Magazinrundschau

Klugheit unter Druck

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
20.06.2023. Die New York Times durchlebt mit jungen Iranerinnen Freude und Grauen einer Revolution am 18. März. Die Los Angeles Review of Books genießt nur noch mit schlechtem Gewissen die Genialität des iranischen Kinos. Eurozine besucht den Memorial-Historiker Juri Dmitriew in der Strafkolonie IK-18. Der Guardian besucht Ngugi wa Thiongo, darf mit ihm aber kein "afrikanisches Englisch" sprechen. La vie des idées erinnert an Alain Touraine, den sozialdemokratischen Gegenspieler Pierre Bourdieus.

New York Times (USA), 18.06.2023

Aufwändig aufbereitet hat die New York Times die Tagebücher, die drei junge Iranerinnen fünf Wochen lang führten. Darin halten sie all die Ereignisse fest, die ihnen seit Anfang März in Teheran und Kurdistan widerfuhren, Fortschritte und Rückschläge der Protestbewegung, die erkämpften Freiheiten ebenso wie die grausamen Repressalien, Alltägliches und Bestürzendes: "18. März. KIMIA: "Ich war mit einer Freundin auf dem Markt. Es war sehr voll, mit vielen Straßenhändlern, die Artikel für Newroz verkauften. Ein Musiker spielte auf seinem Instrument, auch aus den Geschäften klang laute Musik. Als ich darauf wartete, die Straße zu überqueren, begann ich im Rhythmus der Musik leicht zu tanzen. Ein Polizist nickte mir zu und lachte. Es gab mehrere Mädchen und Frauen, darunter auch ich, ohne Kopftuch. Endlich kam ich in Newroz-Stimmung. PARNIAN: Ich las die Nachrichten auf Twitter, als ich auf das Bild eines braun gekleideten Mannes stieß. In dem Tweet stand, dass sich die Familien der zum Tode verurteilten Gefangenen vor dem Zentralgefängnis von Urmia versammelt haben. Mohajeddin Ibrahimi, ein politischer Gefangener, sollte morgen mit dem frühen Gebetsruf hingerichtet werden. 'Lasst uns die Stimme unserer Landsleute sein', hieß es in dem Tweet. Hinrichtungen sind zu dem alles überlagernden Thema geworden; die Menschen verfolgen die Fälle genau, und wenn sie hören, dass ein Demonstrant im Morgengrauen hingerichtet werden soll, eilen sie zum Gefängnis und stehen die ganze Nacht vor den Mauern."
Archiv: New York Times
Stichwörter: Kurdistan

LA Review of Books (USA), 08.06.2023

Die Filme des postrevolutionären Iranischen Kinos und besonders das Werk Abbas Kiarostamis entstanden unter den Zensurauflagen eines autokratischen Regimes, avancierten aber dennoch zu einer veritablen Erfolgsgeschichte des jüngeren Autorenkinos. Diese Paradoxie kann laut Abe Silberstein auch der amerikanische Filmkritiker Godfrey Cheshire in seinem Buch "In the Time of Kiarostami" nicht ganz auflösen. Streng genommen ist die "Time of Kiarostami" freilich spätestens seit dem Tod des Regisseurs im Jahr 2016 zu Ende. Tatsächlich stellt sich die Situation des iranischen Kino heute ganz anders dar, meint Silberstein: "In den letzten Monaten sind die Iraner für 'Frauen, Leben, Freiheit' auf die Straße gegangen - als jüngstes Anzeichen eines Widerstands, den die Islamische Republik zu unterdrücken versucht. Der Filmemacher Jafar Panahi gilt inzwischen als so gefährlich, dass er mit Arbeitsverbot belegt und mehrmals inhaftiert wurde, unter anderem im vergangenen Jahr für sechs Monate. Die Genialität seines jüngsten Werks 'No Bears' (2022), eines der besten Filme des laufenden Jahrzehnts, lässt sich nicht von der realen Verfolgung trennen, der der Regisseur ausgesetzt ist. Seine Kunst ist nicht zuletzt aufgrund der Umstände, unter denen sie entstanden ist, außergewöhnlich. Ist das vielleicht der Grund, warum der iranische Film den Westen in den letzten Jahrzehnten so fasziniert hat? Geht es um tatsächliche und vermeintliche Qualitäten, die von einer gewissen Klugheit unter Druck zeugen? Wenn ja, sollte man sich dem schrecklichen Unbehagen, das das 'Genießen' dieser Kunst mit sich bringt, nicht entziehen. Doch wenn man die Filme als Produkt einer reichhaltigen persischen Kultur begreift, die vor dem gegenwärtigen Autoritarismus entstanden ist, dann verspricht das eine gewisse Erleichterung oder sogar Hoffnung. Der Tag wird kommen, an dem diese Werke in einem Iran, der frei von Theokratie und Diktatur ist, neu gewürdigt werden."

