Efeu - Die Kulturrundschau

Sehen und Séance

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.04.2024. Die FAZ bewundert in Seoul die Fresken des Künstlers Anri Sala, die Techniken der Renaissance, des albanischen Handwerks und analoger Fotografie in den Dienst der Auferstehung stellen. Zeit online rieselt mit Katharina Kollmanns Album "Haus" deutsch-deutsche Identitätspolitik fein durch die Finger. Die SZ mokiert sich über den riesigen neuen und "klimafreundlichen" King Salman Airport. Die NYT sieht den Modedesigner Roberto Cavalli mit Zigarre im Mundwinkel in seinem schillernd violetten Helikopter gen Himmel schweben. Die FAZ ruft leise Servus zum enfant terrible des Designs, dem wunderbaren Gaetano Pesco.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.04.2024 finden Sie hier

Kunst

Ausstellungsansicht: Anri Sala, Noli Me Tangere. Courtesy the artist and Esther Schipper, Berlin/ Paris/ Seoul. Photo: Andrea Rossetti


Stefan Trinks stellt in "Bilder und Zeiten" (FAZ) den albanischen Künstler Anri Sala vor. Video und Musik sind meist die Mittel seiner Wahl, sein Thema die Pause oder die "Lücke zwischen A und B", wie Trinks schreibt. "Umso mehr überrascht aktuell in Seoul eine Galerieausstellung mit einer auf den ersten Blick für den Künstler völlig neuen, aber hochinteressanten Werkgruppe, die das Thema Zeit erneut in eigenwilliger Weise thematisiert: Fresken. Für die menschheitsalte Technik schießt er auf dem Zeitstrahl in seine eigene Vergangenheit zurück, zu seinem Kunststudium an der Albanischen Kunstakademie in den Jahren 1992 bis 1996, in dem er - Abstraktion war böse, solides Handwerk war alles - auch in der Technik des Freskierens ausgebildet wurde. Die Ausstellung steht unter dem Obertitel 'Noli me tangere'", wie auch ein Fresco von Fra Angelico heißt. Und wie bei Fra Angelico schweben Hände in einem Garten. Die Farben führen aber wieder in eine andere Zeit - "sie schillern in grünen und dunkelblauen Tönen, weil Sala den Teint der Haut eines Farbnegativs invertiert hat." Damit, so Trinks, bringt Sala "ein anderes, jüngeres Medium ins Spiel - die analoge Fotografie, die selbst schon wieder anachronistisch ist."

In der Welt staunt Hans-Joachim Müller über den gewaltigen Erfolg der Caspar-David-Friedrich-Ausstellung in Hamburg, der sich in Berlin wohl wiederholen wird. Woran mag es liegen? Weil jeder alles in die Bilder interpretieren kann? Weil sie immer "zu symbolischer Fantasiearbeit angeregt" haben? Oder liegt es an dieser "Übereinstimmung von gesehener, erlebter und erträumter Welt, die Ununterscheidbarkeit von Innen- und Außenbildern. Dass Sehen und Séance nur zwei Worte für dieselbe Sache sind, das haben wir vor diesem Werk gelernt. Und nur davon handeln Caspar David Friedrichs Bilder, vom stummen Dastehen, vom Geschehenlassen, von der Sprachlosigkeit, die das kampflose Beteiligtsein begleitet. Immer herrscht diese feierliche Ausnahmestimmung, Andacht, Gelassenheit. Und keiner tut etwas, keinem sieht man an, dass er sich die Aufklärungs-Emphase zu eigen gemacht hätte und sich mit großer Gebärde aus selbstverschuldeter Unmündigkeit befreien würde. So geht es in diesen Bildern weder um Frust und Enttäuschung noch um demütig fromme Bescheidung. Ihr Motiv ist überlegene Vernunft, die die Dinge sein lässt, wie sie sind."

Weitere Artikel: Die FAZ stellt mit vielen Fotos den Fotografen Francis Kokoroko vor, der die Auswirkungen des Klimawandels und der illegalen Goldgräberei auf den Kakaoanbau in Ghana und der Elfenbeinküste dokumentiert hat. In der FR schreibt Monika Gemmer zu 150 Jahren Impressionismus, die das Musée d'Orsay mit einer großen Jubiläumsausstellung feiert, die Franz Zelger in der NZZ bespricht. Hannes Hintermeier besichtigt für die FAZ die neu eröffnete Albertina Klosterneuburg.

