Post aus der Walachei

Macht Sportschuhe aus Schweinsfüßen

Von Hilke Gerdes
20.06.2005. Ein Deutscher, Daniel Knorr, repräsentiert Rumänien bei der Kunstbiennale in Venedig.
Anamnese Europas

Die 51. Biennale di Venezia hat begonnen. Rumänien ist mit einer Arbeit von Daniel Knorr dabei: "European Influenza" (2002/2005). Teil einer Ausstellungsreihe, der bereits 2002 in New York gezeigt wurde. Bis auf das Hinweisschild mit dem Werktitel ist nichts zu sehen als das Nichts. Oder besser gesagt: der Ausstellungspavillon als räumliche Hülle der Leere. Eine Leere, die Fragen zur Kunst selbst aufwirft. Kunst thematisiert die Bedingungen der Kunst - neu ist das nicht, aber noch immer ein Bedürfnis.

Verglichen mit dem deutschen Beitrag von Tino Sehgal, der seine von anderen ausgeführten Aktionen nicht dokumentiert und die Immateralität und Subjektivität als alternative Denkmodelle zur Logik des Mangels und des Gegenständlichen, nach der Wirtschaft agiert, begreift, wirkt das Immaterielle im Werk Knorrs eher zahm.

Zum Vergnügen des Betrachters ermöglicht der Titel wildes Assoziieren und gebührlich-ungebührliches Vermengen mit aktuellen politischen Ereignissen: Die "Europäische Grippe" mag einen an den EU-Mitgliedschaftsvirus denken lassen, der nicht nur die Anwärter Rumänien und Bulgarien, sondern auch die Ukraine und die Türkei befallen hat. Die EU-Anwärterschaft als ansteckende Krankheit. Die einen wollen rein, die anderen wollen keine neuen Infizierten haben. Bei ihnen hat der Virus ebenfalls zugeschlagen, nur führt er zu gegensätzlichen Symptomen. Bettlägerig geworden, müssen sie ihre "europäische Grippe" wohl oder übel auskurieren: "Nachdenken über Europa" nach dem Nein zu Europa in Frankreich und den Niederlanden.

Der Sprachkundige wird bei "Influenza" den "Einfluss? mitdenken. So füllt sich die Leerstelle im Krankheitsbild Europas mit der Frage: Was sind wir, was sind die anderen, was wollen wir werden? Identitätsfragen haben Konjunktur. Den "European Way of Life" mag sich so recht wohl keiner vorstellen. Auch wenn er in der Akzeptanz der Differenz liegt.


Identität
Während in Deutschland das Wort vorzugsweise im Plural gebraucht wird, hat man vor dem Singular in Rumänien keine Scheu. Die Frage nach der eigenen Identität ist hier hoch aktuell. Gerade hat der ehemalige Staatspräsident, Ion Iliescu, kaum genesen von Herzbeschwerden, die ihm nach seiner Abwahl als Vorsitzender der PSD quälten, sein neuestes Buch vorgestellt: "Rumänische Kultur und europäische Identität". Sind die Rumänen schon die besseren Europäer? Im deutschen Feuilleton ist angesichts der Reformstarre und Jammerei im eigenen Land der Willen zum Wandel im Osten ja bereits als die bessere Haltung für Europa identifiziert worden.

Willen zum Wandel? Nicht nur in Richtung Europa: Im Senat wurde vor kurzem mit 77 zu 16 Stimmen für eine Gesetzesvorlage gestimmt, die vorschreibt, den Wochenanfang in Schulen und Kasernen, das tägliche Programm der öffentlichen Radio- und Fernsehsender sowie die Sitzungen der Lokal- und Kreisräte mit dem Singen der Nationalhymne "Desteapta-te-Romane" (Erwache, Rumäne) zu beginnen.


Les Anciens et les ModernesIm rumänischen Pavillon auf der Biennale stellt ein deutscher Künstler aus. Knorr ist zwar 1968 in Bukarest geboren, lebt aber seit 1982 in Deutschland und hat die deutsche Staatsbürgerschaft. Wie sein Kurator auf der Biennale, Marius Babias, der ebenfalls in Rumänien geboren ist, lebt er in Berlin. Gibt es da ein Problem? Ja und nein.

