Virtualienmarkt

Liberalisieren, konsolidieren, konzentrieren

Von Rüdiger Wischenbart
12.06.2003. Kanzler Schröder gab neulich das paradoxe Versprechen, durch eine Lockerung des Kartellrechts für mehr Vielfalt im Medienmarkt zu sorgen -und traf damit eine allgemeine Tendenz.
Eigentlich müsste man, wie es neuerdings schick und kostengünstig geworden ist, in den großen Blättern ganzseitige Anzeigen schalten mit der Überschrift: "Wir haben zuviel Kultur im Land!", oder auch "Wir haben zuviel Vielfalt!"

Indizien für einen solch paradoxen Befund finden sich nahezu jede zweite Woche. Unlängst befand etwa Kanzler Schröder vor Journalisten, dass er sich nächstens mit Politikern und Verlegern - und auch mit Journalisten - zusammenreden wollte zur Überprüfung der strengen Kartellrechtsbestimmungen für Medien, "um das Überleben einer möglichst vielfältigen Zeitungslandschaft zu ermöglichen". (Mehr hier)

Das eigenartige Verfahren, durch Konzentration von Macht mehr Liberalität zu erwirken erfreut sich zur Zeit weit über Deutschland hinaus großer Beliebtheit. In den USA hob die Federal Communications Commission (FCC) eine fast 30 Jahre alte Regel auf, die es Zeitungen untersagt hatte, in der gleichen Stadt, in der sie erscheinen, auch einen Fernsehsender zu betreiben. Die Beschränkung der Medieneigentümer sei nicht mehr zeitgemäß, lautete das Stirnrunzeln erzeugende Kernargument.

Doch nicht nur die Medienindustrie konsolidiert ihre Geschäftsfelder angesichts der schwierigen Marktlage mit tatkräftiger politischer Rückendeckung. Auch im Kleinklein des normalen kulturellen Lebens nebenan schreitet die Umwertung der alten Werte fröhlich voran.

In Frankfurt am Main ließ der für Kultur zuständige Dezernent unlängst den über Jahrzehnte erfolgreichen Ballettchef gehen und verfügte dann auch noch die Schließung der legendären Bühne TAT, nicht ohne hinzuzufügen, dass es das Theater am Turm "mit einer eigenständigen künstlerischen Leitung" künftig nicht mehr gebe "ist von mir so gewollt".

Als Frankfurt dann wenig später auch noch seine Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas 2010 urplötzlich fallen ließ und, nach anfänglich heftigem Werben und lauten strategisch-politischen PR-Ansagen, gegenüber allen Mitbewerbern jäh kniff, lobten nahezu alle Politiker den Rückzug einhellig als mutige Tat. Was eben noch vollmundig als "Aufbruch der Kultur" zur Grundlage regionalpolitische Zukunftsperspektiven für die gesamte Rhein Main Region erklärt worden war, galt der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth nun plötzlich als eine "undurchsichtige Bewerbung", und es hieß reihum nur noch "Finger weg".

Die Liste der Beispiele lässt sich nahezu nach Belieben erweitern. Beeindruckend ist durchgängig, wie in ganz unterschiedlichen Domänen, also in der Medien-Grundsatzpolitik ganz so wie in der kulturpolitischen Lokalposse, plötzlich aus beredtem Politikermund ein Weniger an Wettbewerb zu einem Gewinn an - kultureller - Qualität umgedeutet wird.

Tatsache ist, dass es in den vergangenen anderthalb Jahrzehntem eine enorme quantitative Explosion an verfügbarer Kultur gegeben hat.

"Kultur für alle" wurde zum Gemeinplatz und zur Realität. Ungezählt sind die Millionen (an DM), die in Museen investiert worden sind. Die Frankfurter Buchmesse feierte bis vor zwei Jahren geradezu rituell nicht nur den Zuwachs an Ausstellern, sondern auch an präsentierten neuen Titeln - und der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bestritt ebenso rituell, dass der hohe Zuwachs an Titeln bei gleichzeitig wesentlich geringerem Wachstum des Buchmarktes insgesamt ein Problem darstellen könnte.

Zeitungen und Zeitschriften gründeten neue Titel - so dass jede Nische garantiert mehrfach besetzt war -, und insbesondere exklusive Redaktionsteile, ob für Kultur, Lifestyle oder Regional- und Spezialausgaben, jagten einander Redakteure, Leser und Anzeigenkunden ab.

Und dann gibt es noch das Internet, das exponentiell ansteigend und in weiten Bereichen für den Nutzer erst einmal kostenlos eine Unmenge an Inhalten zur Verfügung stellt.

Klassischer kann sich eine Krise kaum aufbauen, und erwartungsgemäß rütteln nun die Schockwellen an allen Beständen und Einrichtungen. Allein, die - späte - Bestandsicherung nach dem Motto "weniger ist mehr" wird gerade von jenen Einrichtungen am heftigsten verlangt, die sich eben noch als Gewinner der Vermehrung kultureller Güter und des Handels mit kulturellen Waren gewähnt hatten. Es wird nach Deichbaumeistern gegen die selbst miterzeugte Flut gerufen, oder - siehe Frankfurt ganz so wie in den meisten großen Kommunen - man meldet sich ab aus einem kulturellen Wettlauf, der mit einem Mal nicht mehr zu bewältigen scheint.

Verblüffend ist indessen, wie rasch und unverblümt grundlegende kultur- und medienpolitische Haltungen ebenso wie auch Einrichtungen zur Disposition gestellt werden. Nur vereinzelt nachgefragt wird indessen nach der Konsequenz.

Gibt es tatsächlich zu viel Kultur - und zu viel Vielfalt - im Land, so dass das Angebot durchforstet und kritisch überprüft werden müsste wie das soziale Netz? Oder ist es vielleicht anders herum, um noch einen Moment bei der Analogie zum Sozialstaat zu bleiben, dass sich die Zusammensetzung und die Lebensweisen des Publikums einschneidend verändert haben? Dass also in einem viel grundsätzlicheren Sinn auseinanderdriftet, was die großen Kultur- und Medienindustrien anbieten, und was Leser und Zuseher, Hörer und Besucher auf ihren Schirmen und den bedruckten Seiten suchen.

Die einzige Gewissheit, die im Augenblick besteht, ist wohl die Einsicht, dass der Disput und vielerorts die Zerreißprobe um kulturelle Angebote, Politik der Kultur und ein sich verändertes Publikum eben erst begonnen hat. More soon - on a screen near you!