Magazinrundschau - Archiv

The Atavist

4 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 12.07.2022 - Atavist

Lech Baldwins und Sean Williams' Recherche über die geheimdienstlichen Verstrickungen des Neonazis Rainer Sonntag, der wegen seiner Umtriebe aus der DDR ausgebürgert wurde, im Westen unter Michael Kühnen einen schnellen Aufstieg in der Naziszene hinlegte, nach der Wende nach Dresden zurückkehrte, um dort den "Arbeitsplan Ost" - eine rechtsextreme Revolution - umzusetzen und schließlich bei einer Auseinandersetzung im Rotlichtmilieu ums Leben kam, diese Recherche also hat natürlich schon deshalb ordentlich Salz, weil es ein gewisser KGB-Spion namens Wladimir Putin war, der Sonntags Auslieferung genehmigte und den Nazi zugleich für die Stasi und den KGB Bericht erstatten ließ. Das ist allerdings nur der Aufhänger - lesenswert ist der Text schon alleine wegen der zahlreichen Austauschprozesse zwischen der DDR-Führung und der rechtsextremen Szene sowie der Nachwirkungen. "Die Geschichte der Stasi, die extreme Rechte für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, ist lang. Als Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht stand, ließ die Stasi Geld für eine Kampagne fließen, um den festgesetzten Kriegsverbrecher zu verteidigen und fälschte Briefe von den 'Veteranen der Waffen-SS', die ihre Kameraden dazu aufriefen, sich dem 'Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus' anzuschließen - all dies, um die westdeutsche Regierung zu beschämen. Dasselbe Ziel verfolgten Stasi-Agenten in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern, als sie Hakenkreuze auf jüdische Gräber schmierten. Später in den Achtzigern heuerte die Stasi Odfried Hepp an, einen der meistgesuchten Neo-Nazi-Terroristen, um über die Aktivitäten der extremen Rechten auf seiner Seite der Berliner Mauer zu berichten." Eine der Kontaktpersonen Sonntags war der Dresdner Polizist, Stasi-Mann und Putin-Mitarbeiter Georg Johannes Schneider. "Der Zusammenbruch des ostdeutschen Geheimdienstes brachte Schneider zurück zu seinem Anfängen: der Dresdner Polizei. Dort leitete er eine Abteilung mit dem Auftrag, gegen den Links- und Rechtsextremismus auf Dresdens zunehmend unruhigen Straßen vorzugehen. Sonntag, frisch aus dem Westen zurückgekehrt, erwies sich als hervorragende Waffe, 'um Ärger zu machen', wie Schneider 1991 erzählte." Auch erzählte er einmal, "wie er Sonntag dafür nutzte, die Neo-Nazis der Stadt gegen die Punks und Anarchisten auszuspielen. Putins frühere rechte Hand erklärte, dass er die Neo-Faschisten nutzte, um die Linken im Zaum zu halten und umgekehrt. Keine der beiden Seiten sollte die Straßen kontrollieren; er zog das Chaos als Zustand vor. Das hieß, dass die Polizei stets wegsah, wenn Sonntags Gang Dresden heimsuchte - und in manchen Fällen sogar aktive Unterstützung leistete. Bei einer Gelegenheit nutzte ein Polizist seinen Privatwagen, um Sonntag zu einer Neo-Nazi-Aktion zu fahren."

Magazinrundschau vom 27.10.2015 - Atavist

James Verini hat den amerikanischen Arzt Tom Catena im Sudan besucht. Catena, ausgebildeter Chirurg, leitet seit 2008 das Mother of Mercy Hospital in den Nuba-Bergen. Es ist das einzige Krankenhaus im Umkreis von 3.000 Quadratkilometern, obwohl die Kämpfe zwischen Nuba und den arabisch-islamistischen Kämpfern des Präsidenten Omar al-Bashir sich intensiviert haben. Verinis Reportage ist ein bisschen eine Heiligengeschichte, aber man erfährt einiges über den Konflikt im Sudan wie das Leiden der Zivilbevölkerung, und der Mann selbst füllt seine Rolle offenbar wunderbar aus: "Im Innern der Klinik lassen ein Untersuchungstisch, ein Schreibtisch, auf dem sich veraltete Medizinzeitschriften stapeln, und ein hölzernes Kruzifix kaum genug Platz zum Stehen. Catena trug eine Brille mit Bronzegestell und großen Gläsern, OP-Hosen und grüne Crocs. Mit 51 Jahren besitzt er ein Paar Hosen, die keine OP-Hosen sind. Er zieht sie einmal im Jahr an, wenn er das Krankenhaus für einen Besuch in den USA verlässt. Nachdem er vor sieben Jahren nach Nuba gezogen war, begriff er, dass er keine Socken zu tragen brauchte. Das, vertraute er mir an, war "ein unglaublicher Moment der Klarheit". Die NYT erklärt, wie man seinem Krankenhaus eine Spende zukommen lassen kann.