Grob lässt sich die rumänische Kunstszene in zwei große Gruppierungen einteilen: die Traditionalisten, Vertreter einer klassisch-figurativen Kunst, die in den vergangenen Jahrzehnten angesiedelt unter dem Dogma des sozialistischen Realismus beherrschend war. Und die Progressiven, die für einen erweiterten Kunstbegriff stehen. Anfänge dafür gab es in Rumänien bereits Ende der fünfziger Jahre mit der Aktionskunst, die kleine Künstlerkreise im Untergrund betrieben.
Für die Traditionalisten ist Knorr ein eindeutiges Problem. Den patriotisch Gesinnten unter ihnen missfällt, dass kein "richtiger" Rumäne ausgewählt wurde. Diejenigen, die von fehlender "Inspiration" der jüngeren Künstlergeneration sprechen, glauben, dass man sich mit Werken wie Knorrs nur blamiere, denn Rumänien habe mehr zu bieten als einen leeren Raum. Und leere Räume sind nach diesem Kunstverständnis keine Kunst.

Glücklicherweise gibt es viele, die über solche Äußerungen nur mit dem Kopf schütteln können. Weder stellen sie das Werk als Kunstwerk in Frage, noch ist die Nationalität Knorrs Thema. Eher das, was Knorr mit dem nationalen Pavillon macht. Für den Kunstkritiker Cosmin Costinas ist die Problematisierung des Raumes und der Symbolik des Länderpavillons zentral. Und damit die politische Relevanz, die er allgemein in der zeitgenössichen rumänischen Kunst stärker festzustellen glaubt. Was viele der älteren Künstlergeneration, das heißt der heute zwischen 40- und 50-Jährigen, bezweifeln mögen, verstehen sie sich doch ebenso politisch. Aber das ist ein anderes Thema. Der junge Kunstkritiker wertet es als "ein gutes Zeichen" für die Kunstszene hier, dass ein solch "diskursives Projekt" angenommen wurde (mehr hier).


Imagination
Diskutiert wurde im Vorfeld mehr über das ganze Wettbewerbsprocedere, die mangelhafte Organisation und fehlende Transparenz, als über die Kunst Knorrs. Rumänische Konstanten, denkt die Beobachterin, denn es gehört in der Kulturszene fast zum guten Ton, überall Gemauschel und Connections zu wittern und mit Argusaugen das Handeln der staatlichen Institutionen zu beobachten. Die Erfahrungen der letzten fünfzehn Jahre haben ihre Spuren hinterlassen.
Dan Perjovschi kennt das Problem und hat deshalb sein Mitwirken in der Auswahljury transparent gemacht. Im Internet (nämlich hier, unter nettime-ro), das für die Kunstszene hier das wichtigste Kommunikationsmittel ist.

Auf der Website des für die Biennale zuständigen Kulturministeriums - http://www.cultura.ro/, so der die Kultur "konfiszierende? Website-Name des Ministeriums, wie Perjovschi anmerkt - ist keine einzige Information über den Wettbewerbsentscheid zu sehen.
Schelte für das Ministerium gab es auch von kritischer Journalistenseite (Marius Stefanescu, im Gardianul, zuletzt hier): Seit Monaten ist der schlechte bauliche Zustand des rumänischen Pavillons bekannt und nichts wurde unternommen. Weder von der alten Regierung noch von der neuen.

Vorausgesetzt die sintflutartigen Regenfälle verlagern sich von Rumänien nach Norditalien, sind legislative Hürden (der Pavillon gehört der Stadt Venedig), ausstehende Finanzierung und mangelhafte Kommunikation dafür verantwortlich, wenn im leeren Raum von Daniel Knorr Wassertropfen visuell wie physisch erfahrbar werden und die Imagination in neue Richtungen lenkt.


Leiden an der Nation
Dan Perjovschi, Aktions-, Installationskünstler und Zeichner, hat sich 1993 während des Europe Zone East Festival in Timisoara (Temeswar) "Romania" auf seinen Oberarm tätowieren lassen. Tätowierungen waren 1993 keineswegs eine übliche oder wie bald im Westen modische Erscheinung. Sie gehörten den Außenseitern, Häftlingen, Seemännern und manchem Roma. Perjovschis Wahl dieser Form weist auf seine eigene gesellschaftliche Stellung als Dissident. Erst nach Ceausescus Ende hat er seine Zeichnungen politischer Kritik in oppositionellen Zeitungen wie 22, für die er heute noch arbeitet, veröffentlichen können.

