Post aus Breslau

Schweres Beben

Von Mateusz J. Hartwich
26.09.2005. Die Polen haben ein neues Parlament gewählt und im Gegensatz zu den Deutschen ein eindeutiges Ergebnis zustande gebracht - einer Minderheit sei dank.
Polen hat am Sonntag gewählt. Nach ersten Hochrechnungen (mehr im Spiegel) erhielt die konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski etwa 26,8 Prozent der Stimmen, die liberale Bürgerplattform (PO) unter Spitzenkandidat Jan Rokita kam auf rund 24,2 Prozent. Zusammen haben sie die notwendige Mehrheit. Drittstärkste Partei ist die Bauernbewegung Selbstverteidigung (Samoobrona) mit 11,7 Prozent der Stimmen. Die bislang regierenden Postkommunisten konnten nur noch 11,4 Prozent der Stimmen gewinnen. Die Wahlbeteiligung lag bei 39 Prozent.

Was ist im Vorfeld der Parlamentswahlen am Sonntag in Polen alles diskutiert worden! Nicht etwa über den Wahlausgang - seit Monaten war klar, dass das regierende postkommunistische "Bündnis der Demokratischen Linken" (SLD) gnadenlos abgewählt wird, und die oppositionellen Parteien: die national-konservative Recht und Gerechtigkeit (PiS) und die konservativ-liberale Bürgerplattform (PO) gemeinsam die nächste Regierung stellen werden. Es ging viel eher um die Nuancen, die auf das politische System Polens nach den Wahlen großen Einfluss haben werden.

Zum einen ging es darum, welche Partei den zukünftigen Premierminister stellen wird. Im Vorfeld der Wahlen war ausgemacht worden, dass im Falle des Wahlsieges der PiS Jaroslaw Kaczynski Regierungschef wird, während die Bürgerplattform mit Jan Rokita (im Westen bekannt als der Schöpfer des Slogans "Nizza oder Tod!") einen für polnische Verhältnisse exzentrischen Kandidaten aus Krakau aufgestellt hat. Zwar hat kurz nach Verkündung der vorläufigen Ergebnisse Kaczynski lautstark den Führungsanspruch wiederholt, doch fing bereits Montag früh die Gerüchteküche an zu brodeln. Denn sollte sein Bruder Lech Kaczynski, bis dato Warschauer Stadtpräsident, die Präsidentschaftswahlen in zwei Wochen gewinnen, würde Jaroslaw zurücktreten, aus Rücksicht auf die Skepsis der Polen, die nicht von Zwillingen regiert werden wollen, die sich auch noch zum Verwechseln ähnlich sehen. Nicht ganz ausgeschlossen ist auch, dass sich die Konservativen für eine Koalition mit der national-katholischen Liga der Polnischen Familien (LPR) und der populistischen Bauernbewegung "Selbstverteidigung" entscheiden.

Zum anderen sah es einige Zeit danach aus, als ob die regierenden Sozialdemokraten, vor allem nach der Abspaltung einiger kleinerer Linksgruppierungen, die Fünf-Prozent-Hürde nicht überwinden würden - so war es bei den Parlamentswahlen vor vier Jahren beiden Regierungsparteien, der Wahlaktion Solidarnosc und der Freiheitsunion, ergangen. Dies hätte den Erdbebeneffekt, von dem am Wahlabend ohnehin die Rede war, noch verstärkt. Wenn man sich aber anschaut, welche Parteien den Sprung in den Sejm geschafft haben - die LPR, die Selbstverteidigung und die Bauernpartei PSL - ist man froh, dass mit den Postkommunisten, die sich in den letzten Monaten einer radikalen Verjüngungskur unterzogen haben und mit einem 31-jährigen Parteichef einen neuen Star gefunden haben, der für alte sozialdemokratische Werte einstehen will, eine vernünftige Opposition vorhanden sein wird.

In der einflussreichen Wochenzeitung Polityka prophezeiten noch vor den Wahlen der Chefredakteur Wieslaw Wladyka und der Publizist Jacek Zakowski eine Zeitenwende. Die 1989 durch einen Kompromiss am Runden Tisch geschaffene Dritte Republik gehe zu Ende, schrieben sie. Jenes postkommunistische System, dessen Personifizierungen der abtretende Staatspräsident und frühere Youngster der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei Aleksander Kwasniewski sowie der Chefredakteur der wichtigsten Tageszeitung und frühere Dissident Adam Michnik waren. Letzterer hat Jahre hindurch mit seiner Gazeta Wyborcza die Meinungsführerschaft im Transformationsland behauptet.

Die zahlreichen Korruptionsfälle, die dieses System erschütterten, sorgten schließlich auch dafür, dass sich einige Oppositionspolitiker, wie Jan Rokita, als kompromisslose Moralwächter in Szene setzen konnten. Dabei formulierten sie nicht nur immer radikalere Vorwürfe gegen die Regierungspartei und den Präsidenten, sondern deckten auch real existierende dubiose Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft auf. Über einen solchen Vorwurf stolperte letztendlich auch der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat und frühere Premierminister Wlodzimierz Cimoszewicz, der vier Wochen vor der Wahl am 9. Oktober verbittert seine Kandidatur zurückzog.

So ist vielleicht auch zu verstehen, dass sich Adam Michnik vor den Parlamentswahlen mit Meinungsäußerungen zurückhielt. Hatte er bei allen bisherigen Wahlen mehr oder weniger eindeutige Empfehlungen heraus gegeben, so beschränkte er sich diesmal darauf, in zahlreichen Essays und mit Hilfe historischer Anspielungen auf die Gefahr einer Revolution der Kleingeistigen hinzuweisen. Gemeint haben konnte er damit nur die Zwillingsbrüder Kaczynski (Jaroslaw als Parteichef und "Kanzlerkandidat" und Lech als Präsidentschaftsanwärter), die lautstark die Notwendigkeit einer "moralischen Revolution" und des Aufbaus einer Vierten Republik (wohlgemerkt, auf den Trümmern der Dritten) verkündeten.