Besprochen werden außerdem eine Installation von Isabel Tueumuna Katjavivi im Museum Neukölln, die an den Kolonialismus im damaligen Deutsch-Südwestafrika erinnert (BlZ) und die Klima Biennale in Wien (die Sophie Jung in der taz zu einigen kritischen Gedanken anregt: "Man kann sagen, die freie Kunst wird hier instrumentalisiert, auch für das Stadtmarketing von Wien. Der Weg zur Auftragskunst ist nicht sehr weit. Derzeit wird viel über politische Einflussnahme auf die Kunst debattiert. Am Donnerstag noch übergab die Initiative #standwithdocumenta eine Petition an den Aufsichtsrat der documenta gGmbH, um sich gegen die Einführung von Verhaltensregeln für die zukünftigen künstlerischen Leiter:innen der documenta zu stellen. Es heißt, 'Codes of Conduct' würden die Kunstfreiheit einschränken. Vielleicht sollte man mit Kritik woanders ansetzen, nämlich an einem derzeitigen Verständnis von freier Kunst, die einer politischen Agenda dienen solle.")
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Literatur

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Im Guardian-Videointerview liest Salman Rushdie aus den Passagen seines neuen Buches vor, wie er das Attentat auf seine Person erlebte. Raoul Schrott erzählt in der NZZ von seiner Reise in die Sahara. Für das Literarische Leben der FAZ liest sich Michael Martens durch die Alterstagebücher von Aleksandar Tišma. Der irakische Schriftsteller Usama Al Shahmani erzählt in der NZZ von seinem langjährigen Exil in der Schweiz und wie er sich die deutsche Sprache raufpackte. Anna Vollmer berichtet in der FAZ von der Kinderbuchmesse Bologna. Noemi Schneider erinnert in "Bilder und Zeiten" der FAZ an Lord Byrons Zeit in Venedig, in der FAZ gratuliert Andreas Platthaus dem Schriftsteller Hans Christoph Buch zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Anne Webers "Bannmeilen" (taz), Leslie Jamisons autobiografischer Essay "Splitter" (taz), Toxische Pommes' "Ein schönes Ausländerkind" (NZZ), Gerald Richters und Marian Kretschmers Comic "Die sieben Leben des Stefan Heym" (FR), Alia Trabucco Zeráns Krimi "Mein Name ist Estela" (Freitag), Jürgen Heimbachs Krimi "Waldeck" (Freitag), Christoph Ransmayrs Storyband "Als ich noch unsterblich war" (SZ), Sophia Fritz' "Toxische Weiblichkeit" (SZ), Ernst Tollers Autobiografie (FAZ) und Melanie Möllers "Der entmündigte Leser" (WamS). Mehr ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
Archiv: Literatur
Stichwörter: Rushdie, Salman

Architektur

In der SZ mokiert sich Gerhard Matzig über den von Norman Foster geplanten "klimafreundlichen" neuen King Salman Airport in Saudi-Arabien: "Geplant sind sechs Start- und Landebahnen, die bis zum Jahr 2050 rund 185 Millionen Fluggäste jährlich ermöglichen. Zum Vergleich: Der sogenannte Hauptstadt-Flughafen BER hat es im Jahr 2023 auf 23 Millionen gebracht. Süß. Schade, dass die Klimakleber schon die letzte Generation sind - sie müssten sich generationsübergreifend vermehren, um diese Megalomanie mit sehr viel Sekundenkleber zu verhindern. Die Anzahl von derzeit 210 000 Flügen soll auf eine Million pro Jahr gesteigert werden. Die Erfindung der Flugscham ist dabei noch nicht berücksichtigt - trotz Habecks Freundschaft zu Saudi-Arabien. Ungeachtet dessen zeigen die suggestiven Foster-Pläne eine grüne Oase, viele Bäume, Schatten spendende Strukturen und auch einige Flugzeuge." Mehr zu dem Flughafen bei Futurezone.

