9punkt - Die Debattenrundschau

Skandal-Garanten

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.09.2023. Es braucht mehr politische Teilhabe um den Rechtsruck nicht nur im Osten aufzuhalten, meint Lukas Rietzschel, der in der FAZ außerdem ein AfD-Verbot fordert. Besser wäre es, die AfD als Landesverräter im Dienste des Putinismus brandmarken, meint Richard Herzinger in seinem Blog. Die Medien sollten häufiger mal mit Handwerksmeisterinnen und Zahnärztinnen sprechen, fordert Leander Steinkopf in der Welt. Charlie Hebdo bringt einen Appell gegen Dänemarks neues Blasphemiegesetz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.09.2023 finden Sie hier

Gesellschaft

Vielleicht hat die Enttäuschung einiger Teile der ostdeutschen Gesellschaft auch einfach mit dem Mangel an politischer Teilhabe zu tun, glaubt in der FAZ der Schriftsteller Lukas Rietzschel: "Erstens bildet der Bundestag unsere Gesellschaft in ihrer Vielfalt nicht ab. Nichtakademiker sind chronisch unterrepräsentiert... So zeigt sich, dass der Bundestag Politikänderungen eher umsetzt, wenn diese von Berufsgruppen mit höherem sozialen Status (Selbständige, Beamte) und von höheren Bildungs- und Einkommensgruppen mehrheitlich befürwortet werden. Zweitens war die Zahl sogenannter NMIs, also nichtmajoritärer Institutionen wie Verfassungsgerichte, Zentralbanken, Expertenräte oder Lobbyistengruppen, die Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen, noch nie so hoch wie heute." Er plädiert für ein AfD-Parteiverbot und "eine Umstrukturierung der Stadt- und Kreistage zu Parlamenten, deren Mandate per Losverfahren verteilt werden."

Richard Herzinger findet die Idee des Verbots der AfD in seinem Blog zwar durchaus bedenkenswert, warnt aber vor dem zeitraubenden Prozedere vorm Bundesverfassungsgericht: "Die AfD muss daher politisch bekämpft werden - doch auf wesentlich effektivere Weise als dies bisher der Fall war. Der Nazi-Vorwurf, mit dem sie vor allem von linker Seite überhäuft wird, hat sich längst abgenutzt." Viel besser wäre es, so Herzinger, die AfD-Politiker als Landesverräter im Dienste des Putinismus zu brandmarken: "Das Stigma des Verrats am deutschen Volk würde die völkischen Extremisten hart treffen, pflegen sie sich doch als die einzig wahren deutschen Patrioten darzustellen. Insbesondere die CDU /CSU ist aufgerufen, sich in dieser Frage scharf zu profilieren. Gerade für Konservative, die sich stets an vorderster Stelle für das Nationale zuständig gefühlt haben, müsste es unerträglich sein, dass eine Partei, die Deutschland der Fremdherrschaft einer autoritären Macht unterwerfen will, unter der falschen Flagge der Vaterlandsliebe segelt."

Ähnlich wie Rietzschel argumentiert in der Welt der Journalist und Schriftsteller Leander Steinkopf, der den Medien vorwirft, den Wirklichkeitskontakt verloren zu haben: "Es erfordert Mühe, mit denen in Kontakt zu bleiben, die nicht mit Journalismus ihr Geld verdienen. Und das sind nicht nur die Tagelöhner und Arbeitslosen, nicht nur die Handwerksmeisterinnen und kaufmännischen Angestellten, es sind auch die Zahnärztinnen, Ingenieure und Informatikerinnen. Es ist also nicht mal eine Akademikerblase, in der sich ein Großteil des Journalismus heute heimisch fühlt, sondern die Blase, der ebenfalls Publizierenden (unter denen sich natürlich auch manch Arbeitsloser, einfacher Angestellter und arrivierter Arzt finden lässt)."
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Europa

Je länger der Krieg Russlands gegen die Ukraine andauert, desto lauter wird das Geraune über die Möglichkeit von ukrainischen Gebietsabtretungen, schreibt Sonja Zekri in der SZ. Historisch gibt es einige Beispiele für das Prinzip "Land gegen Frieden", nicht zuletzt die Abgabe der Ostgebiete Deutschlands an die Sowjetunion. In der Ukraine selbst gibt es allerdings "abgesehen von einer winzigen Minderheit zwischen Charkiw und Uschhorod niemand, der auch nur einen Fußbreit an Moskau abgeben will, so jedenfalls die Ergebnisse einer Umfrage in der Ukraine." Nachvollziehbar, meint Zekri, "bedenkt man, wie spät die Ukraine zu ihrem Staatsgebiet gekommen ist, wie oft und mit welchen entsetzlichen Folgen ukrainisches Territorium zwischen den Großmächten hin- und hergeschoben wurde, dann begreift man eher, warum so gut wie alle in der Ukraine das gesamte Land befreien wollen, ganz gleich, wie lange es dauert, warum der Vorschlag 'Land gegen Frieden' hier nicht nur wie ein Täuschungsmanöver klingt, sondern geradezu wie eine Aufforderung zum Selbstmord."

