Post aus Venedig

Einhörner über Lehmwege

Ein Streifzug über die Biennale in Venedig Von Marie Luise Knott
08.06.2009. Der Titel "FareMondi" ist durchaus als postkoloniales Nebeneinander der Kulturen und Visionen gemeint. Daraus folgt aber auch eine gewisse Beliebigkeit. Ein Streifzug über die 53. Biennale in Venedig.
Auf der 53. Biennale in Venedig fehlt es auch dieses Jahr nicht an Weisheiten - "Poesie, das sind Worte, die ins Meer geworfen werden, wo sie auf und nieder treiben" liest man im israelischen Pavillon, und Bruce Naumans Lichtspirale "The true artist helps the world by revealing mystic truths" prangt in der Mitte des US-Pavillons.

"Mystic truth" ist ein weites Feld, nicht vorgedrungen bis zum deutschen Pavillon, in dem Liam Gillick unter anderem mit 300.000 Euro Steuergeldern eine Einbauküche aus Tannholz derart quer zur vorhandenen Architektur einbaute, dass er die klassische Anlage des ehemaligen Bayrischen Hauses, das die Nazis einst pompös umbauten, visuell aushebelte. Dass ein britischer Staatsbürger Deutschland auf dieser Biennale vertritt, hatte im Vorfeld für Kritik gesorgt, und Nicolaus Schafhausen, der Kurator, verteidigte seine Auswahl bei der Eröffnung äußerst beliebig: Die Pavillons seien in Zeiten der Globalisierung kein Hort des Nationalismus, sondern "landing strips for international artists, that may take off to other parts of the world". Staatsminister Neumann begann seine Rede damit, es sei ja nicht das erste Mal, dass ein Ausländer Deutschland vertrete. Als Beispiele nannte er neben Nam June Paik 1993 auch Paul Klee 1930 - eine Ausbürgerung post mortem, die vor dem Säulenportal von 1938 besonders merkwürdig anmutete, da die Nazis die Ausbürgerung dieses "entarteten Künstlers" damals sicher gerne in der Wirklichkeit vollzogen hätten. Tatsächlich war Klee die Schweizer Staatsbürgerschaft erst zwei Monate nach seinem Tode zuerkannt worden. Über die Ausstellung im Pavillon herrscht allgemeines Kopfschütteln, die "Frankfurter Küche" der Bauhaus-Künstlerin Margarete Schütte-Lihotzky mit der Katze auf dem Schrank lässt kalt.

Subversiver geht es bei den Russen zu. "Victory over the future" - Der Titel ein Konzept. Der heute in Paris lebende Andrej Molodkin (geb. 1966) weiß, es gibt keinen Sieg. Für Siegeszüge zahlt man bittere Preise. "Chechen Crude Oil" stand am ersten Tag auf einem Zettel, der an der Wand heftete. Der Zettel verschwand, als die russischen Staatsvertreter erschienen. Im dunklen Raum begegnet man drei auf die Wand geworfenen Videos einer aus Glas nachgebildeten Skulptur der Nike von Samothrake, jener kopflosen Siegesgöttin aus dem alten Griechenland, die heute im Louvre steht. In einer der drei leuchtenden Grazien pulsiert schwarzes Öl aus Tschetschenien, das im Rhythmus einer Maschine aus dem Halse herausquillt und den Körper der Nike für Momente schwarz überläuft. In den beiden anderen pulsiert statt Öl Blut russischer Soldaten. Drei Exemplare einer Schönheit aus vergangener Zeit, wiederbelebt und besudelt in Rot und Schwarz - blood and oil, oil for blood.

Um einen anderen Abgesang auf revolutionäre Hoffnungen geht es bei Claude Leveques "Le grand soir" im französischen Pavillon. Jenseits des Rhetorischen - der revolutionäre Traum ist eine Sackgasse die im Schiffbruch mündet, ihre Vorstellung von Freiheit ist heute unser Gefängnis - evoziert die Arbeit beim Betrachter vielschichtige Bilder und Assoziationen.

