Intervention

Der Lohn für unsere Kollaboration

Von Thierry Chervel
19.04.2022. Wir haben noch gar nicht begriffen, dass wir bereits als Besiegte in Putins Krieg hineingehen. Es sind ja nicht nur die 55 Prozent des Gases, das wir konsumieren und für das wir Putin brauchen. Wir sind abhängig vom Gas und abhängig vom Geld fürs Gas, das die Russen schließlich bei uns ausgeben. Um diesen Preis haben wir weggesehen, und Gerhard Schröder setzte für Putin sein untertänigstes Lachen auf.
Putin hat den Krieg gegen die Ukraine angefangen, weil er weiß, dass er den Krieg gegen den Westen schon gewonnen hat.

Wir haben noch gar nicht begriffen, dass wir bereits als Besiegte in die Auseinandersetzung hineingehen. Was der Vernichtungskrieg gegen die Ukraine in aller Erbärmlichkeit offenlegte, ist das Ausmaß der Abhängigkeit, in der wir von Putin stehen. Es sind ja nicht nur die 55 Prozent des Gases, das wir konsumieren und für das wir Putin brauchen. Große Teile der europäischen Wirtschaft, auf die wir so stolz sind, basieren auf der Abhängigkeit von Putin. Wir sind abhängig vom Gas und abhängig vom Geld fürs Gas, das die Russen schließlich bei uns ausgeben. Für diesen Lohn haben wir weggesehen, und Gerhard Schröder setzte für Putin sein breitestes und untertänigstes Lachen auf. Wir sind wie jene Menschen in einer der "Alien"-Folgen, die vom Monster eingesponnen wurden, um sie als Wirtstiere für seine Fortpflanzung zu nutzen: Sie sind im Kokon gefangen und doch allerbester Laune, weil das Monster gelernt hat, ihnen eine Droge zu injizieren, die ihnen den Willen nimmt.

Diese Droge war für Putin das Gas. Catherine Belton erzählt in ihrem Buch "Putin's People", dass Putin und seine Komplizen ihr eigenes Land nicht nur plünderten, um sich selbst zu bereichern, sondern auch um den Westen zu besiegen, indem sie ihn mit ihrem Geld überschütteten: Er hat sich im Westen eine Armee von Kollaborateuren geschaffen, die einen beträchtlichen Teil unseres Bruttosozialprodukts erwirtschaften, indem sie sein Drogengeld waschen und dabei kräftig mit verdienen. Oligarchen sind großzügig!

Die deutsche Industrie hat zwei Geheimnisse: einerseits die Marge im Luxussegment der Autoindustrie. Sie produziert immer abstrusere SUVs, gerne auch elektrisch, um einerseits die Oligarchen zufriedenzustellen und andererseits all jene zu bedienen, die hierzulande von ihnen bestochen sind. Gewiss, nicht jedes Luxusvehikel wird von Kriminellen gekauft. Aber im Luxussegment dient sich die legale Ökonomie der illegalen an. Verbrecher markieren ihren Rang in der Hierarchie mit Audis, BMWs und Porsches.

Das andere Geheimnis ist das billige Gas, das der deutschen Industrie erlaubte, überhaupt noch in Deutschland zu produzieren. Deutschland konsumiert 86 Milliarden Kubikmeter Gas im Jahr, das ist mehr als ein Zehntel der russischen Gesamtproduktion (auch wenn wir nicht alles bei Putin kaufen). Darum ist Putin nicht nur in den Spitzen der Gesellschaft so beliebt, die mit seinen Emissären in der VIP-Lounge seiner westlichen Fußballvereine oder bei Netrebko in der Felsenreitschule kungeln, sondern auch bei der deutschen Sozialdemokratie.

Die SPD liebt bekanntlich Industriearbeiter und möchte ihnen das Gefühl geben, von ihr gut versorgt zu werden. Und es geht ihr um Rente: Rente aus dem Gas, Rente für die Wahlklientel, die man zu verlieren fürchtet, enorme Summen für eine immer ältere Bevölkerung. Steinmeier und Co. haben darum nicht aus Naivität mit Putin paktiert - kann man jemandem, der als Gerhard Schröders Kanzerlamtschef agierte, Naivität unterstellen? - sondern sehenden Auges, vielleicht auch schlechten Gewissens. Denn dass Putin ein Kriegsverbrecher und ein Mörder ist, weiß seit über zwanzig Jahren die ganze Welt. Putin agierte immer offen. Er sagte an, dass er Chodorkowski ins Lager stecken würde, dass er Tschetschenien zusammenbombt, dass Dissidenten mit ihrem Tod zu rechnen haben. Stets eilten seine westlichen Bewunderer herbei, um den "Gesprächsfaden nicht abreißen" zu lassen.