In serbischen Medien ist zunehmend von der "Invasion der Russen" die Rede, berichtet Andrej Ivanji in der taz aus Belgrad. Und damit ist keineswegs der Krieg gegen die Ukraine gemeint, denn Serbien "hegt nach wie vor betont freundschaftliche Beziehungen zu Moskau". Vielmehr geht es um die "rund 200.000 Russen", die mittlerweile in Serbien leben: "Größtenteils sind es die - aus westlicher Sicht - 'guten Russen': Kriegsgegner, Kremlkritiker, demokratisch gesinnt, der westlichen Kultur mehr zugeneigt als den im Mutterland verbreiteten Werten. Grundsätzlich sind die slawisch-orthodoxen Brüder und Schwestern willkommen im Land, das sich mit dem EU-Kandidatenstatus rühmt. Jedenfalls, wenn sie still sind und sich politisch nicht öffentlich äußern. Dann lassen die serbischen Behörden sie in Ruhe. Andernfalls können sie als Sicherheitsrisiko eingestuft werden."

Shimon Stein und Moshe Zimmermann warnen mit Blick auf die Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger im Tagesspiegel davor, den Kampf gegen Antisemitismus politisch zu instrumentalisieren - und die Warnung sprechen sie auch mit Blick auf die Süddeutsche Zeitung aus. Schon allein die Verwendung des Begriffs reiche, um politische Gegner "zu schwächen, ja zu lähmen". Aber: der "inflationäre Umgang mit einer konturlosen Definition des Begriffs Antisemitismus könnte zwangsläufig dazu führen, dass jede Diskussion um Antisemitismus uferlos verläuft und das eigentliche Ziel, Bekämpfung des Antisemitismus, verfehlt wird", so Stein und Zimmermann. Damit spiele man letztendlich dem Rechtspopulismus in die Hände.

Russland hat mit zahlreichen Ländern ungelöste Gebietskonflikte, unter anderen Finnland, Estland, Japan, schreibt Martin van Creveld in der Welt, vor allem aber auch mit China: "Im Jahr 1990 unterzeichneten die Sowjetunion und China ein Abkommen, das die Grenzprobleme zwischen den beiden Ländern regelte beziehungswiese regeln sollte. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Russland im neunzehnten Jahrhundert durch eine Reihe von Verträgen auf Kosten Chinas etwa 965.000 Quadratkilometern an Territorium erhielt, hauptsächlich in der Mandschurei. Zwar haben die Behörden in Peking diesen Verträgen zugestimmt, doch dass sie oft als 'ungleich' bezeichnet werden, spricht für sich selbst. Natürlich gehören die betreffenden Gebiete zu den am dünnsten besiedelten der Welt. Doch genau das ist das Problem: Die menschenleeren Gebiete im Norden ziehen chinesische Einwanderer fast magisch an. Einige Quellen sprechen sogar von einer Zahl von 1.000.000 Einwanderern pro Jahr, was angesichts der Tatsache, dass in China fast zehnmal so viele Menschen leben wie in Russland, nicht verwunderlich ist." Verliert Russland den Krieg, könnte der Streit um die Territorien wieder ausbrechen, warnt Creveld.
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Medien



Dänemark will ein neues Blasphemiegesetz erlassen, um der peinlichen Koran-Verbrennungen Herr zu werden, die die diplomatischen Beziehungen zu muslimischen Ländern so stören. Das alte  Blasphemiegesetz war erst 2017 abgeschafft worden. Gegen das Gesetzesvorhaben wendet sich ein Appell von Charlie Hebdo, der auch von skandinavischen Medien unterzeichnet wurde: "Wenn Korane verbrannt werden, kann dies aus schlechten Gründen geschehen, aber auch aus guten Gründen: als Protest gegen totalitäre Regime wie im Iran oder in Afghanistan, die das religiöse Buch benutzen, um ein ganzes Volk zu terrorisieren und ihre Gegner zu unterdrücken. Iranerinnen, die sich weigern, ein Kopftuch zu tragen, sind Gotteslästerinnen. Afghanische Frauen werden von den Taliban verfolgt, wenn sie zur Schule gehen wollen. Durch die Verabschiedung dieses Gesetzes macht sich die dänische Regierung zum Komplizen dieser tyrannischen und mörderischen Regimes, deren Macht vollständig auf der völligen Unterwerfung unter den Koran beruht. Durch die Verabschiedung dieses Gesetzes wird die dänische Regierung zum Verbündeten und Diener des iranischen und des Taliban-Regimes. In einer Demokratie ist die einzige legitime Macht die des Volkes. In einer Demokratie können alle Formen der Macht durch die öffentliche Debatte in Frage gestellt, verspottet und lächerlich gemacht werden."
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Politik

Im taz-Gespräch mit Hanno Hauenstein hofft die israelische Soziologin Yael Berda, dass sich das Oberste Gericht in Israel gegen die "Angemessenheitsklausel" ausspricht und daraus eine Verfassungskrise folgt. Außerdem begrüßt sie, dass der Internationale Gerichtshof ein Urteil zum rechtlichen Status der Besatzung der palästinensischen Gebiete erarbeitet und erläutert die Rechtsprechung in den besetzten Gebieten: "Die Rechtsprechung im Westjordanland folgt ethnischen Kategorien: Palästinenser unterliegen Militärstrafrecht und dem Strafrecht der Palästinensischen Autonomie, für Siedler gilt israelisches Zivilrecht. Wenn ein Siedler und ein Palästinenser zur gleichen Zeit und am gleichen Ort dasselbe Verbrechen begehen, wird der Palästinenser vor ein Militärgericht gestellt, der Siedler vor ein israelisches Zivilgericht. Konkret heißt das: völlig unterschiedliche Verfahren und Strafen. Apartheid ist allein schon rechtlich betrachtet nicht etwas, was droht, sondern in den besetzten Gebieten seit Jahrzehnten fest verankert ist."
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