9punkt - Die Debattenrundschau

Stein gewordene Verkrampfung

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.12.2020. In der Welt warnt der Demokratieforscher Alexander Görlach, dass China demnächst agieren dürfte wie der Westen in den Opiumkriegen. Nächste Woche wird das Humboldt-Forum eröffnet, die SZ fühlt sich eigentlich nur im Keller wohl. Der Tagesspiegel gibt zu Bedenken, dass die Benin-Bronzen sowieso nicht mehr lange in Berlin bleiben könnten. Die FAZ beobachtet, wie die Kultur in Paris in Depression und Resignation verfällt. In der SZ fragt Bartosz T. Wieliński, ob Europa dulden wird, dass nun auch in Polen die Medien an die Kandarre gelegt werden. Und vor dem ultimativen Brexit-Showdown rätselt der Guardian, ob Boris Johnson mit Selbstmord drohen wird.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.12.2020 finden Sie hier

Kulturpolitik

Nächste Woche wird das Humboldt-Forum eröffnet. Nach einem ersten Rundgang durch die Schlossrekonstruktion - vorbei an Dixi-Klos, Pfützen in der Lobby und einem irritierenden Mix von Neu-Neu und Neu-Alt, - kann sich Jörg Häntzschel eigentlich nur für den Keller begeistern: "Nichts Antikes, sondern ein Alumesser aus der DDR, ein Heizaggregat aus der Zeit von Kaiser Wilhelm II. Immerhin aber auch das aus dem 15. Jahrhundert stammende 'Pelikan-Relief' aus dem Kunstgewerbemuseum. Und die Löcher, die hier 1950 für die Sprengladungen gebohrt wurden, die alles darüber in Schutt verwandelten. Der Keller ist nur ein Nebenschauplatz des Humboldt-Forums. Doch nicht zufällig ist er der einzige Teil des Gebäudes, der fertig ist, der funktioniert, der überzeugt. Es ist der einzige, der seinen Ort und seine Zeit weiß, der einzige, der nicht Stein gewordene Verkrampfung ist."

Ebenfalls in der SZ weiß Peter Richter, dass erste Initiativen schon den Abriss des Ungetüms fordern: "'Schlosssprengung 2025' will ein Plebiszit anstrengen, um die Replik der Hohenzollern-Residenz zum 75. Jahrestag der ersten Sprengung in der DDR erneut in die Luft zu jagen, nur diesmal demokratisch legitimiert." Im Tagesspiegel berichtet Paul Starzmann, dass die Eröffnung des Humboldt-Forums auch dadurch getrübt werden könnte, dass Nigeria nun offziell die Rückgabe der Benin-Bronzen gefordert habe: "Ab kommendem Jahr sollen die rostbraunen Skulpturen und Büsten aus Westafrika als Herzstück des Humboldt-Forums im neuen Berliner Stadtschloss ausgestellt werden."

Statt die Paulskirche zu einem edel-leblosen Reräsentationsbau aufzumotzen, sollte sie lieber in einen echten "Volxtempel" umgewandelt werden, schlägt Jan Feddersen in der taz vor: "Worauf es ankäme: eine gründliche Ausrümpelung der Paulskirche selbst, mentalitär vor allem. Gebäuderenovierung inklusive. Öffnungszeiten: so gut wie rund um die Uhr. Wie moderne öffentliche Bibliotheken. Ein Raum zum Chillen und Besinnen und bei Lust und Laune Klügerwerden. Ein Haus der Demokratie, in dem nicht Lehrer:innen den Ton angeben, sondern die Jugendlichen selbst. Alle Schüler:innen mögen Lust haben, dort Debatten zu führen. Es muss dort alles bestritten werden - nur Nazi ist verboten."
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Politik

Nach der Verurteilung des Aktivisten Joshua Wong sieht der Demokratieforscher Alexander Görlach im Welt-Interview mit Jan Küveler schwarz für die Demokratiebewegung in Hongkong. Peking sehe sich in keiner Weise mehr an Verträge gebunden: "Die Kommunistischen Partei hält die Erinnerung an die Opiumkriege wach, das Gedenken an das "Jahrhundert der Erniedrigung" wie es Präsident Xi immer nennt. Warum, so wird gefragt, sollte sich China heute, im Zenit seiner Macht, anders verhalten als die kolonialisierenden Engländer in jener Zeit? Oder Amerika, lange Zeit unangefochtene Nummer eins der Welt, das sich auch auf der Weltbühne nicht immer an seine Zusagen halten würde. China nimmt nun dasselbe für sich in Anspruch. Auch deswegen kann ich mir vorstellen, dass Präsident Xi zügig Fakten schaffen will."