Lucien Scherrer unterhält sich für die NZZ mit Rektor Günther Dissertori, Departementsleiter Matthias Kohler und Professor Philip Ursprung von der ETH Zürich über den antiisraelischen und dann und wann auch antisemitischen Aktivismus an ihrem Institut (unser Resümee). Matthias Kohler gibt zu, dass es gelegentlich Probleme gibt, aber dabei gehe es "um Einzelfälle. Wir sind ein Departement mit 2500 Leuten mit ganz unterschiedlichen Positionen, aus unterschiedlichen Herkunftsländern, darunter auch einige laute Stimmen. Es gibt aber in keiner Art und Weise strukturellen Israel-Hass. Dass das medial anders wahrgenommen werden kann, ist mehr den Social Media und deren Verbreitung geschuldet."
Archiv: Architektur

Film

Besprochen werden Ali Asgaris und Alireza Khatamis iranischer Collagenfilm "Irdische Verse" (online nachgereicht von der FAZ), Woody Allens "Ein Glücksfall" (Welt, unsere Kritik), Philip Martins Netflix-Film "Scoop" über ein PR-Desaster von Prinz Andrew (NZZ), die in der ARD-Mediathek gezeigte Serie "The Fortress" (FAZ) und die Amazon-Serienadaption des Videospiels "The Fallout" (TA).
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Design

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Roberto Cavalli ist tot. Er war der Modedesigner, der "Glamour und Exzess zelebrierte, indem er seine Models und Schauspielerinnen mit Leopardenmustern, in mit Juwelen geschmückten Jeans, in Satin-Korsette und anderen völlig unbekümmerten protzigen Kleidern auf den Laufsteg, bzw. den Roten Teppich schickte", schreibt Steven Kurutz in der New York Times. Seine "Aufmerksamkeit suchenden, viel Haut zeigenden Kleider waren nichts für Introvertierte. Auch war seine Marke nicht intellektuell. Stattdessen spielte Cavalli mit dem spaßigen, flamboyanten, hedonistischen Aspekt von Mode. ... Stets sonnengebräunt und immer eine Zigarre im Mund, verfolgte Cavalli einen Lebensstil, der so Rock'n'Roll war wie seine Kleider. Er flog seinen eigenen, schillernd violetten Helikopter und bereiste das Mittelmeer mit seiner ebenfalls violetten Yacht." Für Vogue führt Laird Borrelli-Persson durch Cavallis Schaffensphasen.

Golgotha Chair by Gaetano Pesce, 1972


Gestorben ist auch der große Gaetano Pesce. Künstler wäre eigentlich eine bessere Beschreibung für ihn als Möbeldesigner, meint Peter-Philipp Schmitt in der FAZ. Als der Unternehmer Cesare Cassina "1971 eine Marke für Experimentaldesign gründete, Braccio di Ferro, übernahm Pesce die Leitung. Mit ihr entwickelte er die Stuhlserie Golgotha, eine Anspielung auf den Ort, wo Jesus angeblich gekreuzigt wurde. Das allein war schon gewagt. Inspiration war darüber hinaus das Grabtuch Christi. Pesce legte sein Tuch aus Glasfasergewebe, Polyesterfasern und Epoxidharz über einen Würfel und hängte die Lehne an zwei Haken auf. Bevor das Ganze aushärtete, gab eine Person mit ihrem individuellen Körperabdruck dann dem Sitz seine Form. Pesce lehnte die gleichmacherische Globalisierung ab, die eigentlich Grundlage serieller Produktion ist. Sein Ziel waren Serien aus Unikaten. Und dafür eignete sich besonders Kunstharz, das bei seinen Vasen, Stühlen oder Spiegeln, jeweils ein wenig anders, in Formen floss."
Archiv: Design
Stichwörter: Cavalli, Roberto, Mode, Modedesign

Bühne

In der SZ fragt sich Egbert Tholl, wann Bayerns Kunstminister Markus Blume endlich entscheiden will, ob die Verträge von Staatsintendant Serge Dorny und Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski (beide an der Bayerischen Staatsoper) verlängert werden. Tholl wünschte sich, beide würden bleiben, damit die Zukunft der Staatsoper "nicht die eines Mausoleum" wird. Iris Laufenberg, Intendantin des Deutschen Theaters in Berlin, kann sich laut Ulrich Seidler (BlZ) das Defizit des DT von 2,5 Millionen Euro nur durch die allgemeinen Preissteigerungen und Verträge mit den Freien erklären.

