9punkt - Die Debattenrundschau

Eine ganz materiale Gefahr

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.02.2020. Tag 1 nach dem Erfurter Super-GAU. Die taz fragt, wie abgekartet das Spiel zwischen AfD einerseits und CDU und FDP andererseits war, und glaubt: ziemlich. Auf Länderebene fangen die Tabubrüche meist an, warnen die Demokratieforscher Daniel Ziblatt und Michael Koss auf Zeit Online. Ebenfalls in Zeit online rufen Jana Hensel und Georg Seeßlen das Zeitalter der "demokratischen Linken" aus. Bei buchreport.de stellt der Medienforscher Frederik Weinert fest: Das Smartphone hat bei Kindern längst das Buch ersetzt. Aber andererseits: Die schreiben da rein.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.02.2020 finden Sie hier

Europa

Tag 1 nach dem Erfurter Super-GAU. Eilig haben CDU und FDP den Status quo ante wiederhergestellt. Dummerweise ist trotzdem nichts mehr wie vorher, schreibt Ulrike Herrmann in der taz: "Zudem kann die AfD nun erneut ihr Lieblingsthema variieren, dass die Ostdeutschen die Opfer der Nation seien. Denn es waren ja die Bundespolitiker in FDP und Union, die den Thüringer 'Dammbruch' verdammt haben. In Erfurt hätten die CDUler und Liberalen das Experiment liebend gern fortgesetzt. Ostdeutsche wurden entmachtet - diese vermeintliche Kränkung wird die AfD in weitere Stimmen umwandeln." Es kursiere der Verdacht, so Herrmann, "dass die erzkonservative Werte-Union den Coup von Erfurt sorgsam geplant hat". Ulrich Schulte erkundet in der taz außerdem die Indizien, die dafür sprechen, dass die FDP-Spitze von der AfD-Unterstützung ihres Kandidaten Thomas Kemmerich keineswegs überrascht war.

Neuwahlen soll es aber nicht geben, damit der Souverän nicht seinen Kommentar zu den Vorgängen abgibt, meldet etwa die FAZ ("Kramp-Karrenbauer kann keine Neuwahlen durchsetzen "). Das von Thomas Schmid in der Welt beschriebene Szenario wird sich so also nicht verwirklichen: "Dieser Befreiungsschlag wird für die Parteien, die das Unheil angerichtet haben, wohl bitter enden. Die CDU, einst stolze Regierungspartei, wird vermutlich unter 20 Prozent sinken und die FDP wird wieder ins parlamentarische Off abtauchen. Eine gerechte Strafe."

In normalen Zeiten interessieren sich die Parteispitzen aus Berlin nicht für die Ossis, sie agieren nur, wenn Katastrophen passieren, klagt Zeit-Ossi Jana Hensel: "In den Zeiten dazwischen reden und debattieren die Ostdeutschen jedoch größtenteils unter sich. Sie setzen sich dann dem Vorwurf aus, Nabelschau zu betreiben, oder mehr noch, die Spaltung des Landes in Ost und West beharrlich zu vertiefen. Kaum jemand solidarisiert sich mit ihnen, hört ihnen interessiert zu, lässt ihre Perspektiven gelten, verschafft diesen Stimmen einen gesamtdeutschen Resonanzraum. " Für Jana Hensel ist die Bundes-CDU schuld, weil sie kein Bündnis mit Bodo Ramelow von der Linkspartei zugelassen hat.

Außerdem beschäftigt Gerhard Baums Weimar-Analogie (Unser Resümee) die Feuilletons: "Deutschland 2020 ist nicht Deutschland 1932", sagt der Historiker Michael Wildt im SZ-Gespräch mit Hannah Beitzer. Öffentlichkeit, Medien und Zivilgesellschaft sind heute "aufmerksamer" geworden, meint er: "Die AfD ist nicht die NSDAP. Die AfD-Politik zielt nicht auf die Errichtung einer faschistischen Diktatur, sondern steuert auf ein autoritäres rechtes Regime zu, wie wir es etwa in Ungarn haben. Das ist schlimm genug. Die AfD hat auch keine mehrere Hunderttausend Mann starke Gewaltmiliz wie die SA, die zu Weimarer Zeit den öffentlichen Raum beherrschte. Ja, die AfD hat Verbindungen zu gewalttätigen Neonazis, aber das spielt sich doch auf einem anderen Niveau ab. Es gibt allerdings auch Gemeinsamkeiten zwischen AfD und NSDAP."

