Intervention

Ein neuer Multilateralismus

Von Richard Herzinger
13.11.2020. Donald Trump hat auch in Europa antiliberalen Kräften massiven Auftrieb gegeben. Ohne eine funktionierende Demokratie in den USA haben auch die europäischen Demokratien kaum eine Überlebenschance. Joe Bidens Idee eines "Gipfels der Demokratien" ist zu begrüßen.
Mit der Abwahl Donald Trumps ist eine akute Bedrohung für den Fortbestand der Demokratie nicht nur in den USA, sondern weltweit abgewendet worden. Trumps Verachtung für die universalen Werte und die institutionelle Gewaltenteilung, auf denen die amerikanische Demokratie beruht, seine Obstruktion internationaler, der Verteidigung demokratischer  Errungenschaften verpflichteter Bündnissysteme wie der Nato, und seine Nähe zu Autokraten - in erster Linie zu Wladimir Putin - haben die Position der USA als Führungsmacht der freien Welt im Kern geschwächt.  

Profiteure dieser bedauernswerten Entwicklung waren in erster Linie Russland und China, die mit Genugtuung zusehen konnten, wie Trumps Präsidentschaft einen Keil in die transatlantische Allianz trieb. Doch auch Nordkoreas Diktator Kim Jong-un, den Trump zum "großen Staatsmann" und "guten Freund" aufgewertet hat, kann mit Trumps prinzipienloser und chaotischer Außenpolitik zufrieden sein. Weit davon entfernt, nuklear abzurüsten, verfügt Nordkorea heute sogar über mehr und treffsicherere Raketen als dies vor den publicityträchtig hochgespielten "Friedensgesprächen" mit Trump der Fall war.

Dass an der Spitze der USA ein Mann agierte, dem autokratische Führer näher stehen als die Repräsentanten demokratischer Staaten, hat auch in Europa antiliberalen Kräften massiven Auftrieb gegeben und die Krise der EU erheblich verschärft. Diese Entwicklung unterstreicht, dass ohne eine funktionierende Demokratie in den USA auch die europäischen Demokratien kaum eine Überlebenschance haben. Mit Trumps Ablösung durch den überzeugten Transatlantiker und liberalen Internationalisten Joe Biden erhalten die freiheitliche  Demokratie und das Projekt der liberalen Weltordnung nun jedoch eine historische Chance auf Erneuerung. Die wichtigste Aufgabe ist es jetzt, die inneren Kräfte der demokratischen Nationen sowie ihren globalen Zusammenhalt zu stärken, um sie gegenüber den zunehmend aggressiv auftretenden autoritären Mächten, allen voran Russland und China, wieder in die Offensive zu bringen.

Joe Biden hat dies klar erkannt und dafür den richtigen Ansatz entwickelt. Gleich im ersten Jahr seiner Präsidentschaft will er einen globalen "Gipfel für Demokratie" einberufen, der "den Geist und die Daseinsbestimmung der freien Welt erneuern"  und eine gemeinsame Agenda ausarbeiten soll, wie die demokratischen Institutionen gestärkt und der "Bedrohung unserer gemeinsamen Werte" begegnet werden kann.

Es ist zu hoffen, dass Biden die Kraft und die Konsequenz aufbringen wird, diesen Plan in die Wirklichkeit umzusetzen - und dass der Gipfel für Demokratie, sollte er zustande kommen, keine einmalige Veranstaltung bleiben wird. Dringend nötig wäre die Installierung eines permanentes Gremiums,  einer Art globalen Aktionsforums der demokratischen Nationen, auf dem sie ihr Vorgehen gegen die autoritären und totalitären Bedrohungen auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen koordinieren können.

Doch ob Biden mit seinem außenpolitischen Konzept Erfolg hat, hängt nicht von ihm alleine ab. Auch die europäischen Demokratien müssen endlich begreifen, was die historische Stunde geschlagen hat. Es genügt nicht, dass sie sich jetzt zurücklehnen und abwarten, dass Biden die amerikanische Führungsrolle wiederherstellt. Nicht nur die amerikanische, auch die europäischen liberalen Demokratien müssen sich grundlegend erneuern und sich dabei auf ihre grundlegenden universalen Werte besinnen, wollen sie in der Systemkonfrontation mit dem neuen Autoritarismus bestehen. Das bedeutet, dass sie ihre militärische Verteidigungskraft steigern und ihrer lavierenden Nachgiebigkeit gegenüber autoritären Mächten wie Russland und China ein Ende müssen. Namentlich Deutschland muss klar sein, dass die USA auch unter Biden -  zu Recht - auf den Stopp der russisch-deutschen Gaspipeline Nord Stream 2 bestehen wird, ebenso wie auf die Erfüllung des Zwei-Prozent-Ziels der Nato durch Berlin.

Ein einfaches Zurück in die Zeiten Barack Obamas wird es unter dem neuen US-Präsidenten nicht geben. Gegenüber Russland und China, insbesondere aber auch gegenüber dem Iran wird Biden eine deutlich härtere Gangart einschlagen als sein Vor-Vorgänger, und er wird diese auch von seinen europäischen Partner einfordern. Auch positioniert sich Biden viel klarer proisraelisch als es Obama getan hat. Sein Engagement für die Ukraine ist bewährt und unzweifelhaft, und auch die Demokratiebewegung in Belarus wird unter seiner Präsidentschaft mit mehr Unterstützung aus Washington rechnen können als bisher.

In Europa hört man es gern, dass sich Biden, im Gegensatz zu Trump, zum "Multilateralismus" bekennt. Damit es dabei nicht zu folgenschweren Missverständnissen kommt, ist es jedoch dringend notwendig, dass die Europäer ihre eigene Vorstellung davon in Frage stellen. Es gibt nämlich zwei Arten von Multilateralismus, zwischen denen deutlich unterschieden werden muss. Da ist zum einen das multilaterale Vorgehen von Staaten mit gemeinsamen Werten und Normen. Diese Form des Multilateralismus ist die Essenz dessen, was als "westliche Wertegemeinschaft" bezeichnet wird - und diesen demokratischen Multilateralismus zu stärken ist Bidens Priorität. Anders sieht es mit einem "Multilateralismus" aus, der Vereinbarungen demokratischer Nationen mit nichtdemokratischen Staaten und autoritären Mächten beinhaltet. Diese Variante multilateraler Praxis kann nicht prinzipieller Natur sein, sondern muss an streng definierte und überprüfbare Bedingungen geknüpft werden.

In der Rhetorik und Praxis europäischer und insbesondere deutscher Außenpolitik ist dieser grundlegende Unterschied jedoch allzu oft verwischt und aus dem Multilateralismus ein Wert an sich gemacht worden. Bidens Drängen auf einen neuen Multilateralismus der Demokratien bietet den Europäern nun die Chance, diesen Fehler zu korrigieren.

Richard Herzinger

Der Autor arbeitet als Publizist in Berlin. Hier seine neue Seite "hold these truths". Wir übernehmen in lockerer Folge eine Kolumne, die Richard Herzinger für die ukrainische Zeitschrift Tyzhden schreibt. In der Reihe "Intervention" möchten wir künftig kompakte, meinungsstarke Stücke zu politischen oder kulturellen Themen veröffentlichen. D.Red. Hier der Link zur Originalkolumne.