Das schlechte Gewissen beruhigte man mit einem "Nie wieder" aus dem Medizinschrank der Geschichtslügen. Steinmeier begründete Nord Stream 2 allen Ernstes aus den Verbrechen, die die Deutschen den Russen angetan hatten. Wie immer verwechselte er dabei die Sowjetunion mit Russland und beerdigte die Millionen Ukrainer und Polen, die von den Deutschen ebenfalls umgebracht worden waren, gleich zum zweiten Mal,.

Aber die Deutschen sind nicht allein. Nicht zufällig ist Bernard Arnault, der Herr des Luxuskonzerns LVMH, der reichste Europäer überhaupt. Seine Luxusmarken - Dior, Louis Vuitton, Rimowa und wie sie alle heißen - teilen mit den deutschen Autos das Geheimnis der Marge, das einen von Kriminellen geprägten Kapitalismus auszeichnet: Je höher der Preis, desto lieber zahlen ihn die Oligarchen, die ihr verbrecherisch erworbenes Vermögen in Distinktion ummünzen wollen. Als Wladimir Putin in einem Moskauer Fußballstadion die Massen für seinen Krieg in Stimmung brachte, trug er einen Anorak von Loro Piana für 12.000 Euro. Piana gehört Arnault, der also an Putins Propaganda mitverdient.

Auf ähnlichen Prinzipien dürfte die britische Anwaltsindustrie basieren, auf Stundensätzen von Tausenden von Pfund, mit denen die britischen Anwälte den Oligarchen helfen, "SLAPP-Klagen" gegen die wenigen Medien und Journalisten anzustrengen, die sich noch trauen, über sie zu berichten. Die Jachten der Milliardäre kosten Hunderte von Millionen Euro, ebenso die Villen in Cannes, auf Sardinien, an den schönsten Stellen der spanischen Küsten, die allesamt für das Gros der Bevölkerung nicht mehr benutzbar sind. Aber es bringt Abermillionen, all diesen Besitz zu bauen und zu renovieren, zu hegen und zu pflegen und mit Verträgen und Offshore-Firmen abzusichern. Es hängen Zehntausende Arbeitsplätze daran.

Ein großer Teil des Reichtums, den Europa in den letzten zwanzig Jahren angehäuft hat, so zeigt sich jetzt ganz offen, ist der Lohn für unsere Kollaboration.

Was wir in diesem Moment vielleicht auch noch einmal neu lernen müssen, ist, dass es verschiedene Gesichter des Kapitalismus gibt. Da ist leider nicht nur der Kapitalismus der Innovation, des Wettbewerbs, des verbesserten Lebens, der am besten in einer Demokratie gedeiht. Es gibt auch einen schmutzigen Kapitalismus, der auf den Mechanismen des Drogenhandels basiert - leider eine seiner Grundformen. Diese Formen sind nicht immer säuberlich zu trennen. Demokratie ist porös für den schmutzigen Kapitalismus, auch in legalen Spielarten.

Der Drogen-Kapitalismus basiert auf dem Prinzip Anfixen und Abkassieren, also einen Markt schaffen, indem man Abhängigkeit und damit unendliche Nachfrage erzeugt. Ist dieser Kapitalismus nicht ebenfalls von den Briten erfunden worden, als sie das ganze chinesische Volk von ihrem Opium abhängig machten und dann (zusammen mit den Franzosen und Deutschen) die Opiumkriege führten, um ihr Monopol durchzufechten? Das heutige chinesische Gebaren ist auch eine postkoloniale Antwort auf dieses Urverbrechen.

Putin hat den Westen selbst auf eine ähnliche Weise von seiner Droge abhängig gemacht. Er ist nicht der einzige, der so agiert. Auch die Chinesen haben auf eine wesentlich raffiniertere Weise gelernt, Abhängigkeiten zu schaffen. Der Westen, der sich seiner aufklärerischen Ideen immer neu erinnern muss, sollte daraus lernen, dass er sich selbst fallen lässt, wenn er die Ukraine fallen lässt, und dass er künftig so etwas wie die Idee einer Autarkie entwickeln muss. Sicher ist die Welt zu verflochten, als dass man auf eine Interaktion mit Russland, China, dem Iran und Saudi Arabien ganz verzichten könnte. Aber aus der guten Spielart des Kapitalismus ließe sich lernen, dass man sich nie allein von einem Kunden abhängig machen sollte, auch wenn er das meiste Geld bringt.

In Deutschland kommen allein die Grünen einigermaßen unbescholten aus dieser moralischen Katastrophe. Sie haben mit ihrem Beharren auf nachhaltige Energien eine richtige Alternative. Allerdings war vor die Verwirklichung dieser Utopie zunächst immer noch ein Mehr von Putins Droge gesetzt. Auch wegen ihrer Fixierung auf die Atomkraft. Sie haben mit dem Kopf genickt, als Angela Merkel nach Fukushima die Abhängigkeit von Putin noch erhöhte. Jetzt muss die Ersatzdroge woanders besorgt werden. Wir sind auf Turkey. Hoffentlich überleben wir ihn.

Thierry Chervel