Mit dem Ländernamen macht er das Verhältnis von Künstler und Nation in seiner persönlichen Spezifik deutlich. Sein Leiden an dem Land ist nach außen gekehrt, für jeden lesbar. Als er die Tätowierung zehn Jahre später während der Kasseler Ausstellung "In den Schluchten des Balkans" entfernen ließ, sagte er, nun geheilt zu sein. Angekommen im Supranationalen. Ironischerweise betonte die Ausstellung gerade die geographisch-geopolitischen Kategorien.
Perjovschi war 1999 auf der Biennale in Venedig vertreten: Mit Hunderten von kleinen Zeichnungen auf dem Fußboden des Ausstellungsraumes. "Warning. Everything can be subject of my drawings."

Sein Arbeiten in situ bedeutet auch immer ein Eingehen auf den Ort. "Don't marx me", hatte Perjovschi auf einem Kasseler Gehweg anlässlich der Balkan-Ausstellung 2003 geschrieben. Seine scharfe Kritik am Kapitalismus sollte man nicht falsch verstehen. Wer Perjovschi beim Zeichnen zuschauen möchte, hat bald die Gelegenheit: Im Kölner Museum Ludwig wird er ab dem 29. Juli die Wände des DC:Saals mit seinen Zeichnungen versehen ( Ausstellungsende 25. September).


Leben mit der Nation
"Do not know what union I want to belong to anymore", heißt das Werk Vlad Nancas (Abbildung hier) Es zeigt die Flaggen Europas und der Sowjetunion mit vertauschten Farben: gelbe Sterne auf rotem Grund und Hammel und Sichel in Gelb auf blauem Grund. Die Farben der rumänischen Flagge (blau, gelb, rot) verteilen sich auf beide Flaggen. Man muss dieses Werk nicht erklären: Die Botschaft ist klar.
Ihr Urheber, Jahrgang 1979, ist eine der zentralen Figuren in der jüngeren Kunstszene Bukarests. Seine eigene Wohnung, in der er mit seiner Frau, der englischen Künstlerin Kate Smith, und erstem Kind lebt, ist zu einem bekannten Treffpunkt für Künstler und Kunstinteressierte geworden. Hier in der homegallery finden Ausstellungen und Aktionen von Freunden und mit Freunden statt, die alle "2020" nahe stehen. Das selbst ernannte Kartell arbeitet auf das Jahr 2020 zu: dann werden sich die kulturellen Weltzentren in Osteuropa befinden. Schon jetzt ist alles in der Weltsprache Englisch auf der eigenen Website dokumentiert.

Wenig theorielastig, eingebettet in urbaner Clubkultur und mit Spaß an gemeinsamen Aktionen werden die Grenzen zwischen High und Low des normalen Kunstbetriebs außer Kraft gesetzt. Im Selbstverständnis politisch, aber ohne den Ernst der Älteren, gehen sie mit dem eigenen Land kritisch, aber unbefangen um. Während Dan Perjovschi niemals im umstrittenen Muzeul National de Arta Contemporana ausstellen würde, haben viele der jüngeren Künstler kein Problem mit der Fragwürdigkeit des Ortes und der Institution (siehe Post aus der Walachei vom 5. November 2004). Für sie bedeutet die kommunistische Epoche ausschließlich Erinnerung an die frühe Kindheit. Und so gehen sie auch mit der Vergangheit spielerisch um. Wie Nanca bei "adidas". Im Werk Nancas sieht man allerdings keine Turnschuhe, sondern Schweinsfüße, auf die er die berühmten drei Streifen platziert hat. "Adidas" wurden sie genannt, damals zu Ceausescus Zeiten; in Ermangelung besserer Fleischteile und Markenturnschuhen musste der Sarkasmus die Sehnsucht nach ihnen stillen.

Nachtrag: Cristi Puiu hat mit seinem "Tod des Herrn Lazarescu" (siehe Post aus der Walachei vom 4. Mai 2005) den ersten Preis in der Sektion "Un certain regard" auf dem Filmfestival in Cannes gewonnen. Wahrscheinlich stand das in Deutschland in keiner Zeitung ... 2020 ist weit entfernt.