Aber auch die Bürgerplattform, in deren Reihen sich viele Weggefährten Michniks aus Solidarnosc-Zeiten befinden, offenbarte mehr oder weniger radikale Ideen für das Polen nach den Wahlen (eine Flat-Tax von 15 Prozent oder die Verkleinerung des Sejms sowie die Abschaffung der zweiten Kammer, des Senats). Von einer gewissen Resignation war von Anfang der Versuch begleitet, Teile der von früheren Dissidenten gegründeten und mehrmals mitregierenden Freiheitsunion in eine neue "Demokratische Partei - demokraci.pl" zu überführen, mit Angliederung einiger bekannter, aber unbefleckter Gesichter aus dem postkommunistischen Lager (allen voran noch-Premier Marek Belka). Sie scheiterten bei den Wahlen genau so wie die neue, vom einst populären Parlamentspräsidenten Marek Borowski angeführte, neue Sozialdemokratische Partei (SdPL).

Alle Hoffnungen auf eine relativ besonnene Regierung wurden daher immer mehr auf die Bürgerplattform gesetzt. Ihr Präsidentschaftskandidat Donald Tusk schwebte in den letzten Tagen bei Umfragen um die 50-Prozent-Marge, wobei der reale Einfluss des Präsidenten im polnischen politischen System sehr von Person und Persönlichkeit abhängt. Ein gemäßigter Tusk kann ein Gegengewicht zum radikalen Kaczynski als Premierminister sein, was aber angesichts der gegenwärtigen Lage in Polen, mit einer wachsenden Radikalisierung und einem starken Rechtsruck, nicht so einfach sein wird.

Der Ausgang der Wahlen am Sonntag war daher wenig überraschend - die PiS knapp vor PO und den Sozialdemokraten - viel wichtiger scheint, dass mit einer rekordverdächtig niedrigen Wahlbeteiligung von rund 39 Prozent der Souverän sein kollektives Misstrauensvotum gegen das ganze politische System ausgesprochen hat. "Die Polen sind der Politik müde", kommentierte Präsident Kwasniewski, der sich kurz vor der Abstimmung eindeutig für die Unterstützung der SLD eingesetzt hat. "Es ist jetzt Aufgabe der Wissenschaftler, aber vor allem der Politiker, sich dieses Problems anzunehmen". Auch der Chefredakteur der wichtigen konservativen Tageszeitung Rzeczpospolita Grzegorz Gauden warnte: "Das ist eine Bedrohung für die polnische Demokratie."

In Polen registrierte man mit großer Aufmerksamkeit, dass in vielen ausländischen Medien nahezu das Verschwinden einer polnischen Linken konstatiert wurde. Viele Kommentatoren beobachten paradoxerweise im Wahlsieg der "Recht und Gerechtigkeit" ein wichtiges Signal für die Verbundenheit der Polen mit sozialen Idealen. Hat sich doch die Partei der Kaczynskis in den Tagen vor der Wahl als Vertreterin einer "pro-sozialen" Rechten profiliert, und zahlreiche Attacken gegen das vermeintlich radikal-liberale Programm der Bürgerplattform gestartet. Zugegeben, der Plan eines einheitlichen Steuersatzes von 15 Prozent für Einkommens-, Unternehmens- und Mehrwertsteuer, der Paul Kirchhofs Vorstellungen einer radikalen Reform des Finanzsystems noch um Einiges übertraf, verschreckte einige Wähler.

Der Publizist Jaroslaw Kurski ging in der Gazeta Wyborcza sogar soweit, den Erfolg der PiS darauf zurückzuführen, dass sie sich als "rechts in der Form und links im Inhalt" präsentiert hätte: "Von den zwei Rechtsparteien hat die mit dem sozialeren Profil gewonnen", kommentiert er das Wahlergebnis. Im Endspurt der Kampagne, als es nur noch darum ging, welche der beiden Gruppierungen die stärkere in der gemeinsamen Koalition wird, wurden die liberalen Ideen der "Bürgerplattform" scharf angegriffen. "Ähnlich wie vor einer Woche in Deutschland, stimmten für die 'Recht und Gerechtigkeit' die jenigen, die Angst vor dem liberalen 'schwarzen Mann' bekommen haben.".

Die bekannte Soziologin Jadwiga Staniszkis zeigt sich in der Tageszeitung Rzeczpospolita mit dem Wahlausgang nicht zufrieden. Statt die national-konservative PiS als Seniorpartner in der Regierung mit Jaroslaw Kaczynski als Ministerpräsident hätte sie lieber seinen Bruder Lech Kaczynski als Präsidenten gesehen, was jetzt wenig wahrscheinlich erscheint. "Wenn ich mir die Namen der Leute anschauen, die jetzt Minister werden sollten, dann sehe ich hoffnungslose Perspektiven. Sie haben keine Ahnung von Europa. Ich kenne einfach diese Menschen. Sie garantieren nicht die Verwirklichung dessen, was sie in der Kampagne versprochen haben. Die PiS hat ein menschliches, realistisches Programm, und sie könnte es durchziehen. Aber nicht mit den Menschen, die für die Regierung vorgesehen sind."

Die neue polnische Regierung steht vor vielen Problemen - nicht zuletzt mit Deutschland. Dazu gehören: die Ostsee-Pipeline, der EU-Haushalt, das "Zentrum gegen Vertreibungen" oder die Ansprüche der sogenannten Preußischen Treuhand in Polen.