Gewisse Kontinuitäten zu den dreißiger Jahren sollte man nicht überbewerten, sagt im Interview mit Alex Rühle (Sueddeutsche.de) auch der Professor für jüdische Geschichte Michael Brenner - und ist sich dennoch nicht sicher, ob Juden in Deutschland bleiben sollten: "Haben das die Juden hierzulande nicht schon einmal geglaubt? Und den Zeitpunkt abzuspringen verpasst? Eine Regierung, die nur durch die Unterstützung der Flügel-AfD Björn Höckes ins Amt gehoben wäre, wäre in der Tat eine einschneidende Wende in der deutschen Politik. Sie würde das Versprechen der demokratischen Parteien, mit der AfD keine Bündnisse zu schließen, als unglaubwürdig entlarven."
 
Bisher war es immer die "glaubhafte Abgrenzung etablierter Parteien gegenüber radikalen Herausfordern", die Demokratien stabilisiert hat, mahnen die Demokratieforscher Daniel Ziblatt und Michael Koss auf Zeit Online. Sie sehen die Demokratie allerdings ernsthaft in Gefahr: "Erstens ereignen sich in föderalen politischen Systemen Tabubrüche immer zuerst auf Länderebene, eben weil man sie hier so schön herunterspielen kann. In Thüringen hatte die NSDAP zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass man auf parlamentarischem Wege auf eine Abschaffung der parlamentarischen Demokratie hinarbeiten kann. (...) Zweitens ist es nur wenig beruhigend, dass die Bundesparteien von CDU und FDP sich nun vom Verhalten ihrer thüringischen Landesverbände distanzieren. Strukturell ähnelt insbesondere die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer einer Königin ohne Land."

Die stabilisierende Mitte war eine "Medienerfindung", schreibt hingegen Georg Seeßlen ebenfalls auf Zeit Online und ruft die "Postdemokratie" aus. Die Parteien der bürgerlichen Mitte stehen vor einer "Zerreißprobe", meint er: "Entweder sie bekennen sich klar zur Struktur und zur Kultur der Demokratie. Dann könnten sie nicht anders, als auch mit der demokratischen Linken zusammenzuarbeiten; dann könnten sie nicht anders, als die Werte der Verfassung und die darin ausdrücklich genannten Menschenrechte höher zu setzen als Meinungsumfragen und Wahlprognosen. Der extremen Rechten Stimmen abzujagen, indem man sich selbst über das demokratisch-rechtsstaatliche Maß hin nach rechts bewegt, scheint überlebenswichtig."

Im Dlf-Gespräch mit Stefan Koldehoff hält Claus Leggewie Absprachen mit der AfD nicht für ausgeschlossen und plädiert ebenfalls für eine Koalition mit der Linken: "Natürlich kann man nicht leugnen, dass es in unserem Land auch linksradikale, auch gewalttätige linksradikale Bestrebungen gibt. Aber das ist doch eine Ablenkung, an jeder Stelle davon zu sprechen, wenn wir es im Moment mit einer ganz materialen Gefahr von rechts zu tun haben, die zunimmt."

