker und jeder politischen Richtung, der oder die behauptet, aus ihm oder ihr allein spreche die authentische Stimme "des Volkes", ist daher äußerstes Misstrauen angebracht. Das gilt nicht nur für rechte Populisten und Nationalisten, sondern auch für linke, "libertäre" und "progressive" Anführer, die sich ebenfalls gerne als Erlöser der unterdrückten Volkmassen vom Joch eines "abstrakten", nur scheinbar demokratischen "Systems" inszenieren. In Wahrheit besteht "das Volk" in einer freien Gesellschaft jedoch aus lauter Einzelnen mit einem jeweils eigenen Willen. Zur Einheit wird dieses Volk nur symbolisch in Bezug auf die Sicherung und Inanspruchnahme der Rechte, die allen Einzelnen gleichermaßen zustehen.

Sehr schön kommt dies in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zum Ausdruck, deren Präambel mit den berühmten Worten beginnt: "We the people…" Das Wort "people" hat im Englischen nämlich eine Doppelbedeutung: Es heißt sowohl "das Volk" als auch "die Leute". "Das Volk" ist in diesem Sinne also die Summe aller Einzelnen, die sich zusammenschließen, um sich eine Ordnung zu geben, in der die individuellen Rechte aller gesichert sind - die aber "die Leute" in ihrer Verschiedenheit und Vereinzelung belässt.

Richard Herzinger

Der Autor ist Korrespondent für Politik und Gesellschaft der Welt und Welt am Sonntag. Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt, hier der Link zur aktuellen Kolumne. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. D.Red.