Besprochen werden Claudia Bauers Inszenierung von Selina Fillingers feministischer Farce "Die Schattenpräsidentinnen" am Deutschen Schauspielhaus Hamburg (nachtkritik, SZ), Joana Tischkaus "Last Night a Dj Took My Life" am Schauspielhaus Zürich (nachtkritik), Olivier Messiaens Mysterienspiel "Saint François d'Assise" mit einem phänomenalen Bühnenbild des auch inszenierenden Künstlers Adel Abdessemed an der Oper Genf (nmz), Puccinis "La Rondine" an der Volksoper Wien (Standard), "Ex und Hopp(s)", ein Theaterstück von Hospizarbeitern in Berlin (BlZ).
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Musik

Die Kritiker versenken sich in "Haus", das neue Album von Katharina Kollmann, alias Nichtseattle, die für Berthold Seliger im Neuen Deutschland "zu den großen Songschreiberinnen unserer Zeit gehört". Seliger würde sich gar "auf den Küchentisch von, sagen wir, Gröne- oder Distelmeyer stellen und ihnen ins Gesicht sagen, dass seit Gisela Steineckert, Werner Karma oder Fritz-Jochen Kopka niemand mehr so gute deutsche 'Pop'-Songtexte geschrieben hat wie Katharina Kollmann. Sie ist eben auch eine hervorragende Lyrikerin. Da ist ein ganz eigener, zärtlich-feiner Sound in ihren Zeilen. Und hin und wieder gelingt ihr sogar ein Brecht'scher Moment, zum Beispiel, wenn sie in 'Unterstand' eine positive Utopie entwickelt, diese in der nächsten Strophe widerruft, um schließlich zu ihr zurückzukehren."

"Wer eine gute Stunde mit dem Album verbringt, dem rieselt die deutsch-deutsche Identitätspolitik fein durch die Finger", schreibt Tobi Möller auf Zeit Online, "und ein paar Sinnkörner bleiben auch hängen: Bei Nichtseattle bedeutet ostdeutsch zunächst, zugewandt, aber eigensinnig zu bleiben. Vielleicht singt sie gerade deshalb nicht explizit über ostdeutsche Befindlichkeiten, sondern verbaut hartnäckig die soziale Frage in ihren Liedern - auch dort, wo man sie nicht gleich bemerkt." Doch "da ist noch etwas anderes, das dieses Haus so ungewöhnlich erscheinen lässt. Das Hadern mit den besser Gebetteten, mit den Glücks- und Kraftpropheten, kippt regelmäßig in den Zweifel. Das Gefühl des Nichtgenügens zieht sich durch die Songs von Nichtseattle. Es ist nicht immer klar, ob immer die anderen Schuld sind, die andere Herkunft aus dem abgewerteten Land oder ob ein eigener, unverstandener Knoten im Weg ist." Ihren schönen Song "Krümel noch da" hatten wir hier bereits eingebettet, in "Beluga" fahren wir mit Nichtseattle auf dem Fahrrad durchs nächtliche Berlin:



Weitere Artikel: Tazler Oliver Tepel kann sich der allgemeinen Begeisterung für Beyoncés Country-Album "Cowboy Carter" (unser Resümee) nicht anschließen: "Ihre meist von Autoren- und Produzenten-Kollektiven arrangierten Songs wirken weniger als Statements großer Liebe, sondern eher nach der Expertise einer Unternehmensberatung." Felix Zimmermann plaudert für die taz mit Dominik Wollenweber, der bei den Berliner Philharmonikern Englischhorn und auf Instagram Hausmusik spielt. Karl Fluch blickt für den Standard darauf, wie sich die Musikszene in den USA gegen KI zur Wehr setzt. Günther Haller erinnert in der Presse an Anton Bruckners Zeit in Linz. Jakob Biazza erzählt in der SZ von seinem Treffen mit Mark Knopfler in London, dessen neues Album "One Deep River" Richard Kämmerlings in der Welt bespricht.



Besprochen werden ein von Jaap van Zweden dirigiertes Konzert der New Yorker Philharmoniker mit dem Pianistin Rudolf Buchbinder in Zürich (NZZ) und eine Vinyl-Neuausgabe des Debütalbums von Clutch aus den frühen Neunzigern (Standard).
Archiv: Musik
Stichwörter: Nichtseattle