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Angst ist eine schlechte Lehrerin

Wir wollen eine echte Tim O?Reilly Conference Europe - als Ergebnis der ersten TOC Europe Von Rüdiger Wischenbart
14.10.2009. Wir haben eine hoch politisierte Debatte um digitale Buchformate und ihre mögliche illegale Nutzung. Aber wir haben keine Ahnung, welche Titel wann, wie und warum kopiert werden. Wir brauchen die Zahlen. Und deswegen brauchen wir endlich eine europäische "Tools of Change"-Konferenz.
Am Eröffnungstag zur Frankfurter Buchmesse gab es in einem Hotel nebenan eine Fachtagung zum Thema "Tools of Change" (TOC) für die Buchindustrie, absolut zeitgerecht, da sich 2009 tatsächlich zum Schwellenjahr in Sachen e-Book und Buch Digitalisierung mausert. Ehrlichkeit und Eitelkeit verlangen die kleine Fußnote: Gemeinsam mit Mike Shatzkin hatte ich 2001 einen Vorläufer unter der Überschrift "The Big Questions" Konferenz zu verantworten, aber das war ein unglückseliges Datum, vier Wochen nach 9/11 und am Einknickpunkt, als die damalige Blase der E-Economy geplatzt war.

Umso mehr Bedarf bestand für den überfälligen neuen Anlauf, und der brachte ein klares Resultat: Wir brauchen tatsächlich endlich eine europäische "Tools of Change" Konferenz! Das ist nicht ironisch gemeint.

Vor geschätzten gut 300 oder mehr zahlenden Gästen - darunter wohl wirklich viele mit dem Pouvoir, in ihren Firmen Entscheidungen herbeizuführen - gab es relevante, oft auch unterhaltsame Vorträge, oft mit Material, das man so noch nicht schon irgendwo gelesen hatte.

Bloß, das Material hatte mit uns in Europa wenig zu tun. Es bezog sich im besten Fall auf Großbritannien, oder nur auf die USA.

Rufzeichen: Daran tragen nicht die Veranstalter Schuld!

Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Aber hier erst einmal meine Verallgemeinerung: Die für solche Präsentationen nötigen Daten sowie die Aufmerksamkeit, solche Daten auch zu bearbeiten und aufzubereiten fehlt in Europa weitgehend. Es gibt die eine oder andere Zahl für unterschiedliche einzelne Staaten. Aber selbst um für die Europäische Union eine einigermaßen zuverlässige Größe für den Verlagsumsatz insgesamt zu recherchieren (ich hörte dieser Tage: 23 Milliarden Euro - ich glaube allerdings, dass die Details dazu nicht veröffentlicht oder gar am Web auffindbar sind!) brauchte es einen mehrjährigen Anlauf.

Warum sind solche Zahlen wichtig?

Wir haben eine hoch politisierte Debatte rund um elektronische Formate und deren mögliche illegale Nutzung. Aber wir haben keine Ahnung, wo wie welche illegalen Kopien von Büchern am Internet zur Zeit verfügbar sind oder tatsächlich genutzt werden, ganz zu schweigen von den konkreten Auswirkungen solcher illegaler Kopien etwa auf den Verkauf von - gedruckten oder digitalen - Büchern.

Auf der Frankfurter TOC Konferenz gab es eine wunderbar irritierende Präsentation dazu, basierend hauptsächlich auf den Verkaufszahlen des namensgebenden amerikanischen Computer-Buchverlags O?Reilly, in dessen Auftrag erstellt. Brian O?Leary hat für ein paar Dutzend Titel penibel recherchiert, wann welche O'Reilly-Fachbuchtitel wo im Netz illegal auftauchen und wie stark runtergeladen wurden sowie - da erst wird aus der Neugierde eine echt starke Nummer - wie sich dies zu den Verkaufszahlen der jeweiligen Titel verhält.

1. Brian O?Leary führte vor, dass man durchaus, mit begrenztem Aufwand, solche Recherchen Titel für Titel tatsächlich durchführen und damit all die groben Schätzungen überprüfen kann;

2. Er führte vor, dass offenbar einiges los ist "out there", aber oft lahmer und nicht flächendeckend, wie man sich dies gerade für Computer-Fachliteratur vorstellen wollte (in seinen trockenen Worten: "Yes, there is gambling in the casino, but what does this mean to your sales?");

3. Seine - zugegeben eingeschränkten Daten - zeigen, dass Piraterie oftmals eher als Promotion zum legalen Verkauf von Fachtiteln führt, und noch mehr, dass die piratenhafte Umsetzung von selbst digital verfügbaren Büchern wie den Fachtiteln von O?Reilly oft Monate bis zur illegalen Kopie online braucht, und auch dann nur sehr wenige Downloads hervorruft, auch auf Websites wie Pirate Bay.

