Post aus New York

Move over, Gutenberg!

Von Ute Thon
31.01.2001. Muss die Geschichte der Druckerkunst umgeschrieben werden? Zwei Wissenschaftler behaupten, der klassische Bleisatz wurde erst 20 Jahre nach der Gutenberg-Bibel erfunden.
Ein paar amerikanische Wissenschaftler sägen derzeit am Vermächtnis einen Säulenheiligen der westlichen Kulturgeschichte. Blaise Agüera y Arcas, ein 25jähriger Physiker, und der renommierte Bibliothekswissenschaftler Paul Needham von der Princetoner Scheide Library haben Johann Gutenberg, den Vater des modernen Buchdrucks, unter die Lupe genommen. In einer computergestützten Analyse seiner Druckerzeugnisse kommen die Buch-Spezialisten zu dem Schluss, dass Gutenbergs über 500 Jahre alte Schriften nicht, wie bisher angenommen, mit beweglicher, wiederverwendbarer Typographie gedruckt wurden, sondern mit einem viel kruderen Verfahren, das mit dem heutigen Buchdruck kaum noch verwandt ist. Der klassische Bleisatz mit Setzkasten und Kupfermatrizen wurde nach den Erkenntnissen der Princeton-Leute in Europa erst 20 Jahre nach Erscheinen der Gutenberg-Bibel entwickelt, wahrscheinlich von heute unbekannten Handwerkern, die Gutenbergs Technik weiterentwickelten.

Die beiden Wissenschaftler verkündeten ihre ketzerischen Erkenntnisse letzte Woche am Rande der Jahrestagung der Bibliographical Society of America, im New Yorker Grolier Club. Die Multimedia-Szene jenseits der "Gutenberg-Galaxis" (M. McLuhan) mag diese Nachricht kalt lassen, doch unter Amerikas Bibliophilen hat sie für Aufregung gesorgt. Die ganze Geschichte der Druckerkunst müsse umgeschrieben werden, sagte Historiker Anthony Grafton in einem Aufmacherartikel der New York Times, "es gab nicht diese eine heroische Entdeckung."

Bisher galt als einwandfrei erwiesen, dass das revolutionäre Buchdruckverfahren, d.h. die Zerlegung eines Textes in seine Einzelelemente, die als seitenverkehrte Lettern in beliebiger Anzahl in Blei gegossen und dann wieder zu Wörtern, Zeilen und Seiten zusammengefügt die Druckvorlage bilden, von Gutenberg allein entwickelt wurde. Oder wie es auf der Gutenberg-Homepage so schön heißt: "Ohne Gutenberg keine Reformation, keine Schulpflicht, keine Goethe-Ausgaben, keine Aufklärung, kein Quelle-Katalog und keine Zeitungen."

Die um 1455 erschienene Gutenberg-Bibel gilt als erstes massenproduziertes Buch. Needham und Agüera y Arcas meinen nun, den Schlüssel gefunden zu haben, warum die Erstauflage des Weltbestsellers mit nur 180 Exemplaren so niedrig ausgefallen ist. Der Vergleich identischer Textseiten in verschiedenen Bibeln ergab, dass die einzelnen Buchstaben so unterschiedlich sind, dass sie nicht von derselben Druckvorlage stammen können. Gutenberg verwendete zur Herstellung der Druckplatten vermutlich Sandformen, eine seinerzeit übliche Technik zur Herstellung von Metallrahmen, Kruzifixen und anderer christlicher Memorabilia. Dabei wird die gewünschte Form in superfeinem Sand gestaltet und dann mit Blei ausgegossen. Der Nachteil dieses Verfahrens ist, dass man bei jedem Guss die Form verliert. Gutenberg musste die lateinischen Bibeltexte also immer wieder neu in den Sand malen - was die Abweichungen erklärt - anstatt, wie später beim Bleisatz üblich, die abgenutzten Druckbuchstaben durch neue Typen aus der gleichen Form zu ersetzen.

Needhams Enthüllungen stoßen Gutenberg allerdings nicht völlig vom Sockel. Sie beleuchten vielmehr, dass die Erfindung des modernen Buchdrucks, wie wohl die meisten großen Entdeckungen, in Wirklichkeit ein internationales Joint Venture war, auch wenn unsere auf Daten und Köpfe fixierte westliche Geschichtsschreibung auf exklusive Zuordnungen beharrt. Im Falle der Buchdruckkunst wurde von westlichen Historikern lange übersehen, dass die Chinesen, immerhin die Erfinder des Papiers waren, auch schon seit Jahrtausenden Texte mit Holz- und Steindruckplatten massenproduzierten und im 11. Jahrhundert bereits bewegliche Typographie aus Tonformen einsetzten. Oder dass die Koreaner wahrscheinlich schon 30 Jahre vor Erscheinen des ersten Gutenberg-Buchs mit wiederverwendbaren metallenen Druckbuchstaben arbeiteten.

Ob der Druckermeister aus Mainz von diesen Verfahren wusste, ist ebenso wenig bekannt wie die genauen Umstände der Herstellung seiner massenproduzierten Bibel. Gutenberg hinterließ keine schriftlichen Aufzeichnungen über das Verfahren, dass ihn unsterblich machte.