Post aus Neapel

Überwachen und Strafen

Von Gabriella Vitiello
10.10.2003. Was macht man am besten mit aufsässigen Jugendlichen? Überwachen und strafen, meint Berlusconis Bildungsministerin Letizia Moratti. Die Straßenlehrer von Neapel sind dagegen überzeugt, dass auch Schulabbrecher ganz normale Menschen sind.
"Die Regierung muss sich dafür einsetzen, Werbespots aus dem Kinderprogramm zu streichen, denn die Werbung hat einen verheerenden Einfluss auf das Gleichgewicht der Kinder." Was wie ein Aufruf des Kinderschutzbundes klingt, war der Appell eines Parlamentariers an seine Kollegen, die vor wenigen Tagen das neue italienische Mediengesetz verabschieden sollten. Das nach dem Kommunikationsminister Maurizio Gasparri benannte Gesetz ist Silvio Berlusconi auf den Leib geschnitten und wird dem italienischen Premier und Medienmogul dabei helfen, noch mehr Werbeeinnahmen auf sein Medienimperium zu konzentrieren, um so vor allem die unabhängige italienische Presselandschaft finanziell ausbluten zu lassen.

Mit seinem Aufruf hatte der Abgeordnete Teodoro Buontempo, der seine Kinder lieber in England als in Italien ausbilden lässt, jedoch genau wie seine Parteigenossin Alessandra Mussolini von der postfaschistischen Alleanza Nazionale das Thema verfehlt - zu Schulzeiten gab es dafür mindestens eine satte Fünf; denn bei der punktuellen Abänderung des Mediengesetzes, die das Mitte-Links-Bündnis beantragt hatte, ging es um die Frage, ob Werbespots mit Kindern unter 14 Jahren in Zukunft komplett verboten werden sollten. Die Enkelin von Benito Mussolini sorgte sich aber eher um das Wohl kleiner Fernsehzuschauer und erklärte, dass es morgens um viertel vor neun Uhr auf Telecapri, einem privaten Provinzsender in Neapel, schon "erotische und sexuelle Szenen zu sehen gibt, die eindeutig zum Anruf bei einer Sex-Hotline auffordern." Wenn es um bambini geht, wird es eben jedem noch so harten Politiker warm um?s Herz. Details sind da genauso unwichtig wie die wenig vorbildlichen Frühstücks-Fernsehgewohnheiten der Alessandra Mussolini.

Das Mitte-Links-Bündnis hatte auf die mütterlichen und väterlichen Gefühle gesetzt, um das Mediengesetz ins Stolpern zu bringen, und die Rechnung ging auf: 35 Abgeordnete der Mitte-Rechts-Mehrheit schlugen sich auf die Seite der Opposition. Das Gesetz wurde blockiert - zumindest für ein paar Wochen. Es bleibt jedoch der Eindruck zurück, dass Berlusconi mit Hilfe der Kinder eins ausgewischt werden sollte. Falls es in Italien tatsächlich langfristig nur noch Windelwerbung ohne Kleinkinder und Autowerbung ohne Familienglück geben wird, so stellt sich aber weiterhin die Frage nach der Werbung mit Kindern in den Printmedien. Vor allem in Modezeitschriften und Frauenmagazinen preisen Designermarken derzeit auffällig oft ihre Ware mit dem gleichen Motiv an: dürres Modell hält speckigen Säugling im Arm. Wobei die Kombinationen ?weiße Frau mit schwarzem Baby? und ?schwarze Frau mit weißem Baby ? besonders beliebt sind.

Der Präsident von Terres des Hommes Italien, Raffaele K. Salinari, nutzte die Vorfälle um das Mediengesetz, um die politische Kurzsichtigkeit der Oppositionsparteien in il manifesto zu kritisieren. Zwar räumte er ein, dass mit dem Schutz der Kinder endlich ein wichtiges ethisches Problem zur Sprache gekommen sei, das aber mit ein bisschen flotter Taktik kaum bekämpft werden könne: "Denn mit dem 'eindimensionalen Kind', also dem Kind als Konsument, erzeugen der Neo-Liberalismus und seine Medienmaschinerie ein absolutes Monster: der Minderjährige hat kein Wahlrecht, aber er kauft oder lässt kaufen, und sein Bild sorgt für unvorstellbare Umsätze, auch weil seine psychische und physische Unversehrtheit wenig zählen. Das ist vergleichbar mit einer Person, die in Disneyworld eine Mickey Mouse-Maske trägt. Das übergestülpte Abbild ist geschützt, der Arbeiter darunter, der die Maske spazieren trägt, viel weniger." Deshalb plädiert Salinari für eine Politik, die dem Waren- und Tauschwert eine Alternative entgegensetzt.