4. Dies ist freilich keine Entwarnung in Sachen Piraterie - denn, wie auch O?Leary ausführte - diese Trends können sich schon morgen verändern.

Aber, als banale Konsequenz: Angst ist eine ganz schlechte Lehrerin.

Die daraus zu ziehende Lehre ist eine völlig andere: Wir sollten wissen, wovon wir reden, und wir sollten die Daten haben, um die Dinge und Trends zu verstehen, über die wir reden.

Die wirklich schreckliche Erfahrung auf der ersten - überaus notwendigen, guten - TOC Europe Konferenz mit den vielen Präsentationen mit für Europa kaum relevanten Daten und Analysen war: Die meisten unserer Fragen enden zwangsläufig bei der Formel: "We just don?t know".

Während am späten Nachmittag dann bei der TOC allmählich die Resumes gezogen und die Kaffeetassen weggeräumt wurden, gab bei der Eröffnung der Buchmesse 2009 Kanzlerin Angela Merkel für die Hellhörigen auch schon die Antwort:

Natürlich werde sich die neue deutsche Bundesregierung der Sorgen um den Schutz der Autoren und Verlage mit einer besonderen Aufmerksamkeit für das Urheberrecht annehmen. Das sei ein wichtiges, ein großes Thema. Mehr dazu jedoch nicht.

Vielleicht habe ich in all den Zwischentönen etwas Konkretes überhört. Aber für mich klang dies eher, übersetzt in mein praktisches Vokabular: "Sie haben da ein wichtiges Thema angesprochen. Aber wir müssen Europa fit machen, damit Europa in Sachen Urheberrecht nicht gegenüber den forschen USA den Löffel abgibt."

So, etwas nassforsch, übernimmt die Politik immer dann, wenn die Lobbyisten ihre Hausaufgaben nicht ordentlich genug gemacht haben.

Aus einem einigermaßen soliden eigenen Blick auf die Dinge muss ich sagen: In Europa wüsste ich niemanden und keine Adresse, die sich um die Sammlung relevanter Daten auch nur interessiert. Die sehr pauschale Umsatzzahl von 23 Milliarden Euro für den gesamteuropäischen Verlagsumsatz ist schon das Ergebnis eines kleinen Kraftaktes. Es gibt bislang keine unabhängige Plattform, auf der man sich um derlei Basiswissen auch nur bemüht.

Das ist ein natürlich auch, wie so oft, ein guter Moment für die simplen Fragen: Worum geht es denn eigentlich?

"Wir reden immer über das Buch-Geschäft. Wir sollten über das Geschäft mit den Lesern reden." Der Satz wurde auf der TOC zitiert, stammte aber vom ständigen Floh im Ohr von zumindest der New Yorker Buchbranche, Michael Cader, der grade nicht bei der TOC war - oder habe ich ihn übersehen?

Woher weiß die Branche überhaupt, wie sie mit den Lesern spricht? Die Spiegel-Bestseller Liste ist da wohl nicht mehr ausreichend.

Simple Frage: Mit wem redet die europäische - nicht die deutsche - Buchwelt eigentlich? Und wie? Zur Zeit spricht sie europäisch eher gar nicht.

Das alles hätte wohl auch die Kanzlerin gerne genauer gewusst, um eine präzisere Antwort auf die vielen an sie gerichteten Deklamationen der vergangenen Monate zu geben.

Nur dauernd das Ende von Buch, Kultur, Freiheit oder was sonst noch gen Himmel zu seufzen ist wohl keine hinreichende Politik oder auch nur Interessensarbeit. Zwischen den vielen Schlagworten - über Urheberrecht, Verlust der Autorenrechte, Google, Globalisierung, Digitalisierung, etc. -ist die wirklich entscheidende strategische Frage dieser Frankfurter Buchmesse vielleicht ganz naiv diese:

Was ist das Buch, wenn die Lesenden es zwischen all den anderen Angeboten wie Musik, Spielen, Kunst, Wissen, Nachrichten, oder Unterhaltung, suchen? Und: Was bietet mir das Buch, auf Papier oder digital, das ich anderswo so nicht finde.

Darauf lässt sich nicht juristisch antworten, sondern nur inhaltlich. Das wird wohl das zentrale Thema dieser Buchmesse sein.

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