Die russische Schriftstellerin Elena Chizhova umkreist in der NZZ den Mythos Sibiren, der sich ebenso aus den Erinnerung an Deportationen und Zwangsarbeit speist wie aus der unendlichen Weite: "Eine politische Anekdote aus der Sowjetzeit lautet so: Frage: 'Welches ist das höchste Gebäude in Leningrad?' Antwort: 'Das KGB-Gebäude auf dem Litejny-Prospekt - aus seinen Folterkellern kann man bis nach Sibirien sehen.' Im öffentlichen Bewusstsein der Russen steht dem tragischen Gulag-Mythos ein anderer kulturhistorischer Mythos gegenüber: Sibirien als Schmiede russischer Freiheit. Dies findet seinen Ausdruck in dem weitverbreiteten Satz: 'Weiter als bis nach Sibirien kann man dich nicht deportieren.'"

Der Guardian meldet, dass im Iran der oppositionelle Journalist und Blogger Ruhollah Zam hingerichtet wurde: "In June, a court sentenced Zam to death, saying he had been convicted of "corruption on Earth", a charge often used in cases involving espionage or attempts to overthrow Iran's government. Zam's website, AmadNews, and a channel he created on the popular messaging app Telegram had spread the timings of the protests and embarrassing information about officials that directly challenged Iran's Shia theocracy."
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Medien

Polens staatlicher Ölkonzern Orlen kauft das Verlagshaus Polska Press, das bisher der Verlagsgruppe Passau gehört. Bartosz T. Wieliński, der stellvetretenden Chefredakteur der Gazety Wyborcza, kennt  das Modell nur zu gut, wie er in einem Gastbeitrag in der SZ schreibt: "Als Putin vor fast 20 Jahren beschloss, das Fernsehen in Russland unter seine Kontrolle zu bringen, hatte der Gazprom-Konzern eine ganz ähnliche Rolle inne. Damals wurde die Tochtergesellschaft Gazprom Media gegründet, die dann unter anderem den regimekritischen Sender NTV übernahm. Unter dem neuen Eigentümer war keinerlei Kritik an Putin mehr erlaubt. Das gleiche Übernahmemodel kam zehn Jahre später in Ungarn zur Anwendung, als eine Handvoll Oligarchen, dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán eng verbunden, die unabhängigen Medien und Internetportale kaufte, um die Redaktionen von unpatriotischen Journalisten zu säubern und sie in Maschinen der Regierungspropaganda umzuwandeln." Wird Europa das dulden? fragt er.
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Europa

Die französische Kulturbranche hatte sich zu Weihnachten Lockerungen erhofft, berichtet Jürg Altwegg in der FAZ, doch Präsident Emmanuel Macron machte ihr einen Strich durch die Rechnung: "Macron regiert weder mit dem Ministerrat oder gar dem Parlament. Sondern nur noch per 'Kriegsrat', der fast täglich einberufen wird. Normalerweise tagt er im Untergrund des Elysées, wo sich das Dispositiv für die Auslösung der Atombombe befindet. Inzwischen findet er in den oberen Etagen statt. Aber das Prinzip ist geblieben. Jean Castex musste Macrons einsame Beschlüsse der vor dem Fernseher versammelten Nation verkünden. Es wird gemunkelt, Kulturministerin Roselyne Bachelot sei seinem Auftritt aus Protest ferngeblieben... Die Reaktionen schwanken zwischen Resignation und Depression. Ob die Kulturszene noch einmal die Kraft zur Auferstehung aus den Ruinen mobilisieren kann, wird sich frühestens Mitte Januar erweisen."

