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"Ich bin keine Kollegin von Herrn Walser"

06.06.2002. Die Schriftstellerin Katharina Hacker protestiert in einem Offenen Brief an Suhrkamp-Geschäftsführer Günter Berg gegen die Veröffentlichung von Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" im Suhrkamp Verlag.
Sehr geehrter Herr Berg,

ich möchte ­nun, da eine Entscheidung gefallen ist,­ festhalten und auch öffentlich machen, dass ich keine Kollegin des Herrn Walser bin. Keine jedenfalls von denen, die Martin Walser in seiner Widmung "Für die, die meine Kollegen sind" adressiert hat. Eine geeignete Leserin bin ich anscheinend auch nicht. Bevor ich mich an die Lektüre des Manuskripts machte, wusste ich ja schon, dass "Tod eines Kritikers" eine Satire, eine Komödie sein soll. Inzwischen habe ich es gelesen. Ich kann nicht begreifen, was daran Satire, was daran "reine Komödie" sein soll. An keinem Punkt fand ich es komisch.

Der Handlungsverlauf lässt sich verkürzt wie folgt zusammenfassen: Der (vermeintliche) Täter, der sich schuldig bekennt, und zwar unter dem Druck der Psychiatrie, ist unschuldig. Das (vermeintliche) Opfer ist gar keines, es lebt. Und, so Walser in seinem Spiegel-Interview, das Opfer ist der Sieger, der vermeintlich Schuldige hingegen der Besiegte. Natürlich habe ich den Text nicht unvoreingenommen gelesen. Natürlich hatte ich andererseits, als Autorin des Suhrkamp Verlages, trotz meines Misstrauens, das ich vor Ihrer Entscheidung in einem Brief an Sie formuliert habe, gehofft, der Text sei so bedenklich nicht. Aber beim Lesen war ich viel konsternierter, als ich erwartet hatte.

Ihre Entscheidung ist getroffen, der Text wird erscheinen, und (ich finde das problematisch) der Verlag wird an Walsers Buch Geld verdienen. Ich habe in meinem ersten Brief geschrieben: Unabhängig vom Kontext und vom gesamten Text, ist schon die Wahl des Namens Ehrl-König ein beschämender Skandal. Man muss nicht empfindlich, keinesfalls böswillig sein, um diese Namensgebung als einen widerwärtigen Antisemitismus zu begreifen. Man kann sie gar nicht anders begreifen, ­Erlkönig, der ein Kind verführt, um es zu töten. Deutlicher lassen sich antisemitische Phantasien bis hin zum Ritualmord in einem Namen kaum fassen. Dieser Eindruck hat sich bestätigt. Man kann Details, einige unappetitliche Details anfügen, um das zu belegen, ­ es hat ja Tradition, das Zerrbild eines "Juden" mittels sexueller Praktiken und Vorlieben auszustatten, auch mit grenzenloser Machtgier. Jetzt möchte ich aber etwas anderes sagen.

Ich weiß, das "Tod eines Kritikers" die Macht des Kritikers, der Medien thematisieren will; das war ja allenthalben nachzulesen. Aber etwas anderes hat sich mir bei der Lektüre, und damit hatte ich gar nicht gerechnet, in den Vordergrund geschoben. In dem Text werden von und anhand der Figuren Schuld und Unschuld, Täter und Opfer, unterschiedliche Urteilsformen diskutiert. "Dadurch, dass einer umgebracht wird, ist er im Sinn meiner Einteilung" ­ so der Erzähler, alias Hans Lach ­"noch nicht besiegt. Hans Lach, kam mir vor, war noch nicht besiegt, war aber besiegbar. Vielleicht war er in der letzten SPRECHSTUNDE besiegt worden. Besiegt, das heißt: davon erholst du dich nicht mehr. Deshalb schämte er sich. Der Besiegte schämt sich. Er weiß, dass er seine Niederlage sich selber zuzuschreiben hat....Du kannst andere beschuldigen, aber du weißt: du allein bist die Ursache deiner Niederlage. Siehe doch Deutschland."