Weitere Artikel: Ausgerechnet am Abend der Kemmerich-Wahl hielt Monika Grütters in Weimar bei einer von der Klassik-Stiftung Weimar organisierten Veranstaltung eine Rede zum Thema "Die Macht der Worte. Wieviel Freiheit braucht die Demokratie - und wieviel Freiheit verträgt die Demokratie?", in der sie über die Bedrohungen von rechts und links für die Mitte - "die sprachliche Verrohung einerseits und moralisierende Stigmatisierung durch eine falsch verstandene Political Correctness andererseits" - sprach. "Stresstest" nicht bestanden, befindet Lothar Müller in der SZ, denn: "das akute politische Risikopotenzial liegt in der 'Mitte' selbst."
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Überwachung

Die Verführung für die Politik scheint einfach viel zu groß zu sein: "Die Europäische Kommission hat offenbar wieder Abstand genommen von der Idee, automatisierte Gesichtserkennung in öffentlichen Räumen zu untersagen", berichtet Daniel Laufer in Netzpolitik. "In einem Entwurf für das Weißbuch zur KI-Strategie aus dem Dezember war vorgeschlagen worden, den Einsatz einer solchen Technologie vorerst zu verbieten. In einem neueren Entwurf des KI-Papiers vom 21. Januar fehlen die entsprechenden Formulierungen jedoch."
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Politik

Chinas "brutales Unterdrückungsregime" verletzt das internationale Menschenrechtssystem, schreibt Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch, in der Welt und fordert die europäischen Mitgliedsstaaten auf, sich gegen China zusammen zu tun: "Europa sollte auch Doppelstandards vermeiden. Wenn Vertreter aus Myanmar für Verbrechen an den Rohingya-Muslims zur Rechenschaft gezogen werden sollen, warum dann nicht chinesische Regierungsvertreter für die Verbrechen an den muslimischen Uiguren? Wenn die europäischen Regierungen auf saudische und russische Versuche hinweisen, sich Legitimität zu erkaufen und Übergriffe zu vertuschen, warum dann nicht auch bei China?"

Im Netz kursiert ein Video des chinesischen Bloggers Fang Bing, dass die Zustände und die Toten in einem Krankenhaus in Wuhan zeigt, meldet Marvin Ziegele in der FR. Der Blogger wurde festgenommen, auf Druck von Freunden und Anwälten frei gelassen, die Videos in China zensiert: "Ähnliche Szenen wie die, die von Fang Bin eingefangen wurden, kursieren bereits im Internet. Immer wieder versucht die chinesische Regierung, die Verbreitung der Videos zu verhindern. Sie bilden ein Gegengewicht zu den offiziellen Bildern, die die chinesischen Staatsmedien über das Coronavirus verbreiten. Dort werden Bilder von neu erbauten Krankenhäusern, Behandlung von Patienten und frischem medizinischen Personal gezeigt. Turnhallen werden behelfsmäßig in Krankenhäuser verwandelt. Vier, fünf Ärzte kümmern sich jeweils um einen Patienten, der aufgenommen wird. Die traurige Realität, die Fan Bing in seinem Video zeigt, offenbart eine völlig andere Situation."
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Kulturmarkt

Das Smartphone habe bei vielen Kindern längst das Buch ersetzt, diagnostiziert Medienforscher Frederik Weinert im Gespräch mit Kai-Uwe Vogt von buchreport.de: "Ich muss die Smombies aber in Schutz nehmen. In vielen Spielen ist Textverständnis gefragt, sonst können die Aufgaben, auch genannt Quests, nicht gelöst werden. Außerdem entwickeln die Kids ihre eigene Jugendsprache, schreiben sich lange Nachrichten über WhatsApp und beteiligen sich an politischen Diskussionen in Internetforen. Ich bin der Meinung, dass gerade im Deutschunterricht mehr mit dem Smartphone gearbeitet werden muss, um Poesie und Kurzgeschichten zu verfassen oder Auszüge aus Büchern direkt am Smartphone zu lesen."
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Kulturpolitik

Laut Tagesspiegel möchte Tansania viele der Objekte zurück, die während des Maji-Maji-Krieges aus der ehemaligen Kolonie nach Deutschland gebracht wurden und in deutschen Museen lagern, darunter der Brachiosaurus brancai im Naturkundemuseum. Im SZ-Interview mit Jörg Häntzschel fordert der tansanische Botschafter Abdallah Possi zunächst einmal freien Zugang zu Informationen, auch zum Dinosaurier, um dann "Gespräche über Wiedergutmachungen" zu führen: "Wurden die Leute, die die Knochen ausgegraben und getragen haben, bezahlt? Waren sie in der Lage, zu verhandeln? Waren sie einverstanden damit, dass die Deutschen die Knochen mitnahmen? Wussten sie von ihrem Wert? Je mehr wir über ihn in Erfahrung gebracht haben, desto klarer wurde uns, dass außer den Dinosaurier-Knochen eben auch viele, viele kulturelle Objekte in deutschen Museen liegen müssen."
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Medien

