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Robuste Bücher, fragile Bücher

Von Rüdiger Wischenbart
10.12.2003. Was in den vergangenen gut elf Monaten rund ums Buch so alles passiert ist, verschlägt einem, wenn man die einzelnen Etappen Revue passieren lässt, schon den Atem. Eine Weihnachtsgeschichte.
Die Überraschung des zu Ende gehenden Jahres ist wohl, wie robust Bücher sind.

Einerseits gibt es natürlich hinreichend Belege für die Krise bei Büchern, Verlagen, Feuilletons, Käufern und bei den Lesern. Andererseits aber, seien wir doch ehrlich, trotzt das Buch der Brandung, die alle festen Kulturprofile zu unterspülen scheint - ein Fels aus Papier und Gewohnheiten! Das ist keine zweckoptimistische Übertreibung, sondern ein guter Anlass für eine Weihnachtsgeschichte.

Was in den vergangenen gut elf Monaten rund ums Buch - also Buchmarkt und Buchkultur zusammengenommen - so alles passiert ist, verschlägt einem, wenn man die einzelnen Etappen Revue passieren lässt, schon den Atem, egal wo man beginnt.

In Frankreich wird eine Verlagsgruppe, die ein Viertel des französischen Buchmarktes repräsentiert ("Vivendi Universal Publishing" oder "VUP"), zur Schuldentilgung feilgeboten wie Sauerbier und geht erst einmal an den anderen Platzhirsch (Lagardere), so dass es den Anschein hat, als sollte ein einzelner Konzern künftig wenigstens die Hälfte der geistigen Produktion der Grande Nation kontrollieren.

Dagegen liest sich der deutsche Megadeal, der das Buchjahr 2003 prägen sollte, eher harmlos: Hätte Bertelsmann, wie geplant, alle Publikumsverlage von Springer - also Ullstein, Heyne, List und Umgebung -, übernommen, wäre knapp die Hälfte des deutschen Taschenbuchmarktes in einer Hand versammelt gewesen. Dieser Deal wurde vom Kartellamt gestoppt, und, wie einst König Gustav Adolph gegen die Übermacht der Katholiken, betrat ein weißer Ritter aus Schweden das Feld und wurde zur zweitgrößten deutschen Verlagsgruppe (Bonnier). Also noch mal gut gegangen, oder?

Vielleicht ist freilich eine ganz andere Geschichte viel wichtiger im deutschen Bücherland. Das Geschäft mit Büchern wird wohl im zweiten Jahr in Folge eine Jahresbilanz mit einem Minus davor verzeichnen. Dass die Zahl hinter diesem Minus nicht noch viel schrecklicher ausfällt, dankt man einer völlig neuen Konjunktur der Bestseller aus der Nicht-Buch-Ecke - oder ist es nicht viel mehr, bei genauer Betrachtung, der Nicht-Buch Mainstream?

Denn ein paar Bücher, die gleichsam von der Out-Linie eingeworfen wurden - von Effenberg, zweimal von Bohlen, und von Rowling - prägten das Spiel wie nie zuvor.

Beim doppelten Matchball von Rowling, erst über die englische Originalausgabe von Harry Potter 5 im Frühjahr, und dann, trotz Preisbindung, beim deutschen Vorweihnachts-Verkaufsfest seit November, ist es so, dass die Buchhändler zwar mächtig Wind kriegen, aber davon kaum profitieren. Denn rund um die nicht preisgebundene englische Ausgabe im Frühjahr brach ein Rabattkampf los, als hätte es das Wort "Buchpreisbindung" in Deutschland nie gegeben. Beim preisgebundenen deutschen Potter im Herbst passierte dann noch was Neues: Bücher werden in Massen im Kaufhaus, an der Tankstelle, per Internet und wer weiß wo sonst geordert - und die braven Buchhändler, mit Lehrberuf, Kulturbewusstsein, teurem Lager mit wenigstens 10.000 Titeln, teuren Remissionen und bedrohlicher Konkurrenz von den Buchgroßkaufhäusern - und jetzt auch noch von der Tankstelle - haben das Nachsehen.

Was gilt noch im geschützten Buchland Deutschland in Zeiten wie diesen? Schlägt der allgemeine Miesepeter jetzt auch noch aufs Buch über!

Wie ein etwas skurriles Menetekel mochte manch eifrigem Internet-Zeitungsleser noch im Frühsommer die schrille Aufregung über ein Porträt von Peter Olson in der New York Times erscheinen, den Herrscher über Random House - und, man muss es immer wieder in Erinnerung rufen: dem Gebieter über alle Bücher bei Bertelsmann -, der dargestellt wird als ein Effenberg der Buchwelt, wie er durch die Gänge der Frankfurter Buchmesse stolziert und alle paar Finger lang jemanden sieht, über den er der Reporterin zuraunt: "Den habe ich auch schon gefeuert!" (mehr hier)

Auf diese Weise wurde am Times Square in New York bereits vorweggenommen, was nun, in der Frankfurter Lindenstraße bei Suhrkamps, auch zum deutschen Reigen wird.