Die Regierung Berlusconi hat jedoch ihre eigenen Rezepte, um Kinder und Jugendliche vor ihrem "Unbehagen", dem "disagio giovanile", zwischen Konsumkultur, Playstation, Schulproblemen und Drogenmissbrauch zu schützen. "Überwachen und Strafen" - so ließe sich vielleicht am besten die repressive Mischung aus Jugend-, Schul- und Drogenpolitik zusammenfassen, die an zwei unterschiedlichen Orten vorgeführt wurde: in dem bekannten römischen Gymnasium Virgilio und in dem Privatzentrum zur Rehabilitierung von Drogenabhängigen San Patrignano bei Rimini.

Dorthin hatte die Bildungsministerin Letizia Moratti ihre EU-Kollegen zu einem informellen Treffen zum Thema "Jugendliches Unbehagen und Schulabbruch" geladen. Sie verlieh dem privaten, katholischen Institut so den gleichen Stellenwert wie einer öffentlichen Einrichtung und machte es zum staatlich anerkannten Hotel für europäische Minister. Dabei besitzt der Staat schmucke Palazzi in Hülle und Fülle, um seine Gäste zu beherbergen. Das Durcheinander von privatem und staatlichem Interesse, das Berlusconi perfekt verkörpert, setzt sich auch in der Schul- und Drogenpolitik fort - mit starkem Hang zur Bevorzugung des Privaten.

Gemäß EU-Vorgaben muss Italien die Zahl der Schulabbrecher bis 2010 von 27 Prozent auf zehn Prozent reduziert haben. Das will die Ministerin durch das Schaffen von "Synergien zwischen der Welt der Schule und den verschiedenen Formen des sozialen Dienstes" versuchen. Zwar verspricht die Ministerin auch, dass "Italien dazu alle nötigen Kräfte und Ressourcen zur Verfügung stellen wird". Aber während die öffentlichen Schulen vor leeren Kassen stehen und Unterrichtsstunden und Freizeitangebote kürzen müssen, bewilligte der Staat privaten Einrichtungen enorme Geldsummen - nämlich zehn Millionen Euro - damit diese das Problem der Schulabbrecher auf ihre Art lösen und den abtrünnigen Jugendlichen wieder den "rechten Weg" weisen.

Indem Letizia Moratti mit "Zahnbürste und 24-Stunden-Koffer" zum Bed & Breakfast nach San Patrignano reiste, weihte sie die private Gemeinschaft zum "ausgewählten Ort der Jugendpolitik" mit all seiner symbolischen Bedeutung, kommentiert der Autor und Journalist Michele Serra in La Repubblica den Ausflug der Ministerin. San Patrignano ist nicht irgendein Ort für den Drogenentzug, sondern steht für eine Pädagogik, die so erfolgreich wie umstritten ist, erklärt Serra: "leidenschaftlich, großzügig, patriarchal, schrankenlos, handgreiflich". In der Vergangenheit stilisierte sich San Patrignano oft zur "Republik des Leidens" und rechtfertigte seine rauhen Methoden als einzig mögliche Maßnahme gegen das "extreme Übel der Drogen". Damit beanspruchte das Zentrum für sich einen rechtlichen Sonderstatus, indem die Gesetze des Staates nicht so ernst genommen werden. Der Begründer des Instituts, Don Muccioli, war nicht nur eine prominente Figur der so genannten "Neuen Rechten", sondern auch "ein brillanter Unternehmer, der mit freier Hand agierte, sobald sich die Tore des Instituts geschlossen hatten. Sein Modell ließ die Arbeit staatlicher Einrichtungen als ineffizient erscheinen" - so Serra, der sich nicht darüber wundert, dass mit dieser Art der Politik wichtige Gelder sowie "kulturelle Sympathien" von der öffentlichen zur privaten Drogenarbeit umgeleitet werden.

Genauso symbolbeladen wie das EU-Treffen in San Patrignano waren die Vorfälle im römischen Gymnasium Virgilio, wobei dort eher der praktische Teil der Lektion in Jugendpolitik stattfand. Die Polizei klingelte frühmorgens sechs Schüler des Gymnasiums aus dem Bett und durchsuchte die Zimmer der Jugendlichen nach Drogen. Gefunden wurden ein paar Gramm Haschisch. Um die Schüler anhand von Fotos zu identifizieren, hatte die Polizei vermutlich in den vergangenen Monaten als Hausmeister verkleidete Spitzel in die Schule geschleußt und Überwachungskameras installiert, worüber die Schulleitung nicht informiert wurde. Die Schüler fühlen sich instrumentalisiert, kriminialisiert und um ihre Freiräume betrogen. (Mehr dazu hier.)

