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Falling Books

Don DeLillo For Free. Von Rüdiger Wischenbart
30.10.2007. Mit der Vermarktung von Don DeLillos neuem 9/11-Roman "Falling Man" beginnt auch ein neues Kapitel in der Vermarktung von Literatur. Immer mehr Verlage hoffen, direkt auf den Kunden zu zielen und dabei den teuren und mächtigen Buchhandel zu umgehen.
"Es war keine Straße mehr, sondern eine Welt, Zeit und Raum aus fallender Asche, und nahezu Nacht." Solche Anfangssätze begeistern Literaturwissenschaftler und passionierte Leser. Don DeLillo zeigt schon mit dem ersten Satz seines neuen Romans "Falling Man" die Höhe seiner Kunst. Die Erzählung vor dem Hintergrund der einstürzenden Türme des 11. September 2001 erscheint in diesen Tagen in deutscher Übersetzung bei Kiepenheuer & Witsch.

Dieser Satz eröffnete allerdings auch, rund zwei Wochen bevor er in deutsche Buchhandlungen ausgeliefert wird, ein neues Kapitel in der Vermarktung anspruchsvoller Literatur und der direkten Beziehung zwischen Verlagen und dem Lesepublikum - am Buchhandel als Nadelöhr knapp vorbei - und wenige haben dies bemerkt.

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse erschien nämlich das 'Leben'-Magazin der Zeit mit der Behauptung auf der Titelseite "Dieses Magazin ist ein Buch". Es enthielt eine auf rund 20 Druckseiten gekürzte Fassung des Romans - nicht das erste oder das zweite Kapitel, sondern eine von Don DeLillo selbst "für diese Ausgabe mit Hilfe seiner deutschen Lektorin Bärbel Flad" gekürzte Fassung, die den ganzen Bogen der Geschichte, vom Anfang bis zum Schluss wiedergab. Das Original hat 272 Seiten. Aber DeLillo zeigte mal eben, dass sich die Geschichte auch auf 20 Seiten - immer noch schlüssig und packend - darstellen lässt.

Neben dem Mut des Autors dabei mitzuspielen, brauchte es natürlich auch einen Vertrag über die Rechte, der solch einen Eingriff zuließ. Da war es gewiss praktisch, dass Kiepenheuer & Witsch und Die Zeit beide zur Holtzbrinck Gruppe gehören. Das amerikanische Original erschien hingegen bei der Konkurrenz, bei Simon & Schuster.

(Auch die immens erfolgreiche Methode, Bücher in Sonderausgaben als Zeitungsbeigaben zu vermarkten - ein tiefer Strukturbruch für die Branche - wurde anfangs eher als exotischer Versuch ein paar bildungsbürgerliche Zeitungsleser zu ködern abgetan; doch innerhalb kürzester Zeit war klar, dass darüber unversehens der Minimalpreis für Bücher halbiert worden war).

Die kommunikative Logik hinter dem verblüffenden Magazin-Deal ist eine ziemlich radikale Kehrtwendung von der Logik des Buchs zu jener des Internet: Gerade Verleger begründen sehr gerne die Wichtigkeit ihres Tun damit, dass sie durch den langwierigen Arbeitsprozess mit Autoren, durch Programmplanung, Lektorat und Korrektur eine inhaltliche Qualität garantieren, die Bücher von schnelleren Medien deutlich abgrenzt. Und wo sollte dies strenger gelten als bei herausragender Gegenwartsliteratur, bei bedeutenden lebenden Autoren und ihren neuen Werken. Don DeLillo gehört zweifelsohne zu den Großmeistern in diesem Bezirk.

Während diese Qualität bei Büchern historisch durch die Geschlossenheit des Werkes zwischen zwei Buchdeckeln, durch den unveränderlichen Text und hierzulande natürlich auch durch den gesetzlich abgesicherten, festen Ladenpreis verdeutlicht wird, steht das Internet für das glatte Gegenteil: Ein offenes Netz, das überwiegend kostenfrei Inhalte von häufig nur schwer überprüfbarer Qualität und Zuverlässigkeit für den raschen Zugriff bereithält. Hochkalibrige neue Literatur kommt da allenfalls in Form von Raubkopien vor.

