Magazinrundschau

Sie lieben das Meer nicht?

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
12.07.2022. The Atavist recherchiert die Geschichte des berüchtigten Neonazis Michael Kühnen und seines Dresdner Führungsoffiziers Wladimir Putin. Desk Russie betrachtet die Beziehung zwischen Russland und der Türkei: Eine gewalttätige Ehe ist nichts dagegen. Die NYRB fragt, wann eine Literatur unlesbar wird, die sich nicht mit dem Klimawandel auseinandersetzt. The Nation beklagt den neuen Konformismus einer Kunst, die in der Öffentlichkeit nur noch saubere Wäsche wäscht. Der Spectator huldigt dem bengalischen Regisseur und Renaissancemenschen Satyajit Ray.

Atavist (USA), 26.06.2022

Lech Baldwins und Sean Williams' Recherche über die geheimdienstlichen Verstrickungen des Neonazis Rainer Sonntag, der wegen seiner Umtriebe aus der DDR ausgebürgert wurde, im Westen unter Michael Kühnen einen schnellen Aufstieg in der Naziszene hinlegte, nach der Wende nach Dresden zurückkehrte, um dort den "Arbeitsplan Ost" - eine rechtsextreme Revolution - umzusetzen und schließlich bei einer Auseinandersetzung im Rotlichtmilieu ums Leben kam, diese Recherche also hat natürlich schon deshalb ordentlich Salz, weil es ein gewisser KGB-Spion namens Wladimir Putin war, der Sonntags Auslieferung genehmigte und den Nazi zugleich für die Stasi und den KGB Bericht erstatten ließ. Das ist allerdings nur der Aufhänger - lesenswert ist der Text schon alleine wegen der zahlreichen Austauschprozesse zwischen der DDR-Führung und der rechtsextremen Szene sowie der Nachwirkungen. "Die Geschichte der Stasi, die extreme Rechte für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren, ist lang. Als Adolf Eichmann in Jerusalem vor Gericht stand, ließ die Stasi Geld für eine Kampagne fließen, um den festgesetzten Kriegsverbrecher zu verteidigen und fälschte Briefe von den 'Veteranen der Waffen-SS', die ihre Kameraden dazu aufriefen, sich dem 'Kampf gegen den jüdischen Bolschewismus' anzuschließen - all dies, um die westdeutsche Regierung zu beschämen. Dasselbe Ziel verfolgten Stasi-Agenten in den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern, als sie Hakenkreuze auf jüdische Gräber schmierten. Später in den Achtzigern heuerte die Stasi Odfried Hepp an, einen der meistgesuchten Neo-Nazi-Terroristen, um über die Aktivitäten der extremen Rechten auf seiner Seite der Berliner Mauer zu berichten." Eine der Kontaktpersonen Sonntags war der Dresdner Polizist, Stasi-Mann und Putin-Mitarbeiter Georg Johannes Schneider. "Der Zusammenbruch des ostdeutschen Geheimdienstes brachte Schneider zurück zu seinem Anfängen: der Dresdner Polizei. Dort leitete er eine Abteilung mit dem Auftrag, gegen den Links- und Rechtsextremismus auf Dresdens zunehmend unruhigen Straßen vorzugehen. Sonntag, frisch aus dem Westen zurückgekehrt, erwies sich als hervorragende Waffe, 'um Ärger zu machen', wie Schneider 1991 erzählte." Auch erzählte er einmal, "wie er Sonntag dafür nutzte, die Neo-Nazis der Stadt gegen die Punks und Anarchisten auszuspielen. Putins frühere rechte Hand erklärte, dass er die Neo-Faschisten nutzte, um die Linken im Zaum zu halten und umgekehrt. Keine der beiden Seiten sollte die Straßen kontrollieren; er zog das Chaos als Zustand vor. Das hieß, dass die Polizei stets wegsah, wenn Sonntags Gang Dresden heimsuchte - und in manchen Fällen sogar aktive Unterstützung leistete. Bei einer Gelegenheit nutzte ein Polizist seinen Privatwagen, um Sonntag zu einer Neo-Nazi-Aktion zu fahren."
Archiv: Atavist