Kunst weiß, dass sie immer auch ein Wiederholen ist. Die in Indonesien geborene Fiona Tan (geb. 1966), die heute in Holland lebt, liest in ihrer großen Video-Arbeit für Venedig aus den Reisebeschreibungen des Marco Polos ("Die Wunder dieser Welt") und reist 700 Jahre nach ihm noch einmal an die Orte seiner Erkundungen, wo heute Kinder neben vorbeifahrenden Riesenlastern spielen, Menschen im Müll wühlen, wo Stoffe gefärbt und gewebt werden und - noch immer Einhörner seelenruhig über Lehmwege stolzieren. Stillstand und Veränderung, Faszination und Anklage - Marco Polos auf Faktizität ausgerichtete Schreibweise versetzt den heutigen Blick in die Schwebe. Der Titel - "disorient" - changiert, heutige Orientbilder werden unterlaufen, der Betrachter der Bilder wird mit den Worten des Venezianers desorientiert.

Der spiritus loci ist in Venedig bekanntlich eine unerschöpfliche Muse, die auch vor dem Tschechen Roman Ondak (geb. 1966) nicht halt machte. Ondak, der in einer Ausstellung einmal durch eine manipulierte Radiodurchsage alle Besucher aufforderte, "aus aktuellem Anlass ihre gegenwärtige Tätigkeit fortzusetzen", gelingt es auch hier in den Giardini wieder, Kunstbegriff und Kunstbetrieb heiter, hintersinnig, seinem Konzept treu, auf sich selbst zurückzuwerfen. "Loop" - die Endlosschleife der Videokunst. Der Titel ist Antiprogramm und so hat Ondak unter der Kuratorin Kathrin Stromberg den tschechischen Pavillon geöffnet, und - einfach - Wege, Bäume und Sträucher des Gartens im Raum fortgesetzt. Draußen ist drinnen und drinnen ist draußen und alles ist Kunst. Oder vielleicht doch nicht? Vielleicht ist es gleichgültig, wo man sich befindet. Nur muss man zwischendurch ins Mögliche steuern.

Nebenan, im britischen Pavillon, zeigt Steve McQueen (geb. 1969) auf zwei Leinwänden riesig groß die verlassenen Giardini irgendwann nach dem Ende der einen und vor dem Beginn der nächsten Biennale, wenn die Massen anderen Glückssuchen entgegenströmen, der Regen auf Steine und Konfettireste tröpfelt, Hunde über Wiesen streunen und im Müll nach Essbarem suchen, und nicht nur Nebel, Sonne, vorbeifahrende Schiffe und goldbraune Käfer sich ein ungestörtes Stelldichein geben.

Ob Politik oder spiritus loci, was letztlich zählt ist nicht so sehr das Material. Im Schweizer Pavillon geht es, anders als in den übrigen Häusern, dieses Jahr völlig unrepräsentativ zu. Hier hat Kunst sich einen Ort der Stille erfunden. "Bezeichnete Blätter an Wänden und auf Tischen" heißt es im Faltblatt. Große und kleine Formate. Silvia Bächli (geb. 1956) hat hier in Hommage an die letztes Jahr verstorbene Dichterin Inger Christensen ihren zeichnerischen Kosmos ausgebreitet. Man betritt den Raum und die Blicke beginnen zu wandern - und mit ihnen die Gedanken. Zeichnung, die innehalten; sie drehen und wenden, sie variieren und unterbrechen. Es gibt Linien, die Spuren legen, Striche, die Wege bahnen. Und es gibt die Ränder des Papiers, und das Ringen mit diesen Rändern. "Zeichnen ist Neuland betreten und darin herumgehen", hat es Silvia Bächli formuliert. Und man sieht, jedes Blatt ist ein Anfang, der fortwährt, der anderes nach sich zieht. Etwas geschieht. Ein Stift steuert ins Mögliche.