Und nun das! Und ausgerechnet in der guten, alten Zeit. Wobei einzuschränken ist: Online gibt es nur 2 Seiten aus Kapitel Eins. Aber das gedruckte Magazin brachte, in radikaler Konsequenz, wie sonst nur irgendein Fanzine, die U-Bahn Fassung des ganzen Dings, und auch noch vom Autor, der Mittäter bei der Überschreitung war! Zweiter Zusatz: Natürlich gibt es Kurzfassungen von Romanen, erfolgreich vermarktet als Reader's Digest, seit langem - aber als Trivialauswahl für die 'unteren Stände', und nicht in den Organen der Hochkultur wie der Zeit und nicht vom sperrigen Format eines Don DeLillo.

Die Zeit steht allerdings nicht allein. Beim ebenso noblen britischen Booker-Preis wollten die Organisatoren gar einen Schritt weiter gehen und alle Romane der Shortlist online ins Netz stellen. Das klappte vorerst nicht - aber die Begehrlichkeit, das Publikum auf direktem, im Internet gut gelernten Weg zu gewinnen, war nicht zu übersehen.

Was die Zeit und der Booker-Preis eben mal probierten, hätten in quirligeren Branchen als dem Buchwesen die kleinen, um Aufmerksamkeit und ums Überleben kämpfenden Verlage längst groß auf ihre Fahnen geschrieben: "Kommen Sie! Hier lesen Sie erstmal Gutes für lau!" So lange solche Lektüre am Screen unbequem ist, kann dies allemal als Werbeköder taugen.

Seltsamerweise sind es aber eher die (amerikanischen wie europäischen) Konzerne, die hier das Experiment und das Risiko wagen. HarperCollins, das zu Rupert Murdochs Newscorp Empire gehört, nutzt demnächst verstärkt die ebenfalls zur Newscorp gehörende Teenie-Plattform MySpace für Bücher: Als eine "für Autoren, Buchhändler und Verlage zunehmend populäre Plattform" will das Online-Netzwerk im nächsten Jahr zusammen mit einer Kinderbuch-Reihe von HarperCollins ein Umwelt-Handbuch herausbringen, kündigte der Verlag an.

Wiederum Holtzbrinck hat eine eigene, nur auf Bücher zielende Community Website "Lovely Books? übernommen, um nicht auf fremde Bühnen angewiesen zu sein, wenn LeserInnen ihre Lieblingsbücher anpreisen und all dieses Onlinedorfleben zum literarischen Salon der neuesten Generation verwoben werden soll. (Die konkurrierenden Plattformen heißen Shelfari oder Librarythings)

Die ganz konventionell auf Papier gedruckte Kurzfassung von Don DeLillos "Falling Man" ist allerdings viel aufregender, weil sie den für das Web entscheidenden Schritt weiter geht und - im Guten wie im Zweifelhaften - den Text selbst aufreißt, und auch noch selbstbewusst freizügig (oder marktschreierisch) hergeht und sagt: Wir geben erst einmal eine ganze Menge gratis ab. In Marketing-Sprech übertragen heißt dies: Wir etablieren erst einmal die Bindung mit dem Publikum, forcieren die Marke Don DeLillo, sehen zu, dass die hellsten Scheinwerfer auf uns gerichtet sind - und dann verkaufen sich die Bücher wie von selbst.

Beides, die Comunity Websites wie die Magazin-Promotion, zielen strategisch auf den gleichen Punkt: Auf eine direkte Kommunikation des Verlags mit seinem Publikum. Der Buchhandel dazwischen, der immer teurer, weil mächtiger und anspruchsvoller geworden ist, soll als 'Gate keeper' möglichst umfahren werden.