New York Review of Books (USA), 21.07.2022

Seit der indische Schriftsteller Amitav Ghosh 2016 mit seinem Buch "Die große Verblendung" die Debatte um den Klimawandel in der Literatur entfacht hat, steht die Frage im Raum, welche Verantwortung die Literatur und Kritik im Angesicht des Klimawandels tragen. Seitdem haben etliche Autoren an der Frage weitergearbeitet, Gosh selbst natürlich, aber auch Martin Puchner in "Literature for a Changing Planet" oder Michael Rawson in "The Nature of Tomorrow". Aaron Matz liest diese Neuerscheinungen, aber beruhigen können sie ihn nicht: "Wenn man Literaturkritik über den Klimanotstand liest, bekommt man das ungute Gefühl, dass wir alles falsch gemacht haben. Worauf haben wir die ganze Zeit geachtet? Wir mögen uns sicher sein, dass wir zwischen bleibenden und vergänglichen Büchern unterscheiden können. Wir wissen vielleicht, welche Romane wir in unsere Lehrpläne aufnehmen müssen und warum. Aber wenn der Kataklysmus auch nur halb so schlimm wird wie erwartet, dann ist unsere Urteilssicherheit vielleicht nicht mehr von Bedeutung. Das bedeutet nicht, dass literarischer Wert aus prognostischer Kraft resultiert. Doch eine Zukunft mit einer Erwärmung um 2,5 Grad wird unsere Vorstellungen von der Welt so durcheinander bringen, dass eine Literatur, die uns veraltet oder indifferent erscheint, vielleicht auch unlesbar wird. Wird diese Zukunft auch die Literaturwissenschaft antiquiert erscheinen lassen? Heute werden jedes Jahr zahlreiche Romane über den Notstand veröffentlicht, viel mehr als zu der Zeit, als Ghosh vor sechs Jahren sagte, dass es kaum welche gäbe, und es gibt inzwischen zahlreiche kritische Werke, die sich mit ihnen beschäftigen. Aber diese Arbeiten schwanken zwischen der Bewertung vergangener literarischer Leistungen und der Befürchtung über den zukünftigen Zustand der Kritik und des Planeten. Die Warnung der Kritiker an die Romanautoren lautete, dass nachlässige Bücher von heute die Schuld von morgen beweisen werden; vielleicht fürchten wir Kritiker nun selbst das gleiche Schicksal."

Desk Russie (Frankreich), 01.07.2022

Wer wissen will, wie eine komplexe geopolitische Gemengelage aussieht, sollte Jean-Sylvestre Mongreniers Artikel über die russisch-türkischen Beziehungen lesen. Sie liebten und sie schlugen sich. In Ländern wie Libyen oder Syrien unterstützen sie feindliche Lager und in Bergkarabach erst recht. Und dennoch sieht der Historiker und Politologe eine Tendenz zu einer russisch-türkischen Annäherung, die der Westen aufmerksam beobachten sollte. Das Konfliktpotenzial mit dem Westen liegt im Mittelmeer: in der"Abgrenzung der Hoheitszonen im Levantinischen Becken und der Frage der Rechte zur Ausbeutung von Gasfeldern; im Status der griechischen Inseln nahe der türkischen Küste, wobei Ankara ihre Entwaffnung fordert und sogar die griechische Souveränität über diese Inseln in Frage stellt... Die Entsendung von türkischen Bohr- und Militärschiffen in zypriotische und griechische Gewässer führt zu ernsten Spannungen und droht zu einer kriegerischen Eskalation zu führen. Griechenland versucht, sich bei den USA und Frankreich abzusichern, die über größere Militärpotenzial zur See und in der Luft verfügen. Außerdem entsteht ein diplomatisches Dreieck zwischen Athen, Nikosia und Jerusalem um das EastMed-Projekt (eine Gaspipeline vom Levantinischen Becken nach Europa) mit möglichen militärischen Weiterungen."
Archiv: Desk Russie