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 08.06.2023

Die liberale Opposition hat Russland längst verlassen, fürchten muss der Kreml sie nicht mehr, dafür aber die Ultranationalisten und Scharfmacher, berichten Alexeï Sakhine und Lisa Smirnova. Vor allem auf Telegram prangern sie Ungleichheit, Korruption und Unfähigkeit der Eliten und Behörden an: "Seit Beginn der Invasion füttern sogenannte Kriegsberichterstatter - Anhänger der extremen Rechten mit militärischen oder paramilitärischen Befugnissen - die sozialen Netzwerke mit Nachrichten über die militärischen Operationen. Der Bekannteste unter ihnen ist Igor Strelkow, ein früherer FSB-Geheimdienstoffizier mit monarchistischen Überzeugungen. 2014 eroberte er an der Spitze einer Einheit russischer Freiwilliger die Stadt Slawiansk im ukrainischen Donbass. Zwar hat Moskau die Separatisten militärisch unterstützt, aber ihre Anführer sind aufgrund ihrer Unberechenbarkeit und ihres Fanatismus auch dem Kreml nicht geheuer. Strelkow musste deswegen den Donbass verlassen. Heute beklagt er auf seinem Telegram-Kanal, dass der Kreml den ukrainischen Feind nicht hart genug bekämpft. Telegram nutzen fast 1 Million Menschen. Nach den militärischen Rückschlägen im Herbst 2022 prangerten Strelkow und andere radikale Nationalisten die Fehler des Putin-Regimes an. Sie kritisierten die schlechte Organisation des militärischen Nachschubs, die Schwäche der Rüstungsindustrie, die Inkompetenz und Bestechlichkeit der Generäle und eine mediokre Führungselite, die im Luxus schwelge, während das Vaterland in Gefahr sei. Und sie mutmaßen, ein Teil von Putins Entourage wolle sich heimlich mit dem Westen aussöhnen, selbst wenn das die Kapitulation bedeuten sollte."

Eurozine (Österreich), 16.06.2023

Irina Galkova erinnert an das Schicksal des Memorial-Historikers Juri Dmitriew, der über dreißig Jahre lang die sowjetischen Straflager in Karelien erforschte, bis er vermutlich nach einer bösen Verleumdung selbst zu fünfzehn Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Nach fünf Jahren in der Gefängnisfestung von Petrosawodsk wurde er  in die Strafkolonie IK-18 verlegt, die zum berüchtigten Lagersystem Dubravlag gehört, wie Galkova ausführt: "Der Name 'Dubravlag' wird oft synonym für alle Lager in diesem Gebiet verwendet, obwohl das Lager selbst nur von 1948 bis 1954 in Betrieb war. Das erste Lager im Bezirk Zubowo-Poljanski war das Strafarbeitslager Temnikowski (Temlag), das 1931 als Teil des neuen Gulag-Systems errichtet wurde. Temlag wuchs schnell und 1934 überstieg die Zahl der Insassen dreißigtausend. Sie fällt und verarbeiteten Holz, außerdem bauten sie die Eisenbahnlinie Rjasan-Potma. 1937 wurde in Temlag eine der wichtigsten 'Frauenzonen' der UdSSR eröffnet. Dort waren Tausende von 'Ehefrauen von Vaterlandsverrätern' untergebracht, deren Ehemänner in den Jahren des Terrors meist hingerichtet worden waren. 1948 wurde Temlag in ein Hochsicherheitslager für gefährliche Kriminelle umgewandelt. Vor dem Hintergrund der nächsten Terrorwelle Ende der 1940er Jahre entstand ein Netz von Lagern mit den schönen Namen Retschnoi (Fluss), Ozerni (See), Peschani (Sand) und Mineralni (Mineral). Dubravni (Eichenwald), auch bekannt als Dubravlag, wurde durch sein strenges Regiment und die nummerierte Registrierung der Häftlinge bekannt, denen ihre Vor- und Nachnamen entzogen wurden. Fast alle Gefangenen des Dubravlags waren 'politisch', sie saßen wegen 'antisowjetischer Aktivitäten' ein, also wegen negativer Äußerungen gegen die Behörden, die im Scherz oder im Ernst gemacht wurden."
Archiv: Eurozine