Nebenbei, eher ungewollt, wird darüber aber die Operationsbasis für die gegenwärtigen Copyright-Kriege aufgeweicht: Denn je mehr, aus welchen (Marketing- und Community-) Gründen auch immer gratis frei Haus angeboten wird, je mehr der Text selbst nicht mehr unantastbar ist, sondern abgewandelt und vernetzt werden darf, je nach Medium und Interessenslage, desto rascher werden insbesondere junge Leserinnen und Leser auch die Inhalte von Büchern, so wie Musik oder Videos, als Partikel jenes Ozeans von Content erleben, der durch die Weiten der Netzwerke fließt - zum Nutzen und schnellen Gebrauch des Publikums.

Als in den USA unlängst die mit großer Spannung erwarteten Memoiren des US Notenbank-Chefs Alan Greenspan erschienen, merkten viele Rezensionen mit einer gewissen Verwunderung an, welch prominenten Platz der weise Finanzguru darin dem Thema Urheberrecht - genauer: dem geistigen Eigentum - eingeräumt hat.

Greenspan hatte natürlich nicht Bücher, sondern Industrie-Patente im Sinn, als er bereits 2004 in einer viel beachteten Grundsatzrede an der Universität in Stanford in der für ihn typischen, etwas abstrakten und leicht umständlichen Art formulierte:

"Wenn unser Ziel ist, ökonomisches Wachstum zu maximieren, treffen wir dann die richtige Balance im Schutz geistigen Eigentums? Ist der Schutz umfassend genug, um Innovationen zu fördern, aber nicht so umfassend, um Anschluss-Innovationen auszuschließen? Ist der Schutz so vage, dass er Unsicherheiten schafft, die wiederum die Prämien und Kapitalkosten erhöhen? Wie adäquat ist unser System - entwickelt für eine Welt, in der physische Güter vorherrschten - in einer Ökonomie, in der Werte mehr in den Ideen liegen als in greifbarem Kapital?"

Das lässt sich auch gut auf kulturelle Güter und das Urheberrecht übertragen: Sind die geltenden Spielregeln, die möglichst viel festlegen und möglichst geringe Spielräume offen lassen, tatsächlich die besten, für Bücher und Literatur im neuen Umfeld von Internet, Globalisierung und einem nach zahllosen neuen Ufern Ausschau haltenden kulturellen Publikum? Wie will und wie kann sich das Publikum heute über Bücher und Literatur informieren? Wie lässt sich ein launisches, über zahllose Medien, Kanäle und Formate umworbenes Publikum mit sperrigen Angeboten (Don DeLillo zum Beispiel!) erreichen? Und vor allem: Wie sehr taugt unser bestehendes Regelwerk - das für einfache, physische Kulturprodukte, also für Bücher, Musikträger, Konzertkarten definiert wurde - für eine kulturelle Umgebung, in der viel stärker Ideen statt Trägermedien gehandelt und ausgetauscht werden?

Am Zeit-Magazin-Buch-Bruch ist so schön, dass Don DeLillo, der jüngste Anlassfall für solche Reflexionen, gerade kein kommerzielles Leichtgewicht ist, sondern zum Urgestein einer Literatur gehört, die diese Welt frontal herausfordert.

Der Zufall wollte es, dass ich ein paar Tage nach Frankfurt in einer Runde von Leuten saß, um über "The Really Modern Library" - also Bibliotheken in der digitalen Zeit - zu diskutieren, und mich mein Nachbar auf meine DeLillo-Anekdote hin fragte, was ich nun tun würde. Ich werde natürlich das Buch kaufen, im Original. Schon vor ein paar Jahren gab es den Essay "Free Culture" von Lawrence Lessig als gratis download: Natürlich habe ich mir die Datei runter geladen und anschließend das Paperback gekauft.

Dass dies nicht reicht, um daraus eine Download-Buchkultur wirtschaftlich abzusichern ist klar. Aber das ist erst der nächste Punkt. Erst einmal führt nichts an Alan Greenspans Initialfrage vorbei - und am Bruch aller Konventionen, mit Don DeLillo, dem Booker Preis und vielem mehr.

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