Diese Passage steht am Ende des ersten Teils. Schon vorher hatte ich allerdings den Eindruck, es wird anhand eines jüdischen Protagonisten, der zweifelhafter Herkunft ist, und eines unzweifelhaft deutschen Protagonisten nicht nur erörtert, welche Macht Kritiker und Medien in der Öffentlichkeit und gegenüber den Autoren haben, sondern vor allem, wie es mit Schuld und Scham steht, wer wen und mit welchen Mitteln besiegt, wo die wahre Schuld, die wahre Unschuld zu finden sind. Aus einem Text Hans Lachs, "Der Wunsch, Verbrecher zu sein", wird zitiert: "Für ihn gibt es keinen Sieg. Das Gute und die Guten sind unbesiegbar. Nach jedem Krieg hat sich bis jetzt herausgestellt, dass das Gute gesiegt hat. Gibt es etwas Unmenschlicheres als Gerechtigkeit? Etwas Gemeineres als das Gute Gewissen?" Vorher heißt es im Gespräch zwischen RHH und dem Erzähler: "Er, RHH, sei religiös gebunden, Ehrl-König nicht. Ehrl-König sei der freieste Mensch gewesen, dem er, RHH begegnet sei. Und als er erlebte, wozu ein wahrhaft freier Mensch im Stande sei, fand er Freiheit nicht mehr desiderabilis." Im Gespräch zwischen dem Erzähler und Bernt Streiff sagt Streiff über den vermeintlichen Mörder: "Und er kommt frei. Hunderte werden bezeugen, dass die Gewalt von dem ausging, der dann das Opfer war."

Und schon auf den ersten Seiten ist zu lesen: "Der Tote leidet doch nicht mehr. Aber der Täter... der kann keine Sekunde lang an etwas anderes denken als an die Sekunde der Tat." Etwas später sagt der Kriminalbeamte Wedekind: "Jeder Mordfall sei eine Tragödie. Und zwar im vollen historischen Sinn dieses Wortes. Aber es sei uns einfach nicht gestattet, eine solche Tragödie geschehen zu lassen, ohne zu versuchen, ihr gerecht zu werden, was soviel heiße wie, seine Stimme wurde jetzt ganz leise: Wir müssen sie aufnehmen, in unsere Sprache, in unsere ganze darauf vorbereitete Tradition, wir müssen sie uns zu eigen machen, durch Teilnahme, werter Herr, und den, dem sie passiert ist, aus seiner entsetzlichen Isolierung erlösen. Glauben Sie mir, so etwas kann einer allein nicht tragen. Dafür gibt es uns. Die sogenannte Menschheit."

Ich könnte so fortfahren, man kommt ja nicht umhin, den Text zu analysieren: falls es denn darum gehen soll, zu argumentieren, rational, begründet zu argumentieren. Anders als einmal der Person des Erzählers in den Mund gelegt: "Ich konnte meine Unschuldsvermutung schützen vor allem, was sie gefährden wollte. Ich verhielt mich faktenfeindlich, beweisabweisend, wirklichkeitsfremd. Seuse würde, wie ich mich verhielt, g e l a s s e n nennen."

Man hätte sich gewünscht, dass Walser dort bleibt, wo es unter der Schneedecke, deren Schmelzen die schiere Unschuld zu Tage bringt, aussieht wie 1912, um sich mit seinen Kollegen an hundert Jahre alten Eichentreppen zu erfreuen statt solch ein Buch zu schreiben. Es passt wirklich nur der Satz von Swift: "I wonder not that people are wicked, but that they are not ashamed."

Der Text muss wohl erscheinen. Ich hatte sehr gehofft, dass er nicht bei Suhrkamp, im Hauptprogramm bei Suhrkamp, als ein Buch unter anderen erscheinen würde. Und noch einmal, weil es mir wichtig ist: ich bin keine Kollegin von Herrn Walser, unter keinen Umständen.

Mit freundlichen Grüßen,
Katharina Hacker

Katharina Hacker ist Schriftstellerin. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Der Bademeister".