Intervention

Ein politischer Glaubenskern

Von Richard Herzinger
02.07.2021. In deutscher Politik werden "Dialog" und Entspannungspolitik glorifiziert. Selbst die zunehmend massive Bedrohung durch autoritäre Mächte wie Russland und China kann diesem quasireligiösen Prinzip bisher nichts anhaben. Weitgehend verdrängt wird, dass der Mauerfall nicht durch Entspannungspolitik möglich wurde.
Kaum war das Gipfeltreffen zwischen Joe Biden und Wladimir Putin vorüber, wollten es Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron dem US-Präsidenten gleichtun. Dass ihr Vorstoß, die 2014 auf Eis gelegten Spitzengespräche zwischen der EU und Russland ohne Vorbedingungen wiederaufleben zu lassen, bei dem jüngsten EU-Gipfel gescheitert ist, wird Frankreich und Deutschland kaum daran hindern, weiter auf die baldige Etablierung eines russisch-europäischen Gesprächsformats auf höchster Ebene zu drängen. Der Biden-Putin-Gipfel, so hieß es dazu aus Paris und Berlin, habe doch gezeigt, dass sich Konflikte "am besten durch Gespräche lösen" ließen.

Doch Macron und Merkel reden seit 2014 im Normandie-Format mit Putin, ohne dass er die geringste Bereitschaft zeigen würde, seine Aggression gegen die Ukraine einzustellen. Und jahrelange Gespräche mit Moskau über eine "politische Lösung" für Syrien hindert Russland nicht daran, gemeinsam mit seinem Schützling Assad das Land immer weiter in Zerstörung und Elend zu stürzen. In Russland selbst ist Putin gerade dabei, durch willkürliche Repression die letzten Reste von demokratischer Öffentlichkeit zu beseitigen, und seinem Vasallen Lukaschenko in Belarus führt er bei der brutalen Zerschlagung der dortigen Demokratiebewegung die Hand.  

Dennoch konnte sich die EU bisher zu keinen verschärften Sanktionen gegen den Kreml durchringen. Namentlich in der deutschen Politik und Öffentlichkeit herrscht vielmehr weiter die unerschütterliche Überzeugung vor, nur durch noch mehr Dialog könne Putin von seinem aggressiven Kurs  abgebracht werden. Bidens Treffen mit Putin bestärkt führende deutsche Politiker in dieser Haltung. Und dass Putin zum 80. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion in einem - von Propagandalügen strotzenden - Artikel in einer großen deutschen Zeitung (unser Resümee) seine vermeintliche Kooperationsbereitschaft mit der EU bekundete, wird in den führenden Zirkeln der deutschen Politik als positives Signal dafür aufgefasst, dass Putin für eine neue "Entspannungspolitik" empfänglich sei.

Dabei wird jedoch übersehen, dass die Entspannungspolitik der 1970er und 1980er Jahre überhaupt erst möglich wurde, nachdem der Westen durch konsequente Abschreckung den Expansionsdrang des sowjetischen Totalitarismus gestoppt hatte. Erst diese in einmütiger Geschlossenheit der westlichen Demokratien erzielte Eindämmung zwang den Kreml zu ernsthaften Verhandlungen und vertraglichen Vereinbarungen zwischen den gegnerischen Blöcken im Kalten Krieg. Von einer solchen gemeinsamen  Strategie der Eindämmung Putins ist der Westen heute jedoch weit entfernt.
Dabei ließe sich aus Erfahrungen von damals manches lernen. Als die Sowjetunion Ende der 1970er Jahre durch die Installierung von SS-20-Raketen die strategische Vorherrschaft über Europa zu erlangen drohte, antwortete die NATO darauf mit dem sogenannten Doppelbeschluss: Die Ankündigung der Stationierung von US- Mittelstreckenraketen wurde mit dem Angebot an Moskau verbunden, über eine umfassende Abrüstung zu verhandeln. Als der Kreml nicht darauf einging, setze das westliche Bündnis seine Nachrüstung in die Tat um. Erst als den Sowjets auf diese Weise die Entschlossenheit des Westens deutlich geworden war, konnte Gorbatschow mit seinen Reformideen die politische Bühne betreten.

Doch obwohl der Doppelbeschluss ursprünglich vom deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt initiiert worden war, wird dieser Zusammenhang in Deutschland heute weitgehend aus der historischen Erinnerung ausgeblendet. Die "Ostpolitik" Willy Brandts und der sozialliberalen Koalition seit 1969 gilt als die größte außenpolitische Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik - und zwar nicht nur bei den Sozialdemokraten und Liberalen, sondern auch bei den christlichen Konservativen, die ihre Grundsätze in den 1980er Jahren übernahmen.

Der Glaube, jeglicher weltpolitische Konflikt ließe sich letztlich durch "Dialog" lösen, verfestigte sich endgültig mit der deutschen Vereinigung. Während etwa die Balten und Polen den erfolgreichen Umsturz von 1989/90 als Resultat ihres beharrlichen Freiheitskampfs betrachten, herrscht in Deutschland die Vorstellung vor, er sei in erster Linie der Einsicht und Großherzigkeit Gorbatschows zu verdanken. Unermüdliche diplomatische Vertrauensbildung habe am Ende zur inneren Läuterung der zuvor aggressiven Sowjetunion geführt.

Was gegenüber dieser lange Zeit unangreifbar scheinenden totalitären Macht funktioniert habe, so der Kurzschluss in diesem deutschen Denkens, müsse doch auch gegenüber Putin gelingen. Dabei hatte die Entspannungspolitik jedoch von Anfang an ein Doppelgesicht. Sinnfällig wurde dies Ende 1970, als Willy Brandt in Warschau zum Gedenken an die Opfer des Getto-Aufstands von 1943 niederkniete. Er setzte damit ein unvergessliches Zeichen des Bekenntnisses Deutschlands zu seiner historischen Schuld. Doch nur wenige Tage nach dieser Geste schlug das polnische kommunistische Regime Arbeiterproteste in Danzig und Stettin blutig nieder. Die deutsche Entspannungspolitik ließ sich von solchen "Zwischenfällen" jedoch nicht irritieren.

Zwar hatte sie zumindest anfangs eine menschenrechtliche Komponente und trug zunächst zweifellos zur Stärkung des zivilgesellschaftlichen Widerstands in den kommunistischen Staaten bei. Doch mit zunehmender Dauer setzte sich in ihr das Dogma durch, Veränderungen in den Ländern des Ostblocks dürften nur in Übereinkunft mit den dort dortigen Regierungen gefördert werden. So diente die Entspannungspolitik zunehmend eher der Stabilisierung der herrschenden Regimes im sowjetischen Machtbereich.

Doch die Glorifizierung der Entspannungspolitik bildet so etwas wie einen politischen Glaubenskern, aus dem heraus Deutschland seine Stellung in der Welt definiert. Selbst die zunehmend massive Bedrohung durch autoritäre Mächte wie Russland und China kann diesem quasireligiösen Prinzip bisher nichts anhaben. Mit einer Abkehr davon und der Hinwendung Deutschlands zu einer konsequenten Abschreckungs- und Eindämmungspolitik ist daher auch künftig kaum zu rechnen.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. D.Red. Hier der Link zur Originalkolumne.