Magazinrundschau vom 05.05.2015 - Atavist

Joshua Hammer erzählt die Geschichte zweier Freunde in Mali, die durch Musik zusammenfanden und von der Religion wieder getrennt wurden. Mohamed Aly Ansar, Malier, Tuareg, Jurist, hat jahrelang ein bald international bekanntes Musikfestival in der malischen Wüste organisiert. Inspiriert hatte ihn dazu Iyad Ag Ghali, Tuareg, Krieger, Musikliebhaber und erfolgreicher Vermittler in Konflikten mit den Tuareg - bis er sich von pakistanischen Missionaren zum radikalen Islam bekehren ließ. 2012 "erklärte Ghali den Musikern aus dem Norden den Krieg, weil sie seiner Ansicht nach eine Bedrohung für den islamischen Staat darstellten, den er schon fast gegründet hatte. Die Mitglieder der Tuareg-Band Tinariwen flohen nach Kalifornien. In Niafounké, einer Oasenstadt, deren Name auch der Titel eines Albums des Desert-Blues-Meisters Ali Farka Touré ist, drohten Ghalis Kämpfer den Protegés des Sängers die Finger abzuhacken. Im Sommer 2012 zerstörten Militante von Ghalis islamistischer Rebellentruppe Ansar Dine das Studio Khaira Arbys, einer populären Diva, halb Tuareg, halb arabisch, die als "Nachtigall des Nordens" bekannt ist, und drohten ihr die Zunge abzuschneiden, wenn sie sie erwischten. Einige Wochen später zerstörte Ansar Dine das Haus von Ahmed Ag Kaedi, dem Tuareg-Gitarristen der Band Amanar aus Kidal. Mit besonderer Sorgfalt nahmen sie sich seiner Gitarren an, die sie mit Benzin übergossen und in Brand steckten. Die Militanten setzten einen Scharia-Gerichtshof im Hotel La Maison ein, wo Bono während des Festival drei Wochen zuvor gewohnt hatte."

Magazinrundschau vom 28.10.2014 - Atavist

In einer großartigen Reportage erzählt James Verini von dem Archäologenehepaar Louis und Nancy Dupree, die den größten Teil ihres Lebens in Afghanistan gearbeitet haben. Die beiden sind wie Figuren aus einer Screwballkomödie der vierziger Jahre. Louis ist 1989 gestorben, seine Frau, inzwischen 83 Jahre alt, lebt immer noch in Afghanistan, wo sie hilft, eine Bibliothek für die afghanische Universität in Kabul aufzubauen. "Einheimische und Ausländer haben gleichermaßen Geschichten und Legenden über sie erzählt, seit sie vor einem halben Jahrhundert zum ersten Mal nach Afghanistan kam. Da ist die Episode aus den Sechzigern, als Nancy Bagh-e-Bala, den einstigen Sommerpalast der Emire, vor der Zerstörung rettete, zum Teil aus wissenscchaftlicher Hingabe zu dem Gebäude, zum Teil, weil sie ihre Hochzeit dort feiern wollte. In den Achtzigern kontaktierte sie ein junger Saudi, der Hilfe suchte, um die Ausrüstung für das Graben von Tunnels ins Land zu bringen. Die Mujaheddin sollten sich darin zwischen Angriffen auf die Russen verstecken. Dupree war zwar keine Offizielle, das war ihm klar, aber er hatte gehört, dass sie einfach jeden von Bedeutung in Afghanistan kannte und dass sie die Durchsetzungskraft hatte, von jedem zu bekommen, was sie wollte. Nancy war zu beschäftigt, ihm zu helfen, aber sie erinnert sich, dass der Mann, der den Namen Osama bin Laden trug, "sehr schüchtern und höflich" war."