Bei den
Wahlen in der Türkei gehörte der Autor Kaya Genç zu den Optimisten,
erzählt er. Vielleicht war diesmal die Zeit gekommen für eine "Wiedergeburt der parlamentarischen Demokratie, eine Rückkehr zu Menschenrechten, und vor allem einen festen Abschied von
Recep Tayyip Erdoğan und seinen Speichelleckern". Im Nachhinein ist für ihn klar: der Wahlkampf der
Oppositionspartei CHP war ausschließlich von "Machthunger" und "Rachegelüsten" angetrieben, nicht von ernsthaften politischen oder moralischen Prinzipien - und das führte ihre Niederlage herbei. In seinem Buch
"The Lion and the Nightingale" beschreibt der Autor, wie tief das
Narrativ von Stärke und Macht, immer verbunden mit einer bestimmten Vorstellung von Männlichkeit, in der türkischen Gesellschaft verwurzelt ist: Die "Löwen" definieren sich "als herrschende Klasse, die sich als Meister betrachtet und Menschen aus allen Bereichen dazu aufrufen, sich ihr anzuschließen und sich von den 'Verlierern' zu trennen. Und dann sind da noch die
Nachtigallen der Türkei: Intellektuelle, Dissidenten, Künstler und all die unabhängigen Köpfe, die die Machtstrukturen durch Gesang, Poesie und Komik untergraben und denen oft Armut oder Gefängnis drohen...Doch als ich ein Vorwort für die Taschenbuchausgabe schrieb, fiel mir auf, dass die diesjährigen Wahlen nicht zwischen Löwen und Nachtigallen stattfanden. Sie waren ein Kampf zwischen einem großen brüllenden Löwen und einer
Legion von aufstrebenden Löwen, die versuchten, noch lauter zu brüllen." Die größte Angst der Opposition ist es, so Genc, "als schwach, degeneriert oder abweichend angesehen zu werden. Sie wollen
die Norm repräsentieren, und die normative Identität, für die sie eintreten, ist diejenige, die in den 1920er Jahren propagiert wurde: die des säkularen, heterosexuellen, hart arbeitenden Bürgers, der sein Leben der Republik widmet. Doch der Normativismus ist ein Kampf, den die Opposition nicht gewinnen kann. Erdoğan hat seine Rivalen bereits als '
LGBTQI-
Liebhaber' gebrandmarkt. Seine Regierung betrachtet jeden, der sich ihrem Patriarchalismus, dem ausbeuterischen Kapitalismus und den Ressentiments gegenüber 'den Anderen' widersetzt, als
schwach,
weich und zur Ausrottung bestimmt."