HVG (Ungarn), 15.06.2023

Der Publizist Árpád Tóta W. rauft sich die Haare angesichts der sturen, zum Teil grotesken moskautreuen Politik der ungarischen Regierung, die aber auch von einem Großteil der Bevölkerung getragen wird: "Es ist schwer vorherzusagen, was passieren wird, wenn die Ukrainer die Russen aus ihrem Haus treiben. Ich versuche es trotzdem: es wird ein riesengroßes Weltfest geben, das wird es sein, eine über alle Grenzen gehende Party. Nicht eine einzige Veranstaltung, sondern eine die Welt durchdringende Nachricht der Freude. Großartige Feste mit glänzenden Uniformen, Helden, siegenden Soldaten. Ernste und traurige Erinnerungsveranstaltungen mit Überlebenden von Gräueltaten und Genoziden. Actionfilme und historische Dramen wird es geben mit millionenfachem Publikum. Pophymnen. Legenden. Ein Fest, das wir noch nie gesehen haben. Und wir werden nicht eingeladen … Ich muss hier ein Geheimnis verraten: Der Grund warum niemand mit uns übereinstimmt, ist nicht, weil wir so tapfer und kühn sind, sondern weil wir solche Idioten sind. Wir Ungarn lieben dies. Das ist der Grund, warum wir diese Politik bekommen. Man hat es gemessen, dass wir das wollen … Wir schwimmen in unseren Emotionen, küssen die Russen, denn sie können trinken und ihr Herz ist groß, sie verprügeln die Schwuchteln und das reicht uns als Außenpolitik ... Wir lernen nicht weiter und die Welt begreift es am Ende aufgrund unserer sturen Dummheit, warum wir erneut zum letzten Handlanger wurden. Sie werden sich anlächeln und reiten dann in die Zukunft. Auch da werden wir nicht eingeladen."
Archiv: HVG

La vie des idees (Frankreich), 13.06.2023

Keine deutsche Zeitung hat vermerkt, dass Alain Touraine am 9. Juni im Alter von 97 Jahren gestorben ist. Er galt neben Pierre Bourdieu als einer der wichtigsten französischen Soziologen der Nachkriegszeit, hat eine ganze Schule begründet und an allen großen Kontroversen seit 1968 teilgenommen. François Dubet und Michel Wieviorka, zwei Schüler Touraines, widmen ihm einen sehr freundschaftlichen und ausführlichen Nachruf. In einem nur auf den ersten Blick abstrakt wirkenden Absatz skizzieren sie seine differenzierten, sowohl durch Studien vor Ort als auch durch Reflexion gewonnen Einsichten: "In 'Critique de la modernité' zeigt Touraine, dass die Moderne trotz des Siegs der Vernunft immer wieder von Nationen, vom Markt, von Identitäten und von inneren, subjektiven Brüchen unterminiert wird, die eine unüberwindliche Distanz zwischen 'wir' und 'ich' und mehr noch mehr innerhalb des 'ich' oder zwischen Moral und Ethik herstellen. Auch darum gelingt es demokratischen Systemen nie, soziale Bewegungen vollständig zu institutionalisieren. Nie ist der Akteur dem System adäquat. Die Moderne hat das Subjekt hervorgebracht. Aber Touraine macht sich Sorgen, weil es ihm heute durch die Herrschaft des Marktes, den Narzissmus, den Drang nach Identitäten und den Niedergang des demokratischen Universalismus, der doch die notwendige Voraussetzung für die Bildung des Subjekts ist, bedroht erscheint." Die beiden Nachrufautoren betonen Touraines in Frankreich so seltene sozialdemokratische Orientierung: Touraine war viel mehr ein Mann Michel Rocards als François Mitterrands, und er war in den sozialen Konvulsionen, die Frankreich sei Jahrzehnten mit deprimierender Regelmäßigkeit heimsuchen, der Antipode Bourdieus. In der großen Krise des Streiks von 1995 predigte Bourdieu wie Sartre auf der Tonne, aber Touraine sah klarer. Perlentaucher Thierry Chervel, damals Kulturkorrespondent der SZ in Paris, zitierte Touraine mit der Diagnose von der "permanenten Unfähigkeit der französischen Gesellschaft, den Wandel anders als in einem dramatischen Klima des Kampfes zu verwirklichen". Aber viel Wandel war dann nicht mehr: Statt dessen eine immer giftigere Polarisierung im Zeichen des Front national und einer "linken Linken", die dem Rechtspopulismus alles zuordnet, was ihr nicht passt. Touraine zählte zu den ersten Seismografen dieser Entwicklung.