Faremondi

Während die Institution der Pavillons auf die ein und andere Weise immer noch daran festhalten, dass künstlerischer Positionen und Bildwelten in globalisierten Zeiten auch national ausgeprägt sind, betont Daniel Birnbaum, der in Schweden geborene Rektor der Frankfurter Städelschule und diesjährige Kurator der Biennale, mit dem von ihm gewählten Titel "FareMondi" - Weltenmachen - die Kraft des Einzelnen, sich in der Kunst seine Welt zu erschaffen. Er als Kurator, erklärte er in der Pressekonferenz, verstehe sich als Vermittler, er habe keinen Masterplan. Im Mittelpunkt stehen die Künstler, die sich ihre Welten erschaffen. Dass der Plural im Titel durchaus als postkoloniales Nebeneinander der Kulturen und Visionen gemeint ist, erkennt man im Arsenale auf einen Blick: Viele der großen Räume zerfallen visuell, so interessant einzelne Arbeiten sind. Freiheitlich verkündet Birnbaum, er habe sich bewusst gegen eine einheitliche Ausstellungsarchitektur entschieden, damit die Künstler ihre Kunstwerke nicht einfach präsentieren oder einpassen, sondern auf die Räume reagieren können. Diese Position hat den Zauber, aber auch den uns mittlerweile nur zu bekannten Preis jedes Postkolonialismus: die Gefahr des Weltzerfalls in ein multikulturelles Nebeneinander. Derart einer Struktur oder eines Zusammenhaltes entbehrend wirken einzelne Kunstwerke mitunter verloren. So kommt der Zeichnungen-Zyklus der in Jugoslawien geborenen Marjetica Potrc (geb. 1953) neben dem Gewusel um die Venedig-Postkarten-Kisten von Aleksandra Mir (1967) kaum zu Geltung. Besser geht dieses Konzept im "Ausstellungspalast" in den Giardini auf, wo die einzelnen Räume Konzentrationen vorgeben. Der aus Benin stammende Adeagbo hat die Spannung, dass Künstler sich ihre eigenen Bildwelten schaffen und jedes gute Kunstwerk immer auch die Welt ein wenig verändert, im Titel seiner Sammelsurien-Installationen eingefangen: "Die Schöpfung und die Schöpfungen".

Birnbaum, der in Frankfurt auch das Ausstellungshaus Portikus leitet, hat sich, vielleicht um sich die ein oder andere Frage vom Halse zu schaffen, irgendwann dazu bekannt, er habe eine malerische Ausstellung machen wollen. Aber damit meint er keineswegs, dass nun "Öl auf Leinwand" oder "Kohle auf Papier" die Ausstellung dominiert. Dem Malerischen widmen sich seiner Auffassung nach vielmehr auch Künstler, die keine Maler im engeren Sinn sind. Von dem Fotografen Wolfgang Tillmans (geb. 1968) sieht man monochrome Bilder, die in Größe und Klarheit an die amerikanische Farbfeldmalerei der 1980er erinnern. Und der italienische Künstler Michelangelo Pistoletto (geb. 1933) hat im Arsenale einen ganzen Raum bekommen und in einen großen Spiegelsaal verwandelt. Diese parallel gehängten überdimensionalen Spiegel, die aus einem Schloss hätten stammen können, erinnern noch einmal an den prachtvollen Traum von der Unendlichkeit, doch viele der Spiegel sind zerstört - die Scherben am Boden und die schwarzen Flächen auf silbernem Grund reflektieren Ikonoklasmus und Aufbruch. Und Yoko Ono (geb. 1933, die dieses Jahr gemeinsam mit John Baldessari den Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk erhalten hat) malt Bilder mit Worten: "SUN PIECE, Watch the sun until it becomes square. 1962 winter?.

Dem Betrachter bieten sich große Eindrücke: die Installation aus Garnrollen, Spielzeugautos und Bierflaschen des aus Südafrika stammenden Moshekwa Langa (geb. 1975), der heute in Holland lebt; die raumgreifende Knüpfwelt des aus Argentinien stammenden Tomas Saraceno (geb. 1973) und die hängenden Seile des aus Korea stammenden Haegue Yang, der wie Saraceno heute teilweise in Deutschland lebt; das kamerunische Dorfensemble aus Hütten, herabhängenden Pfählen, bunten Kokainsäcken und Videofilmen von Pascale Marthine Tayou (geb. 1967). Dazwischen aber stößt man in manchen Ecken auf bunte Stäbe, wie sie der aus Polen stammende Andre Cadere (1934 - 1978) früher gerne in die Ausstellungen anderer Künstler hineinschmuggelte - immer der Frage auf der Spur, ob Farbeindrücke die Wahrnehmung unwillkürlich verändern. Raum widmete Birnbaum noch anderen alten Bekannten, darunter den Zeichnungen Blinky Palermos (1943 - 1977). Formstrenge Meister verwurzeln!

Goldene Löwen 2009:
Bester Pavillon - Vereinigte Staaten von Amerika mit Bruce Nauman
Bester Künstler - Tobias Rehberger
Beste Künstlerin - Nathalie Djurberg
Lebenswerk - Yoko Ono und John Baldessari