Ach ja, und über all dem wollte auch noch die Frankfurter Buchmesse ausgerechnet nach München ziehen.

Das alles in nur einem Jahr. Wer sich da zumindest ein bisschen den Luxus eines historischen Gedächtnisses leistet, mag sich ins Jahr 1998 zurückversetzen, als Bertelsmann - unter dem längst geschassten Thomas Middelhoff - Random House kaufte und so als deutscher Konzern zum größten amerikanischen Buchverlag aufstieg. Das war so spektakulär wie seinerzeit, in den achtziger Jahren, als Japaner das Rockefeller Center kauften. Das hat damals die Japaner fast ruiniert.

Back home in Germany sperren indessen reihenweise kleine und, mehr noch, mittelgroße Buchhandlungen zu. Zuwächse gibt es größtenteils nur noch beim wichtigsten Herausforderer der Branche, dem oft genug totgesagten Internetbuchhändler Amazon, und bei Weltbild, einem Versand- und Spezialbuchhändler, der die Zahl der Titel, die er anbietet, rigoros auf einen Bruchteil der sonst verfügbaren mehr als 300.000 Titel begrenzt.

"Alles, sofort" (bei Amazon) oder "ganz wenig, gegen die Verwirrung des Überangebotes" (bei Weltbild) - diese zwei Extremangebote machen offenbar aus, was bei den Buchkäufern am besten verfängt. Die engagierte Kulturvermittlung des buchhändlerischen Handwerkers, der sich in seinem Laden mit Kundennähe und persönlichen Leseempfehlungen zu behaupten versucht, wird zunehmend zum gefährlichen Hochseilakt.

Und dennoch, sieht man genauer hin, sieht man über eitle VIP-Nicht-Autoren so wie über in Konkurs geratene Traditionsbuchhandlungen hinweg, hat "Das Buch" als kulturelle Konstante kurioserweise Bestand.

Elke Heidenreich begann ihre neue Büchersendung mit beträchtlichem Erfolg. Das Magazin Focus klebte in seiner vorletzten Ausgabe einen kleinen Bücherführer für den weihnachtlichen Gabentisch aufs Cover, denn Bücher zu verschenken ist immer noch die einfachste Geste, mit der sich Zuversicht ausdrücken lässt. Neubauten von Bibliotheken nach Entwürfen der wichtigsten Architekten-Stars zählten im vergangenen Jahrzehnt in aller Herren Länder zu den bedeutendsten Prestigebauten ambitionierter Regierungen - auch in Entwicklungsländern, als Zeichen für den Willen auf Zukunft.

Ist also alles gut? So einfach ist es wohl nicht. "Das Buch" - dieser kulturelle Kernbereich also, in dem Geist und Kreativität, Innovation und Entertainment, Anleitungen zum Cholesterinabbau und Einführungen in die Genetik, Sinnsprüche, politische Memoiren, die jeweils neuesten intellektuellen Zerreißproben wie auch die entsprechenden Angebote von Essigkuren zueinander finden - reißt immer mehr auseinander.

Das Buch als Container für geistiges Eigentum jeder Art - optimiert, je nach Sichtweise, über ein oder zwei Jahrtausende - bricht auf in einzelne mediale Trajektorien, die immer rascher immer weiter auseinander laufen, und die immer weniger verbindet: Ihre Urheber, ihre Mittler (die Verlage) und ihre Händler (vom Buchenthusiasten in guter Randlage bis zum Shop-in-shop Franchisenehmer der nahen Kaufhauszukunft) leben zunehmend in Paralleluniversen.

Was aber bedeutet dies für die Säulen des alten "Buchs"? Für die Buchpreisbindung als universelle Klammer? Für die Leser, die sich, wie in antiken Metamorphosen, gestaltlos wandeln, vom wissbegierigen Bildungsbürger zum - im nächsten Moment - unbekümmerten Modekonsumenten, der sich irgendeinen Knüller greift, egal ob im Buchladen, an der Kaufhauskasse, oder nächstens illegal übers Internet?

Weihnachten, das wissen wir Buchmenschen natürlich, ist nahe am Wechsel zwischen dem Winter und seiner Überwindung, zwischen der langen Nacht und dem Licht. Ein Fest der Verwandlung und des Neubeginns. Wer weiß, vielleicht werden zum Weihnachtsfest auch deshalb so gerne Bücher geschenkt.