9punkt - Die Debattenrundschau
Eine Überdosis an Seriosität
Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
Im taz-Interview mit Ali Celikkan erklärt die Politikwissenschaftlerin Aysuda Kölemen İmamoğlu Wahlsieg auch mit seinem persönlichen Charisma: "İmamoğlu wurde nach den Wahlen vom 31. März Unrecht angetan. Die Wahl, die er gewonnen hatte, wurde annulliert. Er sagte: 'Mir wurde Unrecht getan, aber ich überwinde das.' Alle in der Türkei glauben derzeit, dass ihnen Unrecht angetan wird. Dieses emotionale Bedürfnis konnte İmamoğlu ansprechen. Das war genau das, was die Menschen brauchten. Ich denke, auch die konservative Wählerschaft ist die seit Jahren bemühte Rhetorik der Spaltung und Polarisierung leid. Es erstaunt nicht, dass auch Wähler*innen von AKP und MHP sich seinem Diskurs nahe fühlten."
In der taz ahnt Isolde Charim, warum nach der Ibiza-Affäre in Wien ein Machtvakuum so sehr gefürchtet wurde, dass sofort eine Expertenregierung ins Amt gehievt wurde: "Eine Überdosis an Seriosität soll also das abwehren, was Ibiza sichtbar gemacht hat. Offenbar vermag nur eine hehre Beamtenschaft jenes Gegenbild herzustellen, welches es jetzt braucht. Es geht also nicht einfach nur um Expertentum - sondern auch um Exorzismus."
Noch 1989 gründeten ungarische Intellektuelle das 1956-Institut, das an den Ungarn-Aufstand und den auf Moskauer Geheiß hingerichteten Reformkommunisten Imre Nagy erinnern wollte. Dem Fidesz-Politiker Viktor Orban war das Institut schon immer ein Dorn im Auge, jetzt hat er angekündigt, wie die britischen Historiker Tobias Rupprecht und Dora Vargha in der SZ berichten, das 1956-Institut an das sogenannte Veritas-Institut anzugleidern: "Dieses ist direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt und verbreitet die historische Lesart einer 'wahren ungarischen Kultur' nach dem Geschmack der politischen Führung. Zuletzt machte es mit antisemitischen Ausfällen von sich reden, als es die Zulassungsbegrenzung für das Studium von Juden in den Zwanzigerjahren rechtfertigte Die feindliche Übernahme des 1956-Instituts erfolgt nun genau 30 Jahre nach seiner Gründung. Ungarische und internationale Historiker reagierten mit Entsetzen und haben zu Unterstützungskampagnen aufgerufen. Einige Zeitzeugen, deren Aussagen zur Sammlung gehören, haben ihre Zustimmung zur Veröffentlichung widerrufen."
Boris Johnson bezieht seine Brexit-Expertise gern aus seiner Zeit als Korrespondent in Brüssel, wo er für den Telegraph seine antieuropäische Attitüde pflegte. Seine früherer Chefredakteur Max Hastings erklärt ihn nun im Guardian als Regierungschef für schrecklich ungeeignet. Boris Johnsons, meint Hastings, interessiere sich nur für sich selbst, seinen Ruhm und Anerkennung: "Vor sechs Jahren veröffentlichte der Oxford-Historiker Christopher Clark eine Studie über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit dem Titel 'Die Schlafwandler'. Obwohl Clark ein hervorragender Gelehrter ist, war ich von diesem Titel nie überzeugt, der insinuierte, dass die Großmächte unbewusst ins Desaster stolperten. Im Gegenteil war jedoch der verrückteste Aspekt von 1914, dass jede kriegerische Regierung sich selbst für rational hielt. Es wäre verwegen, den Aufsteig von Boris Johnson mit dem Ausbruch einen weltweiten Krieges zu vergleichen, doch sind ähnliche Kräfte am Werk. Wir können darüber streiten, ob Johnson ein Schurke oder ein Schuft ist, aber nicht über seine moralischen Bankrott, der in der Verachtung für die Wahrheit gründet."
"London bleibt europäisch", beteuert geradezu verzweifelt in der Welt der Londonder Bürgermeister Sadiq Khan, der sich heute mit Vertretern aus 18 europäischen Städten trifft: "Insbesondere werde ich sie daran erinnern, dass die Londoner mit überwältigender Mehrheit für den Verbleib in der Europäischen Union gestimmt haben und dass wir uns - auch wenn der Brexit irgendwann einmal kommt - immer als stolze Europäer betrachten werden, die in einer europäischen Stadt leben."
Gesellschaft
Internet
Auf Netzpolitik weist Markus Reuter auf eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung hin, nach der im Europawahlkampf besonders Afd und Die Partei die sozialen Medien dominierten: "Die Studie kommt aber noch zu einem anderen interessanten Ergebnis: Instagram sei spätestens seit dieser Wahl zu einer der wichtigsten und relevantesten Plattformen für die politische Kommunikation geworden. Die Anzahl der Likes und Kommentare übertrifft bei vielen SpitzenkandidatInnen die Interaktionen auf den viel länger bestehenden und größeren Facebookseiten."
In der SZ dröselt Adrian Lobe auf, wie Wikipedia gegen PR und Schleichwerbung kämpft. Auf Slate.fr berichtet Hakim Mokadem unterdes, dass etliche Autorinnen Wikipedia nach konstanter Belästigung verlassen haben. In der FAZ graut es Nina Rehfeld noch einmal gründlich davor, was Deepfake-Videos in der politischen Arena anrichten können: "In der afrikanischen Republik Gabun wurde ein womöglich gefälschtes Video des Präsidenten als Auslöser für einen Militärputsch zitiert."
Medien
Politik
Der Historiker Yehuda Bauer sperrt sich im NZZ-Interview dagegen, trotz des zunehmenden Antisemitismus die heutigen Entwicklungen mit den dreißiger Jahren gleichzusetzen. Denn autoritäre Politiker wissen heute die Demokratie für sich zu nutzen: "Leute wie Orban sind viel zu klug, um eine Diktatur zu errichten, denn irgendwann fällt jede Diktatur zusammen. Stattdessen kann er so weiterregieren, wie er es jetzt tut. Dasselbe hoffen die Regierenden in Polen. Die Anführer dieser rechten Parteien sind auch keine Antisemiten, aber sie unterstützen eine Bewegung, die sich als antisemitischer Unterleib entwickelt. Die Freiheitliche Partei in Österreich hat antisemitische Wurzeln, ihre Anführer nicht unbedingt. Auch in Amerika gibt es einen wilden Rassismus gegen Juden, Schwarze, Muslime und auch gegen Katholiken."