Der Brexit wird auf beiden Seiten noch eine Menge Phantomschmerzen auslösen, meint Richard Herzinger in seinem Blog, besonders aber auf der englischen. "Einen klassischen britischen Nationalstaat, wie ihn sich die Brexiteers zurückwünschen, hat es nämlich nie gegeben... Bis kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs unterhielt Großbritannien ein Imperium. Und nach dessen Auflösung richtete es sich, wenn auch oft zähneknirschend, in dem postkolonialen Projekt der europäischen Einigung ein. Das Empire aber wird nie mehr zurückkehren, und die engen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Bindungen an Europa aufzulösen oder zumindest erheblich zu verkomplizieren, gleicht einer Selbstverstümmelung."

Guardian-Kolumnistin Marina Hyde sieht die Brexit-Verhandlungen im ultimativen Verzweiflungsstadium: Boris Johnson erinnert sie an jemanden, der mit Selbstmord droht, wenn die Ex nicht tue, was er wolle: "Die Stimmung des konstruktiven und erwachsenen Spielzeug-Schmeißens wurde prompt von den zeitungen beantwortet, am besten gefällt mir die knallige Schlagzeile des Daily Express: WIR WOLLTEN NUR FREI SEIN. Bei diesem Satz fällt es unglaublich schwer, nicht an einen Mann in Unterhosen zu denken, der schluchzend von der Polizei abgeführt wird."
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Geschichte

Andreas Fanizadeh rekapituliert in der taz, wie der Historiker Christopher Clark von dem Gutachten abrückte, in dem er die Hohenzollern im Streit um ihre Unterstützung der Nationalsozialisten entlastete. Dabei geht er vor allem auf eine Auseinandersetzung in der New York Review of Books ein, in der Clark von David Motadel scharf kritisiert wurde: "Clark erwiderte Motadel, ebenfalls in der New York Review, solch reaktionäre Motive lägen ihm fern. Er fühle sich instrumentalisiert. Er betrachte den Kronprinzen sehr wohl als einen 'gewalttätigen, ultrarechten Charakter', der mit Hitler sympathisierte und zur 'finalen Abrechnung mit der deutschen Linken drängte'. Doch hatte er den Kronprinzen schlicht für zu unintelligent und auch isoliert gehalten, als dass dieser eine größere politische Rolle hätte einnehmen können. Inzwischen, so Clark weiter, habe sich jedoch die Quellenlage verändert und er sähe es anders."
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Ideen

Gestern gab ein Trupp höchster Kulturfunktionäre seine Missstimmung gegen eine Resolution des Bundestags bekannt - man fürchtet Ärger von oben, wenn man israelkritische Organisationen wie BDS zu staatlich finanzierten Veranstaltungen einlädt. Der häufig im Perlentaucher spitz kommentierende abhs muss über die Initiative "Weltoffenheit 5.3" staunen: "Während allen Diskursteilnehmern, die jenseits der Identitätsideologie argumentieren, gerne spöttisch Hysterie unterstellt wird, wenn sie sich dagegen wehren, dass hauptberuflich in ihren Gefühlen verletzte Möchtegernvertreter von Minderheiten alle Andersdenkenden niederbrüllen, sinkt eine breite Allianz des akademischen Establishments von Goethe Institut bis Institut für Islamophobieforschung (FKA I. f. Antisemitismusforschung) theatralisch als Opfer einer halluzinierten Zensur hernieder, weil der Bundestag eine nicht rechtsverbindliche Resolution gegen die unzweifelhaft antisemitische Organisation BDS beschlossen hat."

Auch in der taz bleibt Ulrich Gutmair auf Distanz zu der Initiative: "Es steht nirgends im BDS-Beschluss geschrieben, dass das Konzert des syrischen Oud-Spielers verhindert werden soll, weil er Sympathien für BDS hegt, auch eine kritische Auseinandersetzung mit dem BDS ist nicht sein Gegenstand. Deutsche Gerichte haben dies, das Offensichtliche, bestätigt." Im Tagesspiegel nähert sich Patrick Wildermann der Frage wie einer gezogenen Handgranate: "Fakt ist: Wo immer die BDS-Bewegung ins Spiel kommt, erlebt man in Nullkommanichts die Debattenvariante des Mexican Standoff. Alle zielen gleichzeitig aufeinander. Nur eben nicht mit Pistolen, sondern mit Antisemitismus- und Rassismus-Vorwürfen."
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