Tablet (USA), 06.07.2022

Jeffrey Herf, Autor zahlreicher Bücher über linken und islamischen Antisemitismus, resümiert den Forschungsstand zu den Beziehungen zwischen den frühen Islamisten Hassan al-Banna von den Muslimbrüdern und Amin al Husseini, Mufti von Jerusalem: Er würdigt die Pionierarbeiten der deutschen Forscher Klaus Gensicke und von (Perlentaucher-Autor) Matthias Küntzel. Heute stellt sich nicht mehr die Frage, ob ein Bündnis zwischen Nazis und Islamismus existierte, es war sehr intensiv, und das auch, weil es auf einen spontanen islamischen Antisemitismus aufbauen konnte, so Herf. Die Frage ist eher, wie es kommen konnte, dass dieses Bündnis so grüńdlich in Vergessenheit geriet und warum es Jahrzehnte dauerte, das Wissen darüber wieder zu etablieren. Schuld hat Stalin: "Von 1949 bis 1989 führte die Sowjetunion eine bedrückend erfolgreiche Propagandakampagne durch, die die Erinnerung der Öffentlichkeit an die kurze Ära der Unterstützung des zionistischen Projekts, des UN-Teilungsplans und Israels durch den Sowjetblock sowie die zahlreichen Beweise für die Nazi-Kollaboration des Arabischen Oberkomitees unterdrückte. Anstelle der tatsächlichen Verbindungen zwischen den Führern der palästinensischen Araber und dem Naziregime behaupteten die Sowjetunion und die PLO, die wahren Nazis und Rassisten im Nahen Osten seien die Juden und die Israelis. Diese Lügenkampagne hat sich als eine der erfolgreichsten in der Weltpolitik erwiesen."
Archiv: Tablet

The Nation (USA), 25.07.2022

Die zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts sind schon genauso konformistisch wie die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ächzt David Bromwich, in der rechtschaffenen Kunst unserer Tage werde nur noch saubere Wäsche gewaschen: "Jean-Luc Godards Film 'Außer Atem' handelt von einem jungen Ganoven und seiner Geliebten und dem Rausch von Betrug, Flucht und Verrat, den ihre Verliebtheit ihnen beschert. Nichts zwingt uns dazu, diese Menschen für bewundernswerte Exemplare der menschlichen Gattung zu halten. Wir verabscheuen sie aber auch nicht. Es genügt, dass sie interessant sind, und ihr oberflächlicher Glanz macht einen Großteil der Wirkung aus. In einer frühen Szene dreht sich der Held zur Kamera und spricht das Publikum frontal an: 'Wie bitte, Sie lieben das Meer nicht? Sie machen sich auch aus dem Gebirge nichts? Für Städte haben Sie auch nichts übrig? Da kann ich nur sagen: Sie können mich.' Wollte Godard damit sagen: "Entspannen Sie sich, es ist nur ein Film?' Der Moment schien eine schärfere Ermahnung zu vermitteln: 'Es ist mir egal, ob Sie das mögen, aber Sie werden dableiben. Es wird Sie interessieren - später können Sie sich fragen, warum.' Die Unverfrorenheit ging Hand in Hand mit einer eigentümlichen Freiheit und Unbekümmertheit. Sie überraschte den Wunsch des Zuschauers nach einer einstudierten Reaktion, nach dem Einrasten der Falle in der üblichen Handlung."