Die Repression verfolgt eine doppelte Strategie, erklärt der Deutschlehrer des Virgilio, Giuseppe Panuccio, im Interview mit il manifesto: Einerseits werde eine gute, alteingessene Schule mit linker Vergangenheit und antiautoritärer Ausrichtung, die trotz aller Probleme ihre Dynamik und ein offenes, tolerantes Klima beibehalten konnte, verteufelt. Andererseits werde dieser Angriff auf eine staatliche Schule dazu genutzt, dem neuen Drogengesetz den Weg zu bereiten. Die Gesetzesvorlage, die noch dieses Jahr verabschiedet werden soll, hebt den Unterschied zwischen harten und weichen Drogen, zwischen Dealern und Konsumenten wieder auf und fällt zurück in die Drogenpolitik der siebziger Jahre.

Die Psychologin Clotilde Pontecorvo weist darauf hin, dass Repression und Prohibition nur das Vertrauensverhältnis zwischen Erwachsenen und Jugendlichen zerstören, nicht aber das Problem der Drogenabhängigkeit lösen können. Wobei sie betont, dass unter Minderjährigen vor allem der Alkoholmissbrauch stark zunimmt. Pontecorvo baut im Umgang mit den Jugendlichen auf "Regeln, die gemeinsam erarbeitet und diskutiert werden. Und auf demokratische Formen, an denen die Jugendlichen selbst teilnehmen können."

Die Regierung sucht jedoch weder mit den Jugendlichen, die oft genug als Kiffer und Schulschwänzer abgestempelt werden, den Dialog, noch mit den entsprechenden sozialen und pädagogischen Kräften, die zur Erneuerung der Schule Entscheidendes beitragen könnten, wie beispielsweise die Straßenlehrer von Neapel. Diese Maestri di Strada kümmern sich in einem Projekt names "Chance" um Schulabbrecher, die ohne intensive Begleitung sich selbst oder der Straße überlassen blieben. Zur Zeit arbeiten 30 Lehrer mit 180 Schülern, gehen individuell auf deren Lebensumstände und Lernblockaden ein und geben ihnen damit eine neue Chance zum Schulabschluss. Einer der Koordinatoren des Projekts, Cesare Moreno, beschreibt das Defizit des italienischen Bildungssystems aus der Perspektive eines Straßenlehrer: "Italien hat eine strenge und abstrakte Schule geschaffen, die viel zu wenig experimentiert und kaum Wert legt auf die Ausbildung der Lehrer. Außerdem wird sie immer als zweitklassig abgestempelt - auch von der Linken." (Hier weiter Infos zum Initiator des Progetto Chance, Marco Rossi Doria.)

Einen Straßenlehrer wie Moreno hatte die Bildungsministerin nicht nach San Patrignano geladen. Seine Kritik an ihrer Auffassung vom Schulabbruch hätte ihr vermutlich kaum gefallen: "Dahinter verbirgt sich eine Logik, die das Fernbleiben von der Schule immer mit Jugendkriminalitität und jugendlichem Drogenmissbrauch in Verbindung bringt. Die Jugendlichen, die nicht mehr zur Schule gehen, sind jedoch völlig normale Menschen" - so Moreno.

Während die Ministerin Moratti in San Patrignano für die Privatisierung des "disagio giovanile" warb und damit das Problem lieber hinter verschlossene Türen abschob, fand an der Universität von Rom eine Tagung zum Thema des sprachlichen Unbehagens zwischen Erwachsenen und Kindern statt. Organisiert hatte das Treffen die Vereinigung "Autoriforma Gentile", die sich für eine "zirkuläre Idee von Lernen und Lehren" einsetzt. Guido Armelli, Mitglied von Autoriforma, erklärt das Konzept: "man muss sich darüber im Klaren sein, dass dort, wo es Differenzen zwischen Erwachsenen und Kindern gibt, auch die Möglichkeit besteht, etwas voneinander zu lernen. Das ist sicherlich anstrengend und schwierig, öffnet aber einer spannenden kulturellen Herausforderung den Weg." Ministerin Moratti sieht das anders: sie hat die Sackgasse der Repression gewählt und nimmt die Jugendlichen - ähnlich wie die Werbung - als eindimensionale Konsumenten war. Schlimmstenfalls auch als Drogenkonsumenten, die zum Entzug in eine private Anstalt gesteckt werden und dort für ihre Behandlung dann viel Geld bezahlen dürfen.