Vom Nachttisch geräumt

Das Menschliche sichtbar machen

Von Arno Widmann
20.11.2018. Die Zärtlichkeit des Neorealismus, einfangen in einer Fotoausstellung über das "Neue Bild Italiens 1932-1960".
Der Neorealismus war schwarz/weiß. Eine Ausstellung in der Grey Art Gallery der New York University, die noch bis zum 6. Dezember geöffnet sein wird, erinnert daran. Ich war nicht in der Ausstellung, habe mir aber den Katalog schicken lassen. Es ist eine Fotoausstellung, die den Titel trägt "NeoRealismo - The New Image in Italy 1932-1960". Auf 340 Seiten werden Arbeiten von 70 Fotografen und 3 Fotografinnen gezeigt. Dazu kommen - nach einem sehr kurzen Vorwort von Martin Scorsese - Aufsätze, die auch auf den neorealistischen Film und die neorealistische Literatur eingehen.

Schon die Jahreszahl 1932 widerspricht der Vorstellung, beim Neorealismus handele es sich um eine Nachkriegserscheinung. Die frühesten Aufnahmen stammen von Luciano Morpurgo (1886-1971). Sie sind etwas kryptisch datiert mit 1917-1937. Es sind Bilder von Prozessionen. Es geht also nicht um zu datierende Ereignisse, sondern um ein sich wiederholendes Geschehen. Alltagsgeschichte. Womit wir schon mitten drin sind im Neorealismus. Zu dessen Qualitäten gehörte, so genau hinzuschauen, dass das im engeren Sinne Politische - sagen wir es offen: der Faschismus - verschwand und darin und dahinter das Menschliche sichtbar wurde. Dass der Marxismus kein Humanismus sei, war auch als Gegenposition zu dieser Art von Realismus formuliert worden.

Mario Catteano, Aus der Serie "Alliierte in Neapel", Neapel 1951-58, (c) Eredi Mario Catteani

Der Neorealismus bietet so etwas wie einen ethnografischen Blick auf den eigenen Stamm. Das erlaubt ihm jene Zärtlichkeit, die einen noch heute bewegt, wenn man de Sicas "Fahrraddiebe" oder Rosselinis "Rom offene Stadt" ansieht. Das Pathos der Armut - ein großes Thema der italienischen Literatur. Ihre Stärke und ihre Schwäche. Die drei Aufnahmen der 1935 in Bari geborenen Chiara Samugheo, die Frauen in Trance zeigen, erinnern daran, wie virulent die Verehrung des Aberglaubens im italienischen Süden noch in den 50er Jahren war. Es sind Aufnahmen wie aus Haiti.

Die Moderne hatte Italien in Gestalt des Faschismus erobert. Der gab vor, ans römische Altertum anzuknüpfen. Dabei lebten in Italien noch lange Kulte, die älter waren als Livius und Horaz. Vielleicht wurden sie auch immer wieder neu geboren in immer wieder neuen Schüben des Rückzugs der Zivilisation. Beim Durchblättern dieses Bandes bekommt die Vorstellung neue Nahrung, dass womöglich nichts für immer verloren geht. Die dicke Bäuerin vor einem Meeresort in der Basilicata, aufgenommen 1959 - sie gibt es nicht mehr. Aber daneben die feinen Damen auf Piazza Santa Maria in Trastevere, die so viel Wert darauf legen, gänzlich anders auszusehen als der Rest der Menschheit -  sie scheinen sich in den letzten Jahren wieder vermehrt zu haben. Selbst dieses absolut lächerliche Blumenhütchen sah ich unlängst wieder. Und schon blicke ich zurück auf die Zahnlücke der Bäuerin und denke: Wann wird unser plötzlicher Reichtum einer ebenso plötzlichen Armut Platz machen?

Piergiorgio Branzi, Piazza Grande in Burano, Venedig, 1957 (c) Piergiorgio Branzi

Das Buch scheint sich zunächst zur Nostalgie zu eignen. Doch dann kommen ganz andere Gedanken auf. Da ist ein Junge 1957 auf der Piazza Grande in Burano (Venedig). Was er macht ist Breakdance! 1957! So fern das alles auf den ersten Blick scheint, so nah rückt es einem, wenn man genauer hinschaut. Wie schrecklich, wenn die zerfallenden Häuser der Emilia Romagna von 1957 unsere Zukunft wären oder die mehr als vierzig Männer, die auf einer Straße in Mailand alle völlig fasziniert auf eine Frau blicken. Niemand will zurück in solche Zeiten. Standen damals nur Männer auf den Straßen herum? Das Bild muss gestellt sein, denke, hoffe ich.

Gerade suche ich nach dem Preis und entdecke, dass es die Ausstellung schon einmal im Museum Winterthur gab und einen deutschen Katalog dazu: 49,20 Euro kostet er. Ich aber habe vor mir liegen:

NeoRealismo: The New Image in Italy 1932-1960, hrsg. von Enrica Viganò, Englisch, Prestel Verlag, München 2018, 352 Seiten, zahlreiche s/w Fotos, 58 Euro.