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.06.2023

Die Schriftstellerin Gabriella Nagy spricht im Interview mit Claudia Hegedüs über generationenübergreifende Traumata, auf die sie selbst auch beim Schreiben am   "Großroman Budapest" stieß: "Zweifelsohne tragen wir neben den eigenen, vielleicht unterdrückten oder geleugneten Traumata auch die Abdrücke der Tragödien, die in unseren Familien passierten, wir tragen sogar Dinge weiter, über die wir uns nicht einmal im Klaren sind. Sie bestimmen unsere Entscheidungen und unsere Reaktionen in den unterschiedlichen Lebenssituationen. Vielleicht merken wir nur, dass wir in einer Situation nicht weiterkommen, dass wir stets in dieselbe Falle tappen, denselben Fehler machen, solange wir uns nicht damit beschäftigen ... Beim Großroman Budapest schreiben dreiundzwanzig Autoren die Geschichte der dreiundzwanzig Bezirke als gemeinsames Schaffensprojekt. Aus den Legenden der Bezirke, dem Klatsch und Tratsch sowie aus Dokumenten entstehen fiktionale Werke, in denen auch Personen eine Rolle spielen, die tatsächlich existierten ... Klar wollte ich mich mit dem 16. Bezirk beschäftigen, denn meine Familie und meine Arbeiten verbinden mich damit. So habe ich mich anfänglich weniger darüber gefreut, dass ich den 11. Bezirk bekam, obwohl ich einen Großteil meines Lebens dort verbrachte, doch das änderte sich mit der Zeit. Ich musste mich damit konfrontieren, dass die fünfzig Jahre, die ich hier im 11. Bezirk verbrachte, zum Teil als Übergang betrachtete. Ich lebte hier als eine Fremde, die sich nicht integrieren wollte. Wie meine Eltern."

Guardian (UK), 13.06.2023

Carey Baraka besucht im kalifornischen Irvine die Ikone der antikolonialen Literatur, den 85-jährigen kenianischen Schriftsteller Ngugi wa Thiongo. Ausführlich erzählt Baraka, wie Ngugi in den sechziger Jahren nach heftigen Auseinandersetzungen mit anderen Autoren wie Chinua Achebe oder Wole Soyinka beschloss, seine Romane auf Gikuyu zu verfassen und sie erst anschließend ins Englische zu übersetzen. Smartness trifft hier auf eiserne Überzeugung: "Ich spielte Ngugi ein Lied vor, das in den Monaten nach den kenianischen Parlamentswahlen 2022 in Kenia ein Hit geworden war. Das Lied 'Vaida' ist in Lunyole gesungen, einer Sprache, die weder Ngugi noch ich sprechen. Doch schon bald tanzte er dazu, wippte mit dem Kopf und den Schultern. Zu seiner Zeit, sagt er, wäre ein Lied in einer afrikanischen Sprache kein nationaler Hit geworden. 'Wenn man zu meiner Zeit ein afrikanisches Lied im Radio hörte, schaltete man es aus. Man hat auf Jimmie Rodgers gewartet', sagte er. Dies war Teil dessen, was er die 'normalisierte Abnormität' der postkolonialen Situation nannte. Den Kolonisierten wurde ihre Sprache weggenommen und eine fremde Sprache an ihre Stelle gesetzt. 'Aber was ist mit dem kenianischen oder nigerianischen Englisch?' fragte ich ihn. 'Sind das nicht jetzt lokale Sprachen?' Er sah mich entgeistert an. 'Das ist, als wären die Versklavten froh, dass es eine lokale Version der Versklavung gibt', sagte er. 'Englisch ist keine afrikanische Sprache. Französisch auch nicht. Spanisch auch nicht. Kenianisches oder nigerianisches Englisch ist Unsinn. Das ist ein Beispiel für normalisierte Abnormität. Dass die Kolonisierten versuchen, die Sprache der Kolonisatoren für sich zu beanspruchen, ist ein Zeichen für den Erfolg der Versklavung. Das ist peinlich.' Er hielt sich die Augen zu. 'Ich habe gelesen, dass jemand sagt, er schreibe auf Französisch, um es subversiv zu untergraben. Ich dachte: Moment mal. Er ist derjenige, der untergraben wird.' Während er sprach, wand ich mich innerlich. Ich fragte mich, was Ngugi von der Tatsache hielt, dass ich auf Englisch schrieb, oder dass ich, ein kenianischer Schriftsteller, hier war, um im Auftrag einer britischen Zeitung über ihn zu berichten. War ich auch einer der Versklavten?"
Archiv: Guardian
Stichwörter: Thiongo, Ngugi Wa