Vom Nachttisch geräumt
Annie Storchenschnabel
Von Arno Widmann
20.11.2018. Annie Leibovitz: Portraits 2005-2016, Schirmer/Mosel, 316 Seiten, 150 Farb- und Duotone-Tafeln, aus dem Englischen übersetzt von Martina Tichy, 49,80 Euro![](/cdata/K2/T13/A10504/leibo.jpg)
Gleich zu Beginn des Bandes sieht man aber, dass Annie Leibovitz auch das mit Abstand beste Bild von Donald Trump gemacht hat. Eine Aufnahme aus dem Jahre 2006. Eine nahezu nackte hochschwangere Melania Trump auf der Treppe in den Privatjet. Daneben in einem Supersportwagen Donald Trump. Der Flieger wie ein Phallus über der Szene. Klarer in ihrer Verrücktheit ist die Welt des Donald Trump nicht darstellbar. Man betrachtet das Foto wie ein Gemälde Goyas, das die spanische Königsfamilie zeigt. Das ist eine Karikatur, denkt man. Bei Goya melden sich die Kunsthistoriker und erklären einem, die Herrschaften hätten das Gemälde sehr geschätzt. Nicht anders bei Leibovitz und Trump. Jeder sieht das Foto als Parodie. Die Porträtierten lieben es. Genau so sehen sie sich. Ganz ironiefrei. Mein Verdacht ist: Auch Annie Leibovitz ist nur froh darüber, dass sie wieder mal noch dicker aufgetragen hat, als alle anderen. Das funktioniert. Sie setzt auf die Eitelkeit der Menschen. Die scheint gänzlich unbegrenzt. Es gibt keine Kitsch- und keine Ironiegrenze.
Es fehlt Annie Leibovitz dabei nicht an Einfühlung. Das gelbstichige Porträt der Fotografin Sally Mann in ihrem Atelier in Lexington ist das Gegenbild zu den bisher genannten. Sie steht in einer weißen, verschmutzen Bluse vor Kameras und Lampen. Eine denkende Arbeiterin im Gegenlicht. Ein Vermeer.
Man kann diesen Band auch durchgehen auf der Suche nach vertrauten Arrangements. Die neben einander aufgestellten Salman-Rushdie-Unterstützer zitieren niederländische Gildenporträts. Queen Elizabeth mit ihren Enkeln verbürgerlicht die alte Herrscher-Ikonographie, so wie die entsprechenden Porträts des 19. Jahrhunderts es schon taten. Rachel Feinstein und ihre Tochter spielt mit Tizians Venus und Amor. Es geht Annie Leibovitz stets darum, die von ihr Porträtierten zu vergrößern. Sie ist der Storchenschnabel unserer Zeitgenossen. Ihr Erfolg rührt daher, dass sie vor keiner Übertreibung zurückschreckt, dass sie alles noch einmal bunter und greller machen kann. Wo sie darauf verzichtet, ist sie nicht mehr Annie Leibovitz. Jeff Koons zeigt sie, als wäre er Cicciolina: beim Training in einem Fitness-Raum. Nackt. Aber da sind auch das Taubenskelett aus Darwins Sammlung, David Hockney wie er in einem Auto sitzt und die Bäume vor ihm zeichnet oder Virginia Woolfs Schreibtischplatte. Hinter der aber gleich wieder ein Porträt der Queen im White Drawing Room im Buckingham Palace. Mit Licht von rechts. Wie wenig Annie Leibovitz anfangen kann mit einer der bedeutendsten Autorinnen, mit Chimamanda Ngozi Adichie!
Annie Leibovitz: Portraits 2005-2016, Schirmer/Mosel, 316 Seiten, 150 Farb- und Duotone-Tafeln, aus dem Englischen übersetzt von Martina Tichy, 49,80 Euro
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