Noch eine Zeitung der Dumont-Gruppe, die an einen Branchen-Außenseiter geht. Die Hamburger Morgenpost ist an Arist von Harpe gegangen, einen Manager der Plattform Xing, berichten Marco Carini und Peter Weissenburger in der taz. Von Hapern verspricht, auch die Print-Zeitung, und nicht nur das Portal mopo.de fortzführen: "Laut taz-Informationen ist für die hochdefizitäre Morgenpost aber ein negativer Kaufpreis in einstelliger Millionenhöhe fällig geworden, den der Käufer als Mitgift erhält."

Boris Johnson ist kein Freund der BBC. Gina Thomas schildert die Schwierigkeiten des Senders in der Diskussion über die Gebühren. Die sind auch selbstverschuldet, etwa wegen eklatanter Ungleichbezahlungen, die jetzt vor Gericht kommen: "Im Dezember urteilte ein Arbeitsgericht zugunsten einer Moderatorin, die auf eine Nachzahlung von 700.000 Pfund klagte, weil ein männlicher Kollege 3.000 Pfund für eine vergleichbare Aufgabe in einer vergleichbaren Sendung verdient habe, während ihr Honorar nur 440 Pfund betrug. Das Urteil könnte Signalwirkung haben."

Wehmütig blickt der Philosoph Wilhelm Schmid in der NZZ auf die Ära der Print-Zeitungen zurück: "Die Kunst, Zeitung zu machen, bestand darin, der Wirklichkeit eine überschaubare Form zu geben. Sie war eine Definition der Wirklichkeit, bevor diese vom Sog der Ereignisse wieder fortgerissen wurde. Dem entsprach die Kunst, Zeitung zu lesen, die ihren höchsten Genuss darin fand, wenigstens morgens um sieben die Welt noch für überschaubar zu halten. (…) Online rennt der Zeit hinterher, Print hatte etwas mehr Zeit dafür, Schneisen in den Dschungel der wuchernden Informationen zu schlagen, Komplexität in einem vertretbaren Maß zu reduzieren, Information von Desinformation zu unterscheiden, Themen zu gewichten, Bedeutung einzuschätzen und unterschiedliche Sichtweisen zu berücksichtigen."
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Gesellschaft

taz-Feministin Patricia Hecht ist nicht froh darüber, dass man heute Hatun Sürücüs gedenkt, die vor 15 von ihrer Familie umgebracht wurde, weil sie sich für ein eigenständiges Leben entschieden hatte: "Der Begriff 'Ehrenmord' macht Stimmung, er dämonisiert eine religiöse und ethnische Minderheit, die offenbar archaische Praktiken nutzt." Die weitaus meisten Frauen werden dagegen von deutschen Männern umgebracht, so Hecht: "Jeden Tag versucht ein Mann in Deutschland seine Frau umzubringen, jeden dritten Tag schafft er es. Eine Studie im Auftrag des BKA schätzt hingegen die mögliche Gesamtzahl von Ehrenmorden in Deutschland auf etwa zwölf pro Jahr."

In der NZZ verteidigt der Unternehmer und Autor Hans Widmer das "Grundbedürfnis nach Heimat": "Es ist nicht damit getan, 'America first', AfD, Pegida, Erdogan, Orban, Le Pen zu verachten oder gar zu ächten. Sie als Populisten abzukanzeln und zu meinen, damit sei die Sache erledigt, ist selbst süffisanter Populismus. Ruhige Vernunft hingegen wird die Möglichkeit offenlassen, dass Politiker nicht nur als niedrig geschmähte Instinkte des Volkes anheizen, um ihre eigene Macht zu festigen, sondern auch objektive Defizite ansprechen."
Archiv: Gesellschaft