Ein Jahr nach den großen Protesten in Kuba umreißt William M. LeoGrande die Reaktion der Regierung: "Als die Proteste aufkamen, denunzierte Präsident Miguel Díaz-Canel sie als konterrevolutionär und rief seine Anhänger auf die Straße, um die Revolution zu verteidigen. Die Polizei verhaftete mehr als 1.300 Menschen. Einige Tage später milderte Díaz-Canel seinen Tonfall ab und räumt ein, dass die Demonstranten legitime Sorgen hätten. In  der Folge setzte die Politik einerseits auf ein hartes Vorgehen gegen Opponenten, andererseits auf Programme gegen die wirtschaftliche Not, die die Menschen auf die Straße getrieben hatte."
Archiv: The Nation
Stichwörter: Kuba, Godard, Jean-Luc

Elet es Irodalom (Ungarn), 11.07.2022

Der seit 16 Jahren in Norwegen lebende Schriftsteller Árpád Kun veröffentlichte vor kurzem seinen dritten Roman ("Putzender Mann"), der nach "Glücklicher Norden", und "Wir warten auf dich Zuhause" als dritter Teil einer Trilogie betrachtet wird - auf deutsch sind diese Romane bisher nicht erschien. Kun spricht mit Csaba Károlyi über Autofiktion. "Nach dem ersten Roman (Glücklicher Norden) erkannte ich, wie wichtig es ist, dass jeder Leser das Gelesene als Wirklichkeit erlebt. Mir geht es ja nicht anders als Leser. Und ich weiß gar nicht, warum ich das vergessen hatte, als ich den Epilog des Romans schrieb. Damals fragten sehr viele Leser, was Fiktion und was Wirklichkeit war. Ich hatte darin keine Praxis, heute würde ich es aber anders machen. Mir ist klargeworden, dass, wenn ich im nächsten Roman über Árpád Kun schreibe, man es so lesen wird, dass alles in dem Roman vom wahren Árpád Kun handelt, obwohl ich ja nur skrupellos benutze, was mir passiert. Doch es interessierte mich nicht mehr, wann ich lüge und wann ich die Wahrheit erzähle. Die autobiografische Wahrheit lässt mich kalt. Jetzt im dritten Roman denke ich, dass ich auf jeden Fall Fiktion schreibe, doch wieder verwende ich vieles, was mir in Norwegen passiert ist."
Stichwörter: Autofiktion

Spectator (UK), 11.07.2022

Das British Film Institute widmet dem indischen Filmemacher Satyajit Ray eine Retrospektive, der neben Ingmar Bergman, Akira Kurosawa und Federico Fellini zu den großen Autorenfilmern der fünfziger Jahre gehörte. Tanjil Rashid nutzt die Gelegenheit für eine Eloge auf die bengalische Renaissance, die mit dem Literaturnobelpreisträger Rabindranath Tagore ihren Anfang nahm: "Satyajit Ray war ein Renaissancemensch der dritten Generation, dessen Talent sich aus dem seiner Vorfahren zusammensetzte. Das Aufwachsen in der Druckerei der Familie, umgeben von Tinte und Holzstöcken und dem Geruch von Terpentin, hat ihn stark geprägt. Nach einem Abschluss in Physik und Wirtschaft an der Universität Kalkutta studierte Ray moderne Malerei, japanische Kalligrafie und westliche klassische Musik in Santiniketan, Rabindranath Tagores utopischer Universität. Er arbeitete in der Werbung als Art Director und entwarf nebenbei Buchumschläge und preisgekrönte Schriften. Die ganze Zeit über flimmerten Filme in seinem Kopf. Während des Krieges nahmen die GIs Ray mit, um auf ihrer Militärbasis Hollywood-Filme zu sehen. Erste Erfahrungen mit dem Filmedrehen machte er bald darauf, als Jean Renoir in Bengalen war, um den Film 'Der Fluss' zu drehen. Ray suchte nach Drehorten für den Meister des 'poetischen Realismus', mit dem er sich angefreundet hatte.  Dann sah er auf einer Geschäftsreise nach London Vittorio de Sicas 'Fahrraddiebe' und war, wie er Jahre später erzählte, 'ergriffen': 'Als ich aus dem Kino kam, war ich fest entschlossen. Ich würde Filmemacher